Dr. Jürgen Blersch, Prof. Dr. Eberhard von Olshausen
Rn 11
§ 96 Abs. 1 Nr. 3 verdrängt die von § 94 verheißene Aufrechnungsberechtigung. Die Vorschrift enthält eine Ergänzung bzw. Erweiterung der Regelungen über die Insolvenzanfechtung gemäß §§ 129 ff. Gleichzeitig wurde damit die bisher schon von der Rechtsprechung über den reinen Wortlaut des § 55 Nr. 3 KO hinaus entwickelte Reichweite dieser eigentlich anfechtungsrechtlichen Vorschrift klargestellt. § 96 Abs. 1 Nr. 3 verweist auf die Anfechtungsvorschriften insgesamt, also nicht nur auf § 130 (kongruente Deckung), sondern insbesondere auch auf § 131 (inkongruente Deckung) und auf § 134 (unentgeltliche Leistung). Nach einer Mindermeinung soll sich allerdings aus der Entstehungsgeschichte der InsO oder aus der Gleichstellung der Aufrechnung bzw. der Begründung der Aufrechnungslage mit der Erfüllung (vgl. § 389 BGB) ergeben, dass § 96 Abs. 1 Nr. 3 die Herstellung der Aufrechnungslage als eine kongruente Deckung ansehe, also jedenfalls nicht auch auf § 131 (inkongruente Deckung) verweise. Dem ist nicht zu folgen. Die "Entstehungsgeschichte" besteht im Wesentlichen darin, dass der BGH sich unter der KO fast nur mit Aufrechnungsfällen zu befassen hatte, in denen es (jedenfalls aus seiner Sicht) auf die Unterscheidung zwischen kongruenter und inkongruenter Deckung nicht ankam, weil entweder schon die (strengeren) Voraussetzungen für eine Anfechtung wegen kongruenter Deckung gegeben waren oder weil – mangels Gläubigerbenachteiligung – weder die Voraussetzungen für eine Anfechtung wegen kongruenter Deckung noch die für eine Anfechtung wegen inkongruenter Deckung erfüllt waren oder weil der BGH den Gegenstand der Anfechtung falsch oder zumindest eigenwillig bestimmte und deshalb nicht auf den Gedanken an eine inkongruente Deckung verfallen konnte. Und die Behandlung der Aufrechnung bzw. der Herstellung der Aufrechnungslage wie eine Erfüllung betrifft nur die Wirkung des Erlöschens der Forderung, bedeutet aber nicht, dass, wo ein Erfüllungsanspruch ist, auch ein Anspruch auf Herstellung einer Aufrechnungslage besteht. Wer vom nachmaligen Insolvenzschuldner Geld zu fordern hat, hat (mangels eines entsprechenden Vorvertrags) keinen Anspruch darauf, dass dieser ihm Waren verkauft und ihm somit als nunmehrigem Kaufpreisschuldner eine Aufrechnungsmöglichkeit verschafft. Die so hergestellte Aufrechnungslage ist daher inkongruent und die Aufrechnung ohne jegliche subjektiven Erfordernisse schon dann nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 unwirksam, wenn die objektiven Voraussetzungen des § 131 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 vorliegen.
Rn 11a
Von § 96 Abs. 1 Nr. 3 wird jeder Erwerb und jede Begründung einer Gegenforderung (zugunsten des späteren Insolvenzgläubigers) oder einer Hauptforderung (zugunsten des späteren Insolvenzschuldners) erfasst. Es ist also gleichgültig, ob der (nachmalige) Insolvenzgläubiger als Gläubiger die Schuldnerposition oder ob er als Schuldner die Gläubigerposition erlangt hat. § 96 Abs. 1 Nr. 3 kann auch dann anwendbar sein, wenn die Aufrechnungslage allein durch die Rechtshandlung eines Dritten vor Verfahrenseröffnung entsteht, weil die §§ 130 und 131 – anders als §§ 132 bis 134 – keine Rechtshandlung des späteren Insolvenzschuldners voraussetzen. Ein solcher Fall kann insbesondere bei Zahlungen oder Überweisungen Dritter auf ein debitorisches Bankkonto des späteren Insolvenzschuldners gegeben sein. Hier kommt es darauf an, ob es sich bei der durch den Zahlungseingang erlangten Aufrechnungsmöglichkeit um eine kongruente Deckung (dann Anfechtbarkeit nur bei Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen des § 130) oder um eine inkongruente Deckung handelt (dann Anfechtbarkeit nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 und 2 auch ohne irgendwelche Kenntnis). Kongruent ist die Deckung, wenn die Bank im Zeitpunkt des Zahlungseingangs einen fälligen Anspruch auf Rückführung des von ihr gewährten Kredits hatte, weil die für die Rückzahlung vereinbarte Zeit bereits abgelaufen oder der Kredit wirksam gekündigt war oder es sich um eine lediglich geduldete (nicht vereinbarte) Überziehung des Kontos oder des vereinbarten Kreditlimits handelte. Inkongruent ist die Deckung dagegen, wenn ein solcher fälliger Rückzahlungsanspruch bei Zahlungseingang noch nicht bestand, sei es auch nur deshalb, weil die Bank dem Kunden für die Rückführung eines Kredits eine Frist gesetzt hatte, die bei Zahlungseingang noch nicht abgelaufen war.
§ 96 Abs. 1 Nr. 3 soll alle Arten des anfechtbaren Erwerbs einer Aufrechnungslage vor Verfahrenseröffnung erfassen – gleichgültig, ob der Aufrechnende zuerst Gläubiger des nachmaligen Insolvenzschuldners war und dann dessen Schuldner geworden ist oder ob er zunächst Schuldner war und später Gläubiger geworden ist. Nach verbreiteter Auffassung soll der Wortlaut der Vorschrift aber in dieser Hinsicht "missglückt", "missverständlich", "unklar" oder "unzulänglich" sein, weil er wegen des Erfordernisses, dass ein "Gläubiger" die Aufrechnungsmöglichkeit durch eine anfechtbare Rechtshandlung ...