2.4.1 Prioritätsprinzip
Rn 27
Im Anwendungsbereich der EuInsVO ist nur ein Hauptinsolvenzverfahren zulässig. Beanspruchen mehrere Mitgliedstaaten den Interessenmittelpunkt für sich, ist dasjenige Verfahren als Hauptinsolvenzverfahren anzuerkennen, das als Erstes wirksam eröffnet wurde (Prioritätsprinzip), Erwägungsgrund 22 der EuInsVO. Hierfür ist nicht die formelle Rechtskraft entscheidend, sondern allein die Wirksamkeit der Eröffnung. Ebenso wenig relevant ist der Zeitpunkt der Antragstellung bzw. die Klageerhebung. Die Entscheidung des zuerst eröffnenden Gerichtes ist in den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen, Art. 16 EuInsVO. Die in dieser Bestimmung aufgestellte Prioritätsregel, wonach das in einem Mitgliedstaat eröffnete Insolvenzverfahren in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt wird, sobald es im Eröffnungsstaat wirksam ist, stütz sich auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.
Rn 28
Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO ist dahin auszulegen, dass das von einem Gericht eines Mitgliedstaates eröffnete Hauptinsolvenzverfahren von den Gerichten der übrigen Mitgliedstaaten anzuerkennen ist, ohne dass diese die Zuständigkeit des Gerichts des Eröffnungsstaates überprüfen können. Eine Nachprüfung in der Sache ist nicht zulässig (Verbot der révision au fond).
Rn 29
Das zeitlich spätere Verfahren kann die Wirkung eines Sekundärinsolvenzverfahrens haben, wenn die hierfür erforderlichen Voraussetzungen vorliegen und ein entsprechender Antrag gestellt wird. Ein zu Unrecht eröffnetes Hauptinsolvenzverfahren geht nicht automatisch in ein Sekundärinsolvenzverfahren über.
Rn 30
In Deutschland sind in diesem Zusammenhang die Ausführungsbestimmungen zur EuInsVO in Art. 102 § 3 und § 4 EGInsO zu beachten (vgl. insoweit die entsprechende Kommentierung zu Art. 102 EGInsO). Danach ist das "zweite" – in Deutschland eröffnete – Hauptinsolvenzverfahren einzustellen.
2.4.2 Relation-back principle
Rn 31
Problematisch in Bezug auf die Bestimmung des COMI ist die Behandlung des so genannten "relation-back principle", das im englischen, irischen, walisischen und tschechischen Recht besteht. Hierbei handelt es sich um eine Rückwirkungsfiktion: Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wirkt auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurück. Diese Rückwirkungsfiktion hat bereits in mehreren Fällen dazu geführt, dass ein Gericht, das ein Hauptinsolvenzverfahren nach Eröffnung eines anderweitigen Hauptinsolvenzverfahrens eröffnet, sich trotzdem als das zuerst eröffnende Gericht betrachtet hat und insofern die Geltung des Prioritätsprinzips in Anspruch genommen hat.
Rn 32
So haben der High Court Dublin und das Stadtgericht Prag ihre internationale Zuständigkeit nur deshalb angenommen, da der zugrunde liegende Insolvenzantrag vor dem Antrag des zuerst eröffnenden Gerichts gestellt worden war. Aufgrund ihrer praktischen Bedeutung wurde diese Frage im Rahmen des Antrags des Supreme Court of Ireland auf Vorabentscheidung erörtert; die irische Gerichtsbarkeit sprach sich zugunsten der Anwendbarkeit des relation-back principle aus, da dieses Rechtsinstitut den Verordnungsgebern bekannt war und trotzdem in der EuInsVO nicht geregelt wurde. Der EuGH hat zwar in seiner Entscheidung Eurofood/Parmalat nicht direkt hierzu Stellung bezogen, doch ist diese Entscheidung dahingehend zu verstehen, dass Rückwirkungsfiktionen des nationalen Rechts nicht zu beachten sind.
Rn 33
Die Anwendbarkeit des relation-back principle würde dazu führen, dass die nationalen Gerichte über ihre eigene internationale Zuständigkeit verfügen könnten. Trotz Geltung des Prioritätsprinzips könnte eine zeitlich frühere Entscheidung ihre Wirkung verlieren, was eine gewisse Rechtsunsicherheit verursachen würde. Problematisch ist des Weiteren, dass nur einige Mitgliedstaaten dieses Rechtsinstitut kennen und insofern privilegiert würden.
2.4.3 Vorläufiges Insolvenzverfahren
Rn 34
Gegenstand der EuGH-Vorabentscheidung in Sachen Eurofood/Parmalat war auch die Frage, ob der Zeitpunkt de...