Rn 26
Ob das vom Gesetzgeber mit der Schaffung von § 19 Abs. 3 Halbsatz 1 verfolgte Zielder Verfahrensvereinfachung durch die Begründung eines "verdrängenden" Mandats zur Forderungsanmeldung beim gemeinsamen Vertreter dann, wenn bei Insolvenzeröffnung noch kein gemeinsamer Vertreter bestellt worden ist, tatsächlich erreichbar ist, darf bezweifelt werden. So ist es allgemein üblich, dass die meisten Insolvenzgläubiger ihre Forderungen zeitnah nach Erhalt der Information, dass das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Emittenten eröffnet wurde, zur Insolvenztabelle anmelden. Das gilt auch für Anleihegläubiger. Sie warten also mit der Forderungsanmeldung nicht zu, bis die Gläubigerversammlung über die Bestellung/Nichtbestellung eines gemeinsamen Vertreters entschieden hat. Das geschieht nicht zuletzt, um zusätzliche Kosten, die mit der nachträglichen Anmeldung einer Forderung zur Insolvenztabelle einhergehen, zu vermeiden. Wenn aber eine Vielzahl von Anleihegläubigern, im Zeitpunkt der Bestellung des gemeinsamen Vertreters und damit der Begründung von dessen verdrängendem Mandat bereits ihre Forderungen zur Tabelle angemeldet haben (wozu sie bis zur Bestellung des gemeinsamen Vertreters auch berechtigt sind), erscheint mehr als fraglich, ob es zu der vom Gesetzgeber gewünschten Entlastung des Insolvenzverwalters in der Konstellation, dass bei Insolvenzeröffnung noch kein gemeinsamer Vertreter bestellt ist, überhaupt kommen wird.
Rn 27
Noch ist auch ungeklärt, welche Konsequenz die (nachträgliche) Bestellung eines gemeinsamen Vertreters während des Insolvenzverfahrens in der Praxis auf bereits zur Insolvenztabelle angemeldete Forderungen hat.
Rn 28
Ohnehin dürfte die erhoffte Entlastungswirkung selbst in den Fällen, wo bereits vor Insolvenzeröffnung von den Anleihegläubigern schon ein gemeinsamer Vertreter gewählt worden ist, dem damit als gesetzliche Folge der Verfahrenseröffnung Aufgaben und Befugnisse gemäß § 19 Abs. 3 Halbsatz 1 zuwachsen, nicht immer realistisch sein. Auch wenn allein der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestellte gemeinsame Vertreter zur Forderungsanmeldung berechtigt ist, melden gleichwohl viele Anleihegläubiger ihre Forderungen selbst zur Insolvenztabelle an. Zum Teil geschieht das, weil sie vom Vorhandensein des gemeinsamen Vertreters oder dessen Befugnissen/Aufgaben keine Kenntnis haben. Zum Teil melden private Anleihegläubiger ihre Forderungen aber auch nur "vorsichtshalber" (noch einmal) selbst an. In allen diesen Fällen ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, die angemeldeten Forderungen in die Insolvenztabelle aufzunehmen. Er kann die Forderungen nicht vorab unter Hinweis auf die fehlende Anmeldebefugnis zurückweisen. Das wiederum kann zur Konsequenz haben, dass die Insolvenztabelle erheblich mehr Anmeldungen umfasst und ihre Führung mehr Zeit- und Arbeitsaufwand verursacht, als dies ohne Bestellung eines gemeinsamen Vertreters der Fall gewesen wäre.
Rn 28a
Unklar ist darüber hinaus, ob sich das verdrängende Mandat des gemeinsamen Vertreters nur auf die Forderungen aus der Schuldverschreibung bezieht oder ob z.B. auch Schadensersatzansprüche (insbesondere mit deliktischem Rechtsgrund) erfasst werden. Ebenfalls durch Rechtsprechung und Literatur weitgehend nicht behandelt ist die Frage, ob der gemeinsame Vertreter für die von ihm vertretenen Anleihegläubiger auch Aus- und Absonderungsansprüche geltend machen kann.
Rn 29
Meldet der gemeinsame Vertreter die Forderungen der Gläubiger an, braucht er die Schuldurkunden nicht vorzulegen (§ 19 Abs. 3 Halbsatz 2). Hierdurch soll nach dem Willen des Gesetzgebers gewährleistet werden, dass der gemeinsame Vertreter seine Aufgabe effektiv wahrnehmen kann, ohne sich erforderlichenfalls zuvor mit einzelnen Gläubigern über die Herausgabe von Schuldurkunden auseinandersetzen zu müssen (vgl. § 797 Satz 1 BGB). Das SchVG 1899 kannte mit § 19 Abs. 1 Satz 1 eine vergleichbare Vorschrift.
Rn 29a
Ist kein gemeinsamer Vertreter bestellt, müssen die Anleihegläubiger die Schuldurkunden wegen § 174 Abs. 1 Satz 2 InsO grundsätzlich vorlegen; allerdings sind – soweit anwendbar – die Sonderbedingungen für Wertpapiergeschäfte zu beachten. Sie enthalten auch im Insolvenzverfahren geltende Verfahrensvereinfachungen.
Kommt es zum Forderungsfeststellungsprozess i.S.d. § 180 InsO, weil der Insolvenzverwalter oder ein Insolvenzgläubiger die angemeldeten Forderungen im Prüftermin bestritten haben, bleiben die Schuldverschreibungsgläubiger Partei des Rechtsstreits, da sie mit der Bestellung des gemeinsamen Vertreters weder ihre Parteifähigkeit noch ihre Rechte aus den Schuldverschreibungen verlieren. Der gemeinsame Vertreter wird lediglich als rechtsgeschäftlicher Vertreter, d.h. im fremden Namen für die Schuldverschreibungsgläubiger tätig.