Prof. Dr. Meliha Povlakic, Dr. Darja Softic Kadenic
Rz. 94
Pflichtteilsberechtigte Personen sind grundsätzlich diejenigen Personen, die im konkreten Fall die gesetzlichen Erben wären, wenn es kein Testament gäbe, Art. 28 Abs. 3 ErbG FBuH, Art. 29 Abs. 3 ErbG RS, Art. 32 Abs. 3 ErbG BD BuH. Bei der Ermittlung der Pflichtteilsberechtigten im konkreten Fall sollten als erstes die vermeintlichen gesetzlichen Erben festgestellt werden. Dieser Schritt ist auch notwendig, weil sich auch die Höhe des Pflichtteils aufgrund der Höhe des vermeintlichen gesetzlichen Teils errechnet. Die Pflichtteilsberechtigten sind in zwei Pflichtordnungen aufgeteilt, die sich stark an den zwei ersten gesetzlichen Erbordnungen anlehnen, aber sich auch von diesen unterscheiden.
Rz. 95
Die erste Pflichtordnung ist mit der ersten gesetzlichen Ordnung identisch, so dass Pflichtteilsberechtigte im Rahmen dieser Gruppe, der überlebende Ehegatte, leibliche Kinder des Erblassers und alle ihre Abkömmlinge, volladoptierte Kinder und alle ihre Abkömmlinge, Kinder aus nicht vollständiger Adoption und alle ihre Abkömmlinge, sind. So gesehen deckt sich der Kreis der gesetzlichen und der Pflichteilserben. Eine bedeutende Einschränkung gibt es aber insofern, als nicht alle Angehörigen dieser Gruppe unter gleichen Bedingungen das Recht auf den Pflichtteil haben. Hier unterscheiden sich die Regelungen in der Föderation BuH und dem Distrikt Brčko BuH, von der Regelung in der Republika Srpska. Dieser Unterschied ist eine Folge einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes der Republik Srpska aus dem Jahre 2019, die der Anlass für die Gesetzesänderung war. In der FBuH und BD BuH steht dem Ehegatten, leiblichen Kindern und volladoptierten Kindern der Pflichtteil ohne Erfüllung zusätzlicher Bedingungen zu (absolute Pflichtteilsberechtigte). Allen anderen Pflichteilserben steht der Pflichtteil nur zu, wenn sie dauerhaft erwerbsunfähig und bedürftig sind (relative Pflichtteilsberechtigte), Art. 28 Abs. 2 ErbG FBuH, Art. 32 Abs. 2 ErbG BD BuH.
Rz. 96
In der Republik Srpska, wie früher in der Sozialistischen Republik BuH, war die gesetzliche Bestimmung über die Aufzählung der Pflichterben unglücklich bzw. widersprüchlich konstruiert. Es war sprachlich nicht klar, welche Stellung die volladoptierten und welche nicht volladoptierte Kinder hatten. Die Lehre im dem ex-SFRJ war einstimmig, dass diese Bestimmung trotz fehlerhafter Redaktion auf die Art und Weise auszulegen ist, dass die volladoptierten Kinder ohne Erfüllung zusätzlicher Bedingung das Recht auf den Pflichtteil haben und die nicht volladoptierten Kinder nur, wenn sie erwerbsunfähig und bedürftig sind. Die Erbgesetze der FBuH und BD BuH haben diese redaktionelle Unzulänglichkeit korrigiert; Die Regel ist gleich geblieben, wurde aber klar formuliert und bedurfte danach keine Auslegung. In der Republik Srpska wurde unerwartet daraus ein Problem, über das der Verfassungsgerichtshof entscheiden sollte. Wie dargelegt, war die gesetzliche Bestimmung unklar, wobei die Doktrin und die Rechtsprechung kein Problem hatten, diese Bestimmung systematisch und nach ihrem Ziel richtig auszulegen. Da der Kreis der Pflichterben sehr begrenzt war, war es nicht strittig oder problematisch, einen Unterschied zwischen den volladoptierten und nicht volladoptierten Kindern zu ziehen, genauso zwischen Kindern (Abkömmlinge ersten Grades) und weiteren Abkömmlingen. In der Republik Srpska, wurde diese Bestimmung in dem neuen Erbgesetz nicht korrigiert. Der Verfassungsgerichtshof der Republik Srpska entschied erstens, dass eine unklare und unbestimmte Gesetzesnorm den Ansprüchen des Rechtsstaates nicht genügt, und zweitens, dass die beschriebenen Unterschiede zwischen Adoptivkindern nicht gerechtfertigt seien. Diese Entscheidung, wie oben erwähnt, führte zu einer Gesetzesänderung. Dem zu Folge sind in der Republik Srpska auch die nicht volladoptierten Kinder absolute Pflichteilserben, neben den leiblichen Kindern des Erblassers, dem Ehepartner/in und volladoptierten Kindern (Art. 30 Abs. 1 ErbG RS).
Rz. 97
Die zweite Pflichtordnung ist enger als die zweite gesetzliche Erbordnung. Dazu gehören nur der Ehegatte, falls er der alleinige Erbe innerhalb der ersten Ordnung geblieben ist, die Eltern des Erblassers und deren Kinder bzw. Geschwister des Erblassers. Der Ehegatte ist auch hier absoluter Pflichtteilsberechtigter; dagegen steht der Pflichtteil den Eltern und den Brüdern und Schwestern des Erblassers nur zu, wenn sie dauerhaft erwerbsunfähig und bedürftig sind, Art. 28 Abs. 2 ErbG FBuH, Art. 29 Abs. 2 ErbG RS, Art. 32 Abs. 2 ErbG BD BuH. Die Kinder oder weitere Abkömmlinge der Geschwister des Erblassers sind unter keiner Bedingung Pflichtteilsberechtigte.