Prof. Dr. Meliha Povlakic, Dr. Darja Softic Kadenic
1. Rechtsnatur
Rz. 93
Der Pflichtteil gewährt eine dingliche Beteiligung am Nachlass, indem den Pflichtteilsberechtigten ein entsprechender Anteil der Erbschaft zusteht (Art. 30 Abs. 1 ErbG FBuH, Art. 31 ErbG RS, Art. 34 Abs. 1 ErbG BD BuH), und nicht lediglich einen Geldanspruch gegen den Erben. Diese gesetzliche Bestimmung ist aber nicht zwingend, so dass der Erblasser bestimmen kann, dass der Pflichtteilsberechtigte seinen Anteil in bestimmten Sachen, Rechten oder in Geld erhalten kann. Deckt sich der Wert des dem Pflichterben zugewendeten bestimmten Gegenstands mit der Höhe seines Pflichtteils, hat er keinen Anspruch, sich auf irgendwelche Art und Weise an der Erbmasse zu beteiligen. In der Föderation BuH und BD BuH wurde hier eine neue Bestimmung zugefügt. Auf Antrag einer Partei im Nachlassverfahren kann das Gericht bzw. der Notar die gleiche Anordnung treffen, wenn das Gericht bzw. der Notar dies für angemessen hält, Art. 30 Abs. 2 ErbG FBuH, Art. 34 Abs. 2 ErbG BD BuH; in der Republik Srpska ist diese Umwandlung des Pflichtteils nur durch den Erblasser möglich.
2. Pflichtteilsberechtigung und Pflichtordnungen
Rz. 94
Pflichtteilsberechtigte Personen sind grundsätzlich diejenigen Personen, die im konkreten Fall die gesetzlichen Erben wären, wenn es kein Testament gäbe, Art. 28 Abs. 3 ErbG FBuH, Art. 29 Abs. 3 ErbG RS, Art. 32 Abs. 3 ErbG BD BuH. Bei der Ermittlung der Pflichtteilsberechtigten im konkreten Fall sollten als erstes die vermeintlichen gesetzlichen Erben festgestellt werden. Dieser Schritt ist auch notwendig, weil sich auch die Höhe des Pflichtteils aufgrund der Höhe des vermeintlichen gesetzlichen Teils errechnet. Die Pflichtteilsberechtigten sind in zwei Pflichtordnungen aufgeteilt, die sich stark an den zwei ersten gesetzlichen Erbordnungen anlehnen, aber sich auch von diesen unterscheiden.
Rz. 95
Die erste Pflichtordnung ist mit der ersten gesetzlichen Ordnung identisch, so dass Pflichtteilsberechtigte im Rahmen dieser Gruppe, der überlebende Ehegatte, leibliche Kinder des Erblassers und alle ihre Abkömmlinge, volladoptierte Kinder und alle ihre Abkömmlinge, Kinder aus nicht vollständiger Adoption und alle ihre Abkömmlinge, sind. So gesehen deckt sich der Kreis der gesetzlichen und der Pflichteilserben. Eine bedeutende Einschränkung gibt es aber insofern, als nicht alle Angehörigen dieser Gruppe unter gleichen Bedingungen das Recht auf den Pflichtteil haben. Hier unterscheiden sich die Regelungen in der Föderation BuH und dem Distrikt Brčko BuH, von der Regelung in der Republika Srpska. Dieser Unterschied ist eine Folge einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes der Republik Srpska aus dem Jahre 2019, die der Anlass für die Gesetzesänderung war. In der FBuH und BD BuH steht dem Ehegatten, leiblichen Kindern und volladoptierten Kindern der Pflichtteil ohne Erfüllung zusätzlicher Bedingungen zu (absolute Pflichtteilsberechtigte). Allen anderen Pflichteilserben steht der Pflichtteil nur zu, wenn sie dauerhaft erwerbsunfähig und bedürftig sind (relative Pflichtteilsberechtigte), Art. 28 Abs. 2 ErbG FBuH, Art. 32 Abs. 2 ErbG BD BuH.
Rz. 96
In der Republik Srpska, wie früher in der Sozialistischen Republik BuH, war die gesetzliche Bestimmung über die Aufzählung der Pflichterben unglücklich bzw. widersprüchlich konstruiert. Es war sprachlich nicht klar, welche Stellung die volladoptierten und welche nicht volladoptierte Kinder hatten. Die Lehre im dem ex-SFRJ war einstimmig, dass diese Bestimmung trotz fehlerhafter Redaktion auf die Art und Weise auszulegen ist, dass die volladoptierten Kinder ohne Erfüllung zusätzlicher Bedingung das Recht auf den Pflichtteil haben und die nicht volladoptierten Kinder nur, wenn sie erwerbsunfähig und bedürftig sind. Die Erbgesetze der FBuH und BD BuH haben diese redaktionelle Unzulänglichkeit korrigiert; Die Regel ist gleich geblieben, wurde aber klar formuliert und bedurfte danach keine Auslegung. In der Republik Srpska wurde unerwartet daraus ein Problem, über das der Verfassungsgerichtshof entscheiden sollte. Wie dargelegt, war die gesetzliche Bestimmung unklar, wobei die Doktrin und die Rechtsprechung kein Problem hatten, diese Bestimmung systematisch und nach ihrem Ziel richtig auszulegen. Da der Kreis der Pflichterben sehr begrenzt war, war es nicht strittig oder problematisch, einen Unterschied zwischen den volladoptierten und nicht volladoptierten Kindern zu ziehen, genauso zwischen Kindern (Abkömmlinge ersten Grades) und weiteren Abkömmlingen. In der Republik Srpska, wurde diese Bestimmung in dem neuen Erbgesetz nicht korrigiert. Der Verfassungsgerichtshof der Republik Srpska entschied erstens, dass eine unklare und unbestimmte Gesetzesnorm den Ansprüchen des Rechtsstaates nicht genügt, und zweitens, dass die beschriebenen Unterschiede zwischen Adoptivkindern nicht gerechtfertigt seien. Diese Entscheidung, wie oben erwähnt, führte zu einer Gesetzesänderung. Dem zu Folge sind in der Republik Srpska auch die nicht volladoptierten Kinder absolute Pflichteilserben, neben den leiblichen Kindern des Erblasse...