Leitsatz (amtlich)
Auch in Kindschaftssachen besteht ein Regel-Ausnahme-Verhältnis für eine Anhörung auch in der Beschwerdeinstanz nicht. Wenn aus den seit der Anhörung in erster Instanz eingereichten Schriftsätzen kein Anhaltspunkt deutlich wird, der für eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse spricht, die weiterer Aufklärung bedarf, ist ein Erkenntnisgewinn durch eigene, weitere, wiederholende Ermittlungsbemühungen des Beschwerdegerichts nicht zu erwarten, und sie sind deshalb im Interesse einer unverzüglichen Beendigung des Verfahrens zu unterlassen.
In den Antragsverfahren, die sich gegen die bisherige Alleinsorge nach § 1626a III BGB richten, besteht die gesetzliche Vermutung für die Kindeswohldienlichkeit der gemeinsamen Sorge, also der normative Vorrang dieser Sorgezuordnung vor anderen Varianten, aber die Vermutung ist widerleglich, und sie wirkt sich nicht als Beweisregel aus.
Das Leitbild der gemeinsamen Sorge kann nicht mehr abstrakt-generell in Frage gestellt werden. Werden allerdings aus dem Vortrag eines Beteiligten oder aus anderen Quellen Anhaltspunkte ersichtlich, die so konkret dargelegt sind, dass ihnen nachgegangen werden kann, dann hat das Gericht diese Ermittlungen durchzuführen und die objektiven Gegebenheiten und die Interessen der Beteiligten mit den gebotenen Mitteln umfassend aufzuklären. Bei der Würdigung der so erhobenen Feststellungen gilt keine Regel, alle Umstände mit einer Neigung zur gemeinsamen Sorge zu beurteilen oder Umstände, die gegen die gemeinsame Sorge sprechen können, nur zu verwerten, wenn sie überwiegend oder hochwahrscheinlich erscheinen.
Normenkette
BGB § 1626a Abs. 2
Verfahrensgang
AG Perleberg (Beschluss vom 13.08.2014; Aktenzeichen 19 F 220/12) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des AG Perleberg vom 13.8.2014 abgeändert:
Die elterliche Sorge für ihr Kind ..., geb. am ..., wird dem Antragsteller und der Antragsgegnerin gemeinsam übertragen.
Im Übrigen werden der Antrag des Antragstellers abgewiesen und die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden unter dem Antragsteller und der Antragsgegnerin gegeneinander aufgehoben.
Die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin, des Verfahrensbeistandes und des Jugendamtes wird zugelassen.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000 EUR festgelegt.
Gründe
Der Antragsteller und die Antragsgegnerin streiten um die elterliche Sorge für ihr 2005 geborenes Kind.
I.1. Der Antragsteller und die Antragsgegnerin sind die nicht verheirateten Eltern eines im August 2005 geborenen Kindes. Sorgeerklärungen gaben sie nicht ab. Sie lebten zusammen, bis der Antragsteller 2012 den gemeinsamen Haushalt verließ. Im September 2012 erwirkte die Antragsgegnerin eine Gewaltschutzanordnung gegen den Antragsteller.
Das Kind überstand in den Jahren 2007 und 2008 eine Krebserkrankung, die alle drei Monate Nachsorgeuntersuchungen erfordert.
Das Kind wohnte im Herbst 2012 zwei Wochen lang und dauerhaft seit April 2013 mit Einverständnis der Antragsgegnerin in einer Pflegefamilie. Beide Eltern nahmen je für sich Wochenendumgang im Zwei-Wochen-Turnus wahr.
2012 wurde das Kind eingeschult und wechselte 2014 nach erheblichen Schwierigkeiten in eine Schule mit sonderpädagogischem Schwerpunkt. Die Rückkehr in eine Regelgrundschule soll alle zwei Jahre geprüft werden.
Auf Grund des angefochtenen Beschlusses nahm der Antragsteller das Kind im August 2014 in seinen Haushalt auf. Er erhält sozialpädagogische Familienhilfe.
2. Der Antragsteller hat die Antragsgegnerin wegen ihres Alkohol- und Drogenkonsums nicht für geeignet gehalten, über die Belange des Kindes zu entscheiden. Es sei verantwortungslos, Kontakte des Kindes zu ihm und zu seinen Eltern zu unterbinden. Er selbst habe seine Alkohol- und Drogenprobleme durch Therapien überwunden.
Der Antragsteller hat schließlich beantragt, ihm die alleinige elterliche Sorge zu übertragen, hilfsweise, ihm neben der Antragsgegnerin die elterliche Mitsorge zu übertragen und ihm das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht zuzuerkennen, noch weiter hilfsweise, der Antragsgegnerin die elterliche Sorge zu entziehen und diese dem Jugendamt des Landkreises Prignitz zu übertragen.
Die Antragsgegnerin hat beantragt, die Anträge zurückzuweisen.
Sie hat den Antragsteller für ungeeignet gehalten, die elterliche Sorge allein oder gemeinsam auszuüben. Er leide unter Depressionen und verliere unter Alkoholeinfluss seine Steuerungsfähigkeit völlig.
Das Jugendamt hat beantragt, der Antragsgegnerin die elterliche Sorgebefugnis in Gänze zu entziehen und dem Antragsteller zu übertragen, hilfsweise der Antragsgegnerin die elterliche Sorge zu entziehen und dem Jugendamt des Landkreises Prignitz zu übertragen.
Es hat die Antragsgegnerin wegen psychischer Instabilität und Substanzabhängigkeit für unfähig zur Ausübung der tatsächlichen Sorge gehalten. Der Antragsteller sei zuverlässiger, sicherer und berechenbarer im Umgang mit dem Kind.
Der Verfahrensbeistand hat sich dem Antrag des Jugendamtes angeschlossen.
In ...