Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Einzelrichterzuständigkeit durch Ablauf des ersten Zivilrichterjahres

 

Leitsatz (amtlich)

Der nicht zum originären Einzelrichter berufene Richter auf Probe kann für die Sachen, die ihm in seinem ersten Zivilrichterjahr als Berichterstatter zufallen, nur dadurch als Einzelrichter zur Entscheidung berufen werden, daß ihm die vollbesetzte Zivilkammer die Sache überträgt.

Über die Beschwerde gegen eine Entscheidung des Einzelrichters ist - ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit der Einzelrichterbesetzung - der Einzelrichter des Beschwerdegerichts zur Entscheidung berufen.

 

Normenkette

GVG § 75; ZPO § 348 I 2 Nr. 1, § 568

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt (Oder) (Aktenzeichen 13 O 96/20)

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 5. Oktober 2020 aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Frankfurt (Oder) zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil das Landgericht nicht dem Gesetz gemäß besetzt war.

Über den (Kosten-)Widerspruch gegen die als Beschluß erlassene einstweilige Verfügung hätte nicht der Einzelrichter entscheiden dürfen. Die Entscheidung oblag der zuständigen Zivilkammer des Landgerichts in der Besetzung mit drei Richtern, weil die Voraussetzungen einer ausnahmsweisen Zuständigkeit des Einzelrichters nicht erfüllt waren (§ 75 GVG).

Die einstweilige Verfügung hatte die mit drei Richtern besetzte Zivilkammer erlassen, weil die Ausnahme von der Regelbesetzung (§§ 75 GVG, 348 I 1 ZPO) durch eine Gegenausnahme ausgeschlossen war (§ 348 I 2 Nr. 1 ZPO): Der nach der Geschäftsverteilung zuständige Richter auf Probe war seit dem 1. September 2019 mit Rechtsprechungsaufgaben in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten betraut. Der Beschluß vom 28. April 2020 erging im Verlauf des ersten Zivilrichterjahres, in dem die originäre Einzelrichterzuständigkeit eines Richters auf Probe ausgeschlossen ist.

Mit dem Ablauf dieses ersten Jahres blieb es bei der Zuständigkeit der mit drei Richtern besetzten Kammer. Der nicht zum originären Einzelrichter berufene Richter auf Probe kann für die Sachen, die ihm in seinem ersten Zivilrichterjahr als Berichterstatter zufallen, nur dadurch als Einzelrichter zur Entscheidung berufen werden, daß ihm die vollbesetzte Zivilkammer die Sache überträgt (§ 348 a I ZPO).

Eine Berufung zur Entscheidung allein durch Ablauf des ersten Zivilrichterjahres unterliefe die Entscheidungsbefugnis und Entscheidungsverantwortung der vollbesetzten Kammer: Sie hätte dem Richter auf Probe die Sache schon während dessen ersten Zivilrichterjahres übertragen müssen, wenn die Übertragungsvoraussetzungen erfüllt gewesen wären, hat davon aber abgesehen (vgl. KG, Beschl. v. 4. März 2008 - 2 W 226/07 -, BeckRS 2008, 6998, Rdnr. 24). Bei dieser Entscheidung, die Sache nicht nach § 348 a I ZPO zu übertragen, hat die Kammer die subjektiven Gegebenheiten des als Einzelrichter in Frage kommenden Richters auf Probe - seine Kenntnis, Erfahrung, Spezialisierung - berücksichtigt (vgl. Zöller-Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 348 Rdnr. 21; MüKo-ZPO-Stackmann, 6. Aufl. 2020, § 348 Rdnr. 13). Diese Beurteilung behält für die schon anhängigen Sachen ihre Verbindlichkeit, die nicht allein durch den Ablauf des ersten Zivilrichterjahres zur Disposition gestellt wird, sondern nur durch eine neue Befassung der Kammer nach § 348 a I ZPO.

Zum anderen wird die Beibehaltung der Entscheidungsbefugnis der mit drei Richtern besetzten Kammer der Eigenart der prozeßrechtlichen Normen als Ausnahme von der gerichtsverfassungsrechtlichen Besetzungsvorschrift (§ 75 GVG) besser gerecht. Ein Richter auf Probe ist als Einzelrichter - ausnahmsweise und nur dann - zur Entscheidung berufen, wenn die Sache nach Ablauf des ersten Zivilrichterjahres an ihn gerät (anfängliche Zuständigkeit) oder wenn die Kammer ihm die ihr anfänglich zugefallene Sache nachträglich überträgt (vgl. Zöller-Greger, § 348 Rdnr. 6 a; a.A. Thomas/Putzo-Reichold, ZPO, 41. Aufl. 2020, § 348 Rdnr. 2). Eine nachträglich entstehende Entscheidungsbefugnis für schon anhängige Sachen ohne Kammerbeschluß ist als Ausnahme von der Zuständigkeit der regelbesetzten Kammer nicht vorgesehen.

Der Senat kann diesen Fehler des Landgerichts nicht anders als durch eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und eine Zurückverweisung bereinigen (insoweit a.A.: KG, a.a.O.). Eines Antrages (wie nach § 538 II 1 Nr. 1 ZPO) bedarf es nicht, und ein Ermessen, in der Sache selbst zu entscheiden (§ 572 III ZPO), besteht nicht, weil der Fehler in der Besetzung des Landgerichts sich in der Besetzung des Beschwerdegerichts fortsetzte. Die eigene Sachentscheidung des Beschwerdegerichts setzt eine zutreffende Besetzung voraus. Über die Beschwerde (§ 99 II ZPO) gegen das Urteil des Einzelrichters ist - ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit der Einzelrichterbesetzung - der Einzelrichter des Beschwerdegerichts zur Entscheidung berufen (§ 568, 1 ZPO). Eine Übertragung auf den mit drei Richtern besetzten S...

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