Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 12.09.1996; Aktenzeichen L 7 U 1799/94)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. September 1996 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob der Kläger als Bäckermeister, der bis zum Ablauf des Monats April 1992 eine Bäckerei betrieb, wegen einer als Berufskrankheit (BK) der Nr 4301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) anerkannten allergischen obstruktiven Atemwegserkrankung (Mehlstauballergie) einschließlich Rhinopathie Anspruch auf Verletztenrente hat (Bescheid vom 19. Februar 1993 idF des Widerspruchsbescheides vom 14. September 1993; die Klage abweisendes Urteil des Sozialgerichts vom 6. Juli 1994 und zusprechendes Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 12. September 1996). Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, daß die durch die BK bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in der Zeit nach der Betriebsaufgabe vom 30. April 1992 bis 31. Oktober 1992 20 vH betragen habe, was auch von der Beklagten nicht bestritten werde. Zusätzlich sei jedoch die MdE wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit gemäß § 581 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) um 10 vH zu erhöhen. Der Kläger habe somit für die Zeit vom 30. April 1992 bis 31. Oktober 1992 Anspruch auf eine Verletztenrente in Höhe von 30 vH und danach auf Dauer in Höhe von 20 vH der Vollrente. Diese Verletztenrente dürfe gemäß § 3 Abs 3 BKVO nicht auf die gewährte Übergangsleistung angerechnet werden.

Die hiergegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde, die die Beklagte auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) stützt, ist zurückzuweisen.

Nach dieser Vorschrift ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die grundsätzliche Bedeutung ist nur dann anzunehmen, wenn die von der Beschwerdeführerin für grundsätzlich gehaltene Rechtsfrage für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits klärungsbedürftig, klärungsfähig und entscheidungserheblich ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 53; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX, RdNr 63 mwN). Das ist hier nicht der Fall.

Die Beschwerdeführerin hält folgende Rechtsfrage für klärungsbedürftig:

Kommt eine Erhöhung der MdE gemäß § 581 Abs 2 RVO unbeschadet der Tatsache in Betracht, daß der Verletzte im unmittelbaren Anschluß an die Aufgabe der schädigenden Tätigkeit erwerbsunfähig ist und eine Entschädigung gemäß § 3 BKVO erhalten hat?

Die Beschwerde ist unbegründet. Denn die von der Beschwerdeführerin angeführte Rechtsfrage kann nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung führen. Hinsichtlich einer besonderen beruflichen Betroffenheit entsprach es bereits vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I, 241) der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), zur Vermeidung unbilliger Härten bei der Bemessung der MdE auch die Auswirkungen der Unfallfolgen auf den Lebensberuf des Verletzten im Einzelfall angemessen zu berücksichtigen (vgl BSGE 1, 174, 178; 4, 294, 298). Die durch das UVNG eingeführte Vorschrift des § 581 Abs 2 RVO normierte im wesentlichen die bis dahin entwickelten Grundsätze der Rechtsprechung (vgl BSGE 23, 253, 254; 28, 227, 229; 39, 31, 32). Danach sind bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten ausgeglichen werden, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann. Allerdings läßt diese unfallversicherungsrechtliche Regelung keine allgemeine Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit – etwa entsprechend den Grundsätzen des § 30 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes – zu. Eine derartige Auslegung widerspräche den Voraussetzungen und der gegenüber dem Versorgungsrecht anders gearteten Systematik des Unfallversicherungsrechts (BSGE 70, 47, 48). Im Rahmen des § 581 Abs 2 RVO liegen die eine Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile aber dann vor, wenn unter Wahrung des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde (stRspr seit BSGE 23, 253, 255; vgl auch BSGE 31, 185, 188; 39, 31, 32; BSG SozR Nrn 10 und 12 zu § 581 RVO; BSG SozR 2200 § 581 Nrn 18 und 27). Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob eine höhere Bewertung der MdE zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt ist, hat das BSG insbesondere das Alter des Verletzten (BSGE 4, 294, 299), die Dauer der Ausbildung (BSG SozR Nr 10 zu § 581 RVO) sowie vor allem die Dauer der Ausbildung der speziellen beruflichen Tätigkeit (BSGE 4, 294, 298; BSG SozR aaO Nrn 9 und 10) und auch den Umstand bezeichnet, daß die bisher verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete (BSG SozR aaO Nrn 10 und 12). Aus diesen Merkmalen und den außerdem zu beachtenden sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalles kann sich eine höhere Bewertung der MdE nach § 581 Abs 2 RVO ergeben, wenn der Verletzte die ihm verbliebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens verwerten kann (BSG SozR 3-2200 § 581 Nr 1). Dieser Rechtsprechung ist schließlich zu entnehmen, daß die einzelnen Umstände des jeweiligen Falles nicht isoliert, sondern in ihrer Gesamtheit zu beurteilen sind (BSG SozR 3-2200 aaO). Ein Rangverhältnis zwischen den einzelnen Kriterien hat das BSG nicht aufgestellt; vielmehr ist jeweils eine Einzelfallprüfung vorzunehmen.

Von diesen von der Rechtsprechung entwickelten – und vom LSG im einzelnen beachteten – Grundsätzen ausgehend, hat es diese Einzelfallprüfung im Rahmen des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG durchgeführt, die einzelnen wesentlichen Merkmale in ihrer Gesamtheit gewürdigt und im Rahmen dieser Wertung das Vorliegen einer unbilligen Härte iS des § 581 Abs 2 RVO bejaht.

Davon ausgehend kann dahingestellt bleiben, ob die von der Beschwerdeführerin für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Frage klärungsbedürftig und klärungsfähig ist. Die Beschwerdeführerin hat nicht ausreichend dargelegt, daß die Rechtsfrage im vorliegenden Fall auch entscheidungserheblich ist. Denn sie legt in ihrer Begründung Tatsachen zugrunde, die von den im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen, gegen die Revisionsgründe nicht vorgebracht sind, abweichen. Aus den Feststellungen im angefochtenen Urteil ergibt sich lediglich, daß der Kläger zunächst Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), später wegen Berufsunfähigkeit (BU) bezog, und daß die rückwirkend von der Landesversicherungsanstalt Württemberg gewährte Rente wegen EU sich auf monatlich 1.850,00 DM belief. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist nicht zu entnehmen, daß der Kläger – wie die Beschwerdeführerin meint – „zu keinerlei Tätigkeit” im allgemeinen Erwerbsleben mehr fähig und deshalb, worauf das Vorbringen der Beschwerdeführerin wohl abzielt, völlig erwerbsunfähig ist, so daß eine nach § 181 Abs 2 RVO erhöhte Verletztenrente nicht in Betracht käme (vgl Brackmann/Burchardt, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, 12. Aufl, § 56 RdNrn 59 ff). Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats bedarf dies auch keiner erneuten Entscheidung, so daß es schon an der grundsätzlichen Bedeutung fehlt. Daß die EU nicht berufskrankheitsbedingt war, ist den Feststellungen des angefochtenen Urteils ebenfalls nicht zu entnehmen. Demgegenüber geht die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde davon aus, daß die EU im Zeitpunkt des Versicherungsfalls nur zum Teil, bzw überwiegend unfallunabhängiger Natur war, so daß eine Erhöhung der MdE wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit nicht gegeben sein konnte, da sich in diesem Fall die Unfallfolgen nicht auf die Fähigkeit zum Einkommenserwerb auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens auswirkten. Darauf beruhen auch die weiteren Schlußfolgerungen der Beschwerdeführerin, daß der Kläger seine „sonstigen Fähigkeiten” (zB kaufmännischer Art, handwerklicher Art usw) deshalb nicht habe nutzen können, weil er erwerbsunfähig gewesen sei. Die die MdE-Erhöhung begründeten „Nachteile” iS des § 581 Abs 2 RVO hätten also auf der EU, nicht auf der BU beruht.

Gleiches gilt auch für die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen über die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb. Dort ist lediglich festgehalten, daß sie im Jahre 1990 fast 50.000,00 DM betrugen, was einem monatlichen Einkommen von rund 4.200,00 DM entsprochen habe. Revisionsgründe sind auch bezüglich dieser Feststellungen nicht vorgebracht worden. Demgegenüber stützt die Beschwerdeführerin ihre Beschwerdebegründung auf davon abweichende Einkommensverhältnisse des Klägers und seiner Ehefrau aufgrund von Einkommensteuerbescheiden aus den Jahren 1989 und 1990.

Nachdem die Beschwerdeführerin in ihrer Begründung von Tatsachen ausgeht, die von den tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil abweichen, hat sie zugleich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht hinreichend dargelegt. Es genügt dazu nicht, Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen, es muß vielmehr darüber hinaus dargelegt werden, daß zumindest eine grundsätzliche Rechtsfrage bei der Zulassung der Revision notwendigerweise vom Revisionsgericht zu entscheiden ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 31). Dabei ist aber das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

Daß die Verletztenrente auf das Übergangsgeld nicht anzurechnen ist, hat der Senat bereits entschieden (BSG, Urteil vom 31. Mai 1996 – 2 RU 25/95).

Daß das LSG im übrigen die besonderen Umstände der beruflichen Verhältnisse des Klägers anders gewertet hat, als es die Beschwerdeführerin für richtig hält, kann nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung führen; denn § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG schließt es ausdrücklich aus, die Nichtzulassungsbeschwerde auf Fehler der Beweiswürdigung iS des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG zu stützen.

Die Beschwerde war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173446

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