Tenor
Dem 5. Senat wird darin zugestimmt, daß – entgegen den Senatsurteilen vom 8. November 1995 (13 RJ 5/95 – SozR 3-2600 § 300 Nr 5), vom 30. Oktober 1997 (13 RJ 71/96 – SozR 3-2600 § 300 Nr 12), vom 30. Oktober 1997 (13 RJ 3/97) und vom 9. September 1998 (B 13 RJ 63/97 R) – bei der Neufeststellung einer Rente nach dem SGB VI in einem Zugunstenverfahren (§ 44 SGB X) gemäß § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI nicht die bisher zuerkannten persönlichen Entgeltpunkte, sondern die sich bei richtiger Anwendung des alten Rechts (hier: § 250 SGB VI in der bis zum 30. Juni 1993 gültigen Fassung) ergebenden persönlichen Entgeltpunkte besitzgeschützt sind.
Gründe
Die auf § 41 Abs 3 des Sozialgerichtsgesetzes gestützte Anfrage des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) betrifft die Auslegung des § 300 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Der zugrundeliegende Sachverhalt ist dadurch gekennzeichnet, daß bei Erlaß des ursprünglichen Rentenbescheides § 250 SGB VI in der bis zum 30. Juni 1993 geltenden Fassung (aF) anzuwenden war. Obwohl nach dieser Vorschrift bei der Klägerin Ersatzzeiten bis 1987 hätten berücksichtigt werden müssen, waren von der Beklagten nur solche bis 1946 angerechnet worden. Im Zeitpunkt des von der Klägerin im August 1995 gestellten Zugunstenantrages galt hingegen die am 1. Juli 1993 in Kraft getretene Fassung des § 250 SGB VI (nF), welche nur eine Anerkennung von Ersatzzeiten bis Dezember 1956 zuließ. Bei ausschließlicher Anwendung dieser Regelung kann der im Jahre 1992 unterlaufene Verwaltungsfehler mithin nicht vollständig behoben werden. Der 5. Senat beabsichtigt, die im vorliegenden Fall erfolgte Anwendung des § 250 Abs 2 SGB VI nF grundsätzlich zu bestätigen, der Klägerin jedoch – in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung der Arbeiterrentensenate des BSG – gemäß § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI einen Besitzschutz in Höhe der ihr nach altem Recht zustehenden persönlichen Entgeltpunkte zu gewähren.
Der 13. Senat schließt sich der vom 5. Senat vorgesehenen Auslegung des § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI im Ergebnis an.
Die Beantwortung der Frage, welcher Besitzschutz gemäß § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI nach einer für den Versicherten ungünstigen Gesetzesänderung bei der Neufeststellung seiner Rente nach dem SGB VI in einem Zugunstenverfahren gilt, hängt von der Auslegung des § 300 SGB VI insgesamt ab. Dieser bestimmt nämlich allgemein, ob auf einen rentenrechtlich bedeutsamen Sachverhalt „altes” oder „neues” Recht anzuwenden ist.
In Übereinstimmung mit dem 5. Senat geht der erkennende Senat davon aus, daß nach § 300 Abs 1 SGB VI Vorschriften dieses Gesetzbuches in Zeiten ab ihrem Inkrafttreten grundsätzlich uneingeschränkt – also nicht von vornherein zeitlich begrenzt – auch auf Sachverhalte und Ansprüche anzuwenden sind, die bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Vorschriften bestanden haben. Von diesem Grundsatz macht § 300 Abs 2 SGB VI eine wichtige Ausnahme. Er stellt sicher, daß altes Recht auch in Zeiten nach seiner Aufhebung weiter anzuwenden ist, wenn ein bis dahin bestehender Anspruch vor dem Ablauf der dort vorgesehenen Drei-Monats-Frist geltend gemacht worden ist. Darüber hinaus ordnet § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI auch für Fälle, in denen nach dem Inkrafttreten neuen und dem Wegfall alten Rechts eine bereits vorher geleistete Rente in bezug auf die Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte neu festzustellen ist, die Geltung der Absätze 1 und 2 dieser Vorschrift an. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, daß nach § 306 SGB VI, der gemäß § 300 Abs 5 SGB VI dessen Absätzen 1 bis 4 vorgeht, allein aus Anlaß einer Rechtsänderung keine Neubestimmung der persönlichen Entgeltpunkte erfolgen soll. Ist hingegen – wie hier – im Rahmen eines Zugunstenverfahrens ohnehin eine Neufeststellung der Rente erforderlich, so ergibt sich aus Abs 3 Satz 1 iVm Abs 1 des § 300 SGB VI grundsätzlich eine Anwendung neuen Rechts für den gesamten zur Entscheidung stehenden Zeitraum, es sei denn, der Neufeststellungsantrag wäre – was vorliegend nicht der Fall war – innerhalb der Frist des § 300 Abs 2 SGB VI gestellt worden. Mithin hat hier die gemäß § 44 SGB X gebotene Fehlerkorrektur aufgrund der Sonderregelung des § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI (vgl § 37 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) im Prinzip nach Maßgabe des § 250 Abs 2 SGB VI nF zu erfolgen.
Da das ab 1. Juli 1993 geltende Recht für die Klägerin Einschränkungen mit sich gebracht hat, stellt sich die vom 5. Senat aufgeworfene Frage, ob es ausreicht, in solchen Fällen lediglich einen – vorliegend wohl nicht greifenden – Besitzschutz in Höhe der im ursprünglichen Rentenbewilligungsbescheid zuerkannten persönlichen Entgeltpunkte zu gewähren (so die bisherige Rechtsprechung des 5. und 13. Senats; vgl zB BSG SozR 3-2600 § 300 Nrn 5, 11, 12) oder ob der Besitzschutz iS von § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI auf denjenigen Entgeltpunktbetrag zu erstrecken ist, der sich bei richtiger Anwendung des seinerzeit maßgebenden Rechts errechnet. Nach erneuter Prüfung hält der erkennende Senat die letztgenannte, jetzt vom 5. Senat angestrebte Lösung für sachgerecht. Dabei läßt er sich im wesentlichen von folgenden Erwägungen leiten:
Ein Besitzschutz in Höhe der nach altem Recht zutreffend ermittelten persönlichen Entgeltpunkte ist im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X vor allem aus rechtssystematischen Gründen im Vergleich zu der Verfahrensweise bei Anwendung der §§ 45, 48 SGB X angebracht. Geht es nämlich um eine Fehlerkorrektur oder die Berücksichtigung von wesentlichen Änderungen (betreffend die festgestellten persönlichen Entgeltpunkte) zu Ungunsten des Versicherten, so scheidet eine Beibehaltung des bislang zuerkannten Entgeltpunktbetrages von vornherein aus. Will man dem Versicherten in solchen Fällen einen Schutz vor den Folgen zwischenzeitlich eingetretener, für ihn ungünstiger Rechtsänderungen nicht gänzlich versagen, was kaum sachgerecht wäre, hat sich der ihm mindestens zu belassende Betrag am alten Recht zu orientieren. Unter diesen Umständen liegt es nahe, einem Zugunstenantragsteller in gleichem Umfang „erweiterten” Bestandsschutz zu gewähren.
Eine solche Auslegung des § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI hat aus der Sicht des erkennenden Senats zugleich den Vorteil, daß damit etwaigen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die frühere Rechtsprechung der Arbeiterrentensenate (vgl dazu auch BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 10) der Boden entzogen ist.
Fundstellen