Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör. Zugang zum Gericht. Anordnung des persönlichen Erscheinens. Darlegung der Bemühungen um eine entsprechende Anordnung. Erläuterung einer Gerichtsentscheidung durch den Prozessbevollmächtigten. Rechtliches Gehör. Kostenrisiko
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Gericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, etwa durch Anordnung des persönlichen Erscheinens unter Übernahme der Fahrtkosten, dass jeder Beteiligte auch persönlich vor dem Gericht auftreten kann.
2. Die Anordnung persönlichen Erscheinens kann aber geboten sein, um dem Beteiligten Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben, wenn die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag keine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung gewährleistet; dies gilt insbesondere dann, wenn ein Erscheinen auf eigene Kosten sich als praktisch undurchführbar erweist, wenn also das Kostenrisiko den Zugang zum Gericht versperrt.
Orientierungssatz
1. Die Anordnung persönlichen Erscheinens kann geboten sein, um dem Beteiligten Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben, wenn die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag keine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung gewährleistet. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Erscheinen auf eigene Kosten sich als praktisch undurchführbar erweist, wenn also das Kostenrisiko den Zugang zum Gericht versperrt (vgl BSG vom 15.7.1992 - 9a RV 3/91).
2. Rügt der Beschwerdeführer einer Nichtzulassungsbeschwerde, das LSG habe ermessensfehlerhaft die Anordnung seines persönlichen Erscheinens unterlassen, muss er substantiiert darlegen, warum es ihm nicht möglich gewesen sei, sich vorab an das LSG zu wenden um sicherzustellen, dass er den Termin wahrnehmen und sich damit rechtliches Gehör verschaffen konnte, falls erforderlich unter Anordnung des persönlichen Erscheinens und Übernahme der Fahrtkosten.
3. Das Mandat des Prozessbevollmächtigten umfasst in der Regel noch zumindest eine kurze Erläuterung einer im Rahmen der Mandatsausübung erwirkten Gerichtsentscheidung (hier im Hinblick auf die erneute Möglichkeit der Anhörung in einer mündlichen Verhandlung vor dem LSG als Folge der Zurückverweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde).
Normenkette
SGG § 111 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, § 191 Hs. 2, §§ 62, 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 1; SGG § 111 Abs. 1 S. 1, § 191 Halbs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt Dr. T. beizuordnen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landes-sozialgerichts Hamburg vom 24. Juni 2014 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Der Kläger begehrt die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "außergewöhnliche Gehbehinderung" (aG).
Bei dem Kläger wurden 1995 wegen Oberschenkelamputation rechts und Lendenwirbelsäulensyndrom ein Grad der Behinderung von 80 und die Voraussetzungen des Merkzeichens G festgestellt. Sein im Oktober 2008 gestellter Antrag auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG wurde mit Bescheid vom 19.2.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.6.2009 abgelehnt. Nach Beiziehung verschiedener Befundberichte sowie eines im März 2011 von Dr. N. erstatteten orthopädischen Gutachtens hat das SG Hamburg die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers, mit der er zugleich die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt hatte, ist vom LSG Hamburg nach schriftlicher Anhörung des Klägers durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG vom 2.11.2012 zurückgewiesen worden. Zugleich hat das LSG die Bewilligung von PKH abgelehnt.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat der Senat den Beschluss des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Die Entscheidung des LSG für einen Beschluss nach § 153 Abs 4 S 1 SGG habe auf einer groben Fehleinschätzung beruht, weil das LSG nicht ohne Weiteres im vereinfachten Beschlussverfahren hätte entscheiden dürfen. Zu der von dieser Vorschrift vorausgesetzten Beurteilung der Berufung als einstimmig unbegründet könne das LSG an sich nur auf der Grundlage der Akten, insbesondere des angefochtenen Urteils, und der Begründung der Berufung durch den Berufungskläger kommen. Zur Abgabe einer derartigen Begründung habe sich der Kläger indes gegenüber dem LSG mehrfach außer Stande erklärt und um Bewilligung von PKH sowie Beiordnung eines Rechtsanwalts gebeten. In dieser Situation müsse das Berufungsgericht über den PKH-Antrag entscheiden, bevor es die Berufung ohne mündliche Verhandlung zurückweise. Bei Zurückweisung des PKH-Gesuchs habe es dem Berufungskläger nochmals Gelegenheit zur Begründung der Berufung zu geben, gegebenenfalls in einem Erörterungstermin oder einer mündlichen Verhandlung. Ob die Entscheidung des LSG auf diesem Verfahrensfehler beruhen könne, bedürfe keiner Prüfung, weil die Verletzung von § 153 Abs 4 SGG zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts ohne ehrenamtliche Richter und damit zu einem absoluten Revisionsgrund führe (Beschluss vom 14.11.2013 - B 9 SB 31/13 B).
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren hat das LSG dem Kläger zunächst Gelegenheit gegeben, seine Berufung schriftlich zu begründen. Der Kläger hat erwidert, er habe schon mehrfach geschrieben, dass er die Berufung nicht begründen könne, was das BSG auch anerkannt habe. Er beantrage daher erneut die Gewährung von PKH und die Beiordnung eines Rechtsanwalts. Das LSG hat den erneuten PKH-Antrag des Klägers wiederum abgelehnt (Beschluss vom 31.3.2014). Der Kläger habe keine neuen Umstände vorgetragen, die zu einer abweichenden Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Berufung führen könnten. Es fehle weiterhin an einer zumindest guten Möglichkeit, dass der Kläger mit seiner Berufung durchdringen werde.
Der Kläger hat sich danach im Berufungsverfahren nicht weiter geäußert. Das LSG hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 24.6.2014 bestimmt, zu der es den Kläger formularmäßig geladen hat, ohne sein persönliches Erscheinen anzuordnen. Das Ladungsformular hat den Kläger unter anderem darüber informiert, dass auch im Falle seines Ausbleibens Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden könne, dies auch nach Lage der Akten. Reisekosten würden nicht vergütet, weil das Gericht das Erscheinen des Klägers nicht für geboten halte.
Mit Urteil vom 24.6.2014 hat das LSG die Berufung des Klägers in seiner Abwesenheit zurückgewiesen. Die Berufung sei unzulässig, soweit der Kläger weiterhin die Zuerkennung der Merkzeichen B und aG bereits ab März 1995 begehre, weil er seine diesbezügliche Klage beim SG wirksam zurückgenommen habe. Die auf Zuerkennung des Merkzeichens aG gerichtete Berufung sei unbegründet, weil nach Würdigung der gesamten Aktenlage und insbesondere der Ausführungen des vom SG gehörten Sachverständigen Dr. N. die tatsächlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens nicht vorlägen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger erneut Beschwerde zum BSG eingelegt, mit der er die Verletzung seines rechtlichen Gehörs rügt. Das Berufungsgericht habe ermessensfehlerhaft die Anordnung seines persönlichen Erscheinens unterlassen. Diese sei aber geboten gewesen, um ihm Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben, weil die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag wegen Unbeholfenheit und Sprachunkenntnis von vornherein keine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung gewährleistet habe. Das Gericht habe sich nicht auf eine formlose Terminsmitteilung nach § 110 SGG beschränken dürfen, weil diese für den Kläger als Nicht-Muttersprachler missverständlich formuliert gewesen sei und ihn vom Erscheinen abgehalten habe.
II. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von PKH und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten. Nach § 73a SGG iVm § 114 ZPO kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Dies ist hier nicht der Fall. Die von seinem Prozessbevollmächtigten begründete Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil kein Zulassungsgrund ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Ein Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Ferner ist Voraussetzung für den Erfolg einer Gehörsrüge, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6).
Die Beschwerde hat nicht dargelegt, dass der Kläger seinerseits alles Erforderliche unternommen hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
Nach § 111 Abs 1 S 1 Alt 1 SGG kann der Vorsitzende das persönliche Erscheinen eines Beteiligten anordnen. Die Anordnung steht danach grundsätzlich im Ermessen des Gerichts und lässt ihm einen großen Entscheidungsspielraum (BSG Urteil vom 15.7.1992 - 9a RV 3/91 - Juris). Auch Art 103 Abs 1 GG und § 62 SGG verlangen nicht, dass der Beteiligte stets selbst gehört wird. Das Gericht ist daher grundsätzlich nicht verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, etwa durch Anordnung des persönlichen Erscheinens unter Übernahme der Fahrtkosten, dass jeder Beteiligte auch persönlich vor dem Gericht auftreten kann (BSG Beschluss vom 23.4.2009 - B 13 R 15/09 B - Juris RdNr 11 mwN). Die Anordnung persönlichen Erscheinens kann aber geboten sein, um dem Beteiligten Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben, wenn die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag keine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung gewährleistet. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Erscheinen auf eigene Kosten sich als praktisch undurchführbar erweist, wenn also das Kostenrisiko den Zugang zum Gericht versperrt (vgl BSG Urteil vom 15.7.1992 - 9a RV 3/91 - Juris).
Insoweit hat die Beschwerde bereits nicht substantiiert dargelegt, warum es dem Kläger nicht möglich gewesen wäre, sich vorab an das LSG zu wenden um sicherzustellen, dass er den Termin wahrnehmen und sich damit rechtliches Gehör verschaffen konnte, falls erforderlich unter Anordnung des persönlichen Erscheinens und Übernahme der Fahrtkosten. Von sich aus musste sich die Anordnung des persönlichen Erscheinens dem LSG in der konkreten Prozesssituation nicht aufdrängen. Denn als Inhaber der Merkzeichen G und B durfte der Kläger, um das Gericht zu erreichen, zusammen mit einer Begleitperson kostenlos den öffentlichen Nahverkehr nutzen, vgl § 145 SGB IX. Darüber hinaus war er laut Feststellungen des SG bei der Fortbewegung ohnehin nicht auf fremde Hilfe angewiesen, sondern vielmehr ohne große Anstrengung zu selbstständiger Fortbewegung in der Lage. Abgesehen davon hätte das LSG auch noch nachträglich das persönliche Erscheinen des Klägers nach § 191 Halbs 2 SGG für geboten erklären und damit eine Übernahme der Fahrtkosten des Klägers durch die Staatskasse sicherstellen können, wenn der Kläger die Chance ergriffen hätte, das Berufungsgericht durch seinen mündlichen Vortrag von der Notwendigkeit seines persönlichen Erscheinens zu überzeugen.
Soweit die Beschwerde vorträgt, der Kläger habe den standardisierten Text der Ladung so verstanden, er solle nicht kommen und es komme auf seine Sichtweise nach Ansicht des Gerichts ohnehin nicht an, so erschließt sich nicht, warum der Kläger nicht jedenfalls dem von ihm zuvor erstrittenen Zurückverweisungsbeschluss des BSG unzweifelhaft entnehmen konnte, dass ihm das LSG nunmehr durch die Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung gerade die Gelegenheit einräumen musste und wollte, sich persönlich Gehör zu verschaffen. Gegebenenfalls hätte sich der Kläger diesen Beschluss von seinen Prozessbevollmächtigten erläutern lassen können, die ihn im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde vertreten haben. Denn das Mandat des Prozessbevollmächtigten wird in der Regel noch zumindest eine kurze Erläuterung einer im Rahmen der Mandatsausübung erwirkten Gerichtsentscheidung umfassen.
Unabhängig vom Vorstehenden hat die Beschwerde jedenfalls ohnehin nicht dargetan, welches Vorbringen des Klägers der vermeintliche Gehörsverstoß verhindert haben soll und inwieweit die Entscheidung darauf beruhen könnte. Angesichts der behaupteten Verletzung rechtlichen Gehörs, bei der anders als bei der Verletzung von § 153 Abs 4 SGG ein absoluter Revisionsgrund hier nicht in Frage steht, ist eine solche Darlegung nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zwingend erforderlich, von der Beschwerde aber unterlassen worden. Der Kläger begehrte im Berufungsverfahrens zuletzt im Wesentlichen noch die Zuerkennung des Merkzeichens aG. Die Beschwerde macht aber keinerlei Ausführungen dazu, was der Kläger der Verneinung der tatsächlichen Voraussetzungen dieses Merkzeichens (vgl dazu etwa BSG Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 5/05 R - Juris mwN) durch die Instanzgerichte, die dafür die gesamte Aktenlage gewürdigt und sich insbesondere auf die Ausführungen des vom SG gehörten Sachverständigen Dr. N.
gestützt haben, mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg entgegensetzen wollte. Die vage Angabe, der Kläger hätte beim LSG weitere Gesichtspunkte vortragen können, die seinen Anspruch auf das Merkzeichen aG untermauert hätten, genügt nicht, um das durch den vermeintlichen Gehörsverstoß verhinderte Vorbringen substantiiert darzulegen.
Der von der Beschwerde angekündigte Vortrag zur Aufklärung eines sprachlichen Missverständnisses des Klägers hinsichtlich der Voraussetzungen des Merkzeichens G hätte ersichtlich nicht entscheidungsrelevant werden können, weil dieses Merkzeichen nicht Streitgegenstand des Berufungsverfahrens war.
Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen