Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Gutachtenauftrag bzw ergänzende gutachtliche Stellungnahme. Erstellung nicht durch den gerichtlich beauftragten Sachverständigen sondern durch dessen kommissarischen Nachfolger
Orientierungssatz
Gemäß § 404 Abs 1 S 1 ZPO ist ausdrücklich dem Prozessgericht die Auswahl des hinzuzuziehenden Sachverständigen vorbehalten. Es ist deshalb unzulässig, den einer bestimmten natürlichen Person erteilten Gutachtensauftrag bzw den Auftrag zur Erstellung einer ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme klinikintern dessen Nachfolger zuzuleiten; denn diese Aufträge gehen auch bei einem Klinikarzt nicht automatisch auf dessen Nachfolger über. Damit würde in unzulässiger Weise der Klinik die Auswahl des Sachverständigen überlassen. Die klinikinterne Weiterleitung des Gutachtensauftrags an den Nachfolger bedarf deshalb zumindest der ausdrücklichen, nach außen hin erkennbaren Zustimmung durch das Prozessgericht.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 5, 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 118 Abs. 1; ZPO § 404 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 02.12.2009; Aktenzeichen L 3 SB 3087/07) |
SG Ulm (Urteil vom 24.04.2007; Aktenzeichen S 9 SB 2648/06) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. Dezember 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der 1930 geborene Kläger begehrt in der Hauptsache die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 70.
Beim Kläger wurde zunächst bestandskräftig ein GdB von 50 festgestellt. Das beklagte Land lehnte den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 19.9.2005 ab (Bescheid vom 7.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.6.2006). Auf Klage hat das Sozialgericht Ulm (SG) die ablehnenden Bescheide aufgehoben und das beklagte Land verurteilt, ab 19.9.2005 einen GdB von 60 festzustellen. Hinsichtlich des weitergehenden Begehrens (GdB von 70) wies es die Klage im Übrigen ab (Urteil vom 24.4.2007). Das vom Kläger angerufene Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat nach Einholung eines orthopädischen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. K., , , vom 11.8.2008 sowie einer ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme vom 3.12.2008, die von Dr. M. (kommissarischer Nachfolger von Prof. Dr. K. als Leiter der Orthopädischen Klinik) abgegeben worden ist, die Berufung des Klägers durch ohne mündliche Verhandlung ergangenes Urteil vom 2.12.2009 mit der Begründung zurückgewiesen, dieser habe keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 70.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt. Als Zulassungsgrund macht er einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend: Er rügt eine Verletzung der §§ 103, 118 SGG iVm §§ 404, 407, 407a, 411 ZPO. Er trägt ua vor: Das von Prof. Dr. K. angeforderte Ergänzungsgutachten sei am 3.12.2008 ohne dessen Mitwirkung von Dr. M. erstellt worden, da der Sachverständige zwischenzeitlich die Klinik verlassen gehabt habe. Er, der Kläger, habe bereits in den Schriftsätzen vom 14.1.2009 und 19.3.2009 gerügt, dass das Ergänzungsgutachten nicht vom gerichtlich bestellten Sachverständigen erstellt worden sei.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Wie der Kläger formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und auch im Ergebnis zutreffend gerügt hat, beruht das angegriffene Urteil des LSG auf einer Verletzung des § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 404 Abs 1 Satz 1 ZPO. Der Verfahrensfehler liegt darin, dass die ergänzende gutachtliche Stellungnahme vom 3.12.2008 nicht der vom Gericht ernannte Sachverständige Prof. Dr. K., sondern dessen kommissarischer Nachfolger als Leiter der Orthopädischen Klinik, Dr. M., erstellt hat. Der Senat macht deshalb gemäß § 160a Abs 5 SGG von der Möglichkeit Gebrauch, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen.
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist fristgerecht eingelegt (§ 160a Abs 1 Satz 2 SGG) und begründet worden (§ 160a Abs 2 Satz 1 und 2 SGG). Die Begründung genügt auch den gesetzlichen Anforderungen an die Bezeichnung dieses Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Der Kläger hat in der Beschwerdebegründung substantiiert dargetan, dass die ergänzende Stellungnahme vom 3.12.2008 nicht vom beauftragten Sachverständigen, Prof. Dr. K., erstellt worden sei.
Der Kläger hat zudem nicht versäumt darzulegen, warum hinsichtlich des gerügten Verfahrensmangels keine Heilung nach § 202 SGG iVm §§ 556, 295 ZPO eingetreten sei. Zum einen hat er vorgetragen, er habe bereits in seinen Schriftsätzen vom 14.1.2009 und 19.3.2009 gerügt, dass das Ergänzungsgutachten nicht vom gerichtlich bestellten Sachverständigen erstellt worden sei. Zum anderen ist seinem Vorbringen zu entnehmen, dass ein rügeloses Verhandeln schon deshalb nicht möglich gewesen sei, weil das LSG nach § 124 Abs 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat.
Der Kläger hat außerdem hinreichend dargelegt, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Verfahrensmangel beruhen kann, denn nach dem Vorbringen des Klägers hat sich das LSG ua auf die ergänzende gutachtliche Stellungnahme vom 3.12.2008 gestützt. Nach den Ausführungen des Klägers scheint es deshalb nicht ausgeschlossen, dass der vom Gericht beauftragte Sachverständige zu einer für ihn günstigeren Beurteilung hinsichtlich des GdB hätte gelangen können.
2. Die Rüge des Klägers, die ergänzende gutachtliche Stellungnahme vom 3.12.2008 sei nicht von dem beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. K., sondern von dem nicht zum Sachverständigen bestellten Dr. M. abgegeben worden, greift gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG durch.
Das LSG hat mit Schreiben vom 5.11.2008 Prof. Dr. K. mit der Erstellung der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme beauftragt. Laut Aktenvermerk hat die Klinik das LSG am 26.11.2008 telefonisch darüber unterrichtet, dass Prof. Dr. K. nicht mehr an der Klinik sei und deshalb sein Nachfolger, Dr. M., die Anfrage beantworten werde. Der zuständige Berichterstatter des LSG (§ 155 Abs 1 und 4 SGG) hat darauf nicht reagiert: Er hat weder den ernannten Sachverständigen Prof. Dr. K. von seiner Pflicht zur Abgabe der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 407 Abs 1 ZPO) entbunden und an dessen Stelle Dr. M. zum Sachverständigen ernannt (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 404 Abs 1 Satz 1 ZPO). Noch hat er sonst wie nach außen hin erkennbar zum Ausdruck gebracht, dass er der Erstellung der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme durch Dr. M. zustimme.
Mit dieser Verfahrensweise hat das LSG gegen § 404 Abs 1 Satz 1 ZPO verstoßen, der ausdrücklich dem Prozessgericht die Auswahl des hinzuzuziehenden Sachverständigen vorbehält. Es ist deshalb unzulässig, den einer bestimmten natürlichen Person erteilten Gutachtensauftrag bzw den Auftrag zur Erstellung einer ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme klinikintern dessen Nachfolger zuzuleiten; denn diese Aufträge gehen auch bei einem Klinikarzt nicht automatisch auf dessen Nachfolger über. Damit würde in unzulässiger Weise der Klinik die Auswahl des Sachverständigen überlassen (vgl hierzu auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 118 RdNr 11 c). Die klinikinterne Weiterleitung des Gutachtensauftrags an den Nachfolger bedarf deshalb zumindest der ausdrücklichen, nach außen hin erkennbaren Zustimmung durch das Prozessgericht. Eine solche ist hier nicht erteilt worden.
Hinsichtlich dieses Verfahrensmangels ist auch keine Heilung bzw kein Rügeverzicht iS des § 202 SGG iVm §§ 566, 295 ZPO eingetreten. Der Kläger hat nach Erhalt der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme gegenüber dem LSG erstmals mit Schriftsatz vom 14.1.2009 geltend gemacht, dass nicht der vom Gericht beauftragte Gutachter, Prof. Dr. K., sondern Dr. M. die ergänzende gutachtliche Stellungnahme vom 3.12.2008 erstellt hat. Diese Rüge hat der Kläger mit dem Hinweis, Dr. M. sei der Verfasser der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme, in seinem Schriftsatz vom 19.3.2009 wiederholt. Unerheblich ist insoweit, dass der Kläger in der letztendlich maßgebenden Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vom 5.11.2009 diesen Verfahrensfehler nicht ausdrücklich erneut gerügt hat. Ein mit der Einverständniserklärung verknüpftes, ausdrückliches Aufrechterhalten wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung bei einem anwaltlich vertretenen Beteiligten im Hinblick auf § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 iVm § 103 SGG nur in Bezug auf einen Beweisantrag wegen dessen besonderer Warnfunktion verlangt (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 20; BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 3; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 31; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 35; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13).
Auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG auch beruhen. Mangels eigener sozialmedizinischer Sachkunde vermag der erkennende Senat nicht auszuschließen, dass der vom Gericht beauftragte Sachverständige, Prof. Dr. K., auch unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgelegten weiteren Befunde und der von diesem vorgebrachten Einwendungen seine bisherige Einschätzung des GdB geändert oder eine weitere Sachaufklärung für notwendig gehalten hätte und das LSG in der Folge zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
3. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 2603718 |
AnwBl 2011, 162 |