Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Berufungsgericht. Beurteilung der Verordnungsfähigkeit von umstrittenen Präparaten nur auf der Grundlage von Sachverstand in medizinischer Hinsicht. Beweiserhebung und -verwertung nach gesetzlichen Vorgaben. Hinweispflicht bei Anschluss an eine der höchstrichterlichen Rechtsprechung naheliegende Auffassung
Orientierungssatz
1. Soweit ein Berufungsgericht davon ausgeht, die Frage der Verordnungsfähigkeit von umstrittenen Präparaten könne nur auf der Grundlage von Sachverstand in medizinischer Hinsicht abschließend beurteilt werden, über die das Gericht nicht verfügt, muss die Beweiserhebung und die Verwertung der erhobenen Beweise den gesetzlichen Vorgaben entsprechen.
2. Wenn sich ein Berufungsgericht der nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung naheliegenden Auffassung anschließen möchte, wonach die Verordnungsfähigkeit von Präparaten über den Sprechstundenbedarf keine dem Beweis zugängliche Frage ist, muss darüber ein entsprechender Hinweis erfolgen, auch wenn sich nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens eine Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht angedeutet hat.
Normenkette
SGG §§ 62, 118 Abs. 1 S. 1; ZPO § 411 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der als Arzt für Gefäßchirurgie- und Phlebologie an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Kläger wendet sich gegen Bescheide der Rechtsvorgängerin der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (künftig: Beklagte), mit denen Kürzungen bei den Sprechstundenbedarfsverordnungen des Klägers für die Quartale 3/2001 und 4/2001 in Höhe von insgesamt 13.746,52 Euro vorgenommen worden sind.
Im Wege der sachlich-rechnerischen Berichtigung stellte die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden fest, dass die vom Kläger verordneten Mittel Lipo Cordes Creme, Dermatop Fettsalbe, Promogran Protease Modulierende Matrix und Ethiloop Retraktionsschläuche gar nicht und von den verordneten 800 Perfusionsbestecken 300 nicht als Sprechstundenbedarf verordnungsfähig seien. Das nach erfolglosem Widerspruchsverfahren angerufene Sozialgericht hat der Klage mit der Begründung stattgegeben, es liege kein ordnungsgemäßer Prüfantrag der beigeladenen AOK vor. Im Berufungsverfahren ist der entsprechende Prüfantrag vorgelegt worden. Das Landessozialgericht (LSG) hat sodann über die Verordnungsfähigkeit der genannten Mittel Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Orthopäden Dr. T. Nachdem die Beklagte Einwendungen gegen dessen Gutachten erhoben hatte, hat das LSG von diesem Sachverständigen eine ergänzende Stellungnahme eingeholt.
Das LSG hat sodann das sozialgerichtliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Es hat seine Entscheidung damit begründet, die vom Kläger verordneten Gegenstände hätten nicht als Sprechstundenbedarf verordnet werden dürfen. Soweit der Sachverständige Dr. T. das anders gesehen habe, seien dessen Ausführungen teilweise "nicht nachvollziehbar" (Urteil vom 3.9.2009).
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil rügt der Kläger Verfahrensmängel, auf denen die Entscheidung beruhe (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat mit ihrer Rüge Erfolg, das LSG habe den Anspruch des Klägers auf Gewährung angemessenen rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt. Das Urteil kann auf diesem Gehörsverstoß beruhen.
Der Kläger rügt zu Recht, das LSG hätte ihn darauf hinweisen müssen, dass es den Schlussfolgerungen des von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens sowie den Ergänzungen des Sachverständigen in der vom Gericht selbst veranlassten ergänzenden Stellungnahme nicht folgen wolle, weil es die Schlussfolgerung des Sachverständigen für nicht nachvollziehbar gehalten hat.
Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundessozialgerichts (BSG) darf ein Urteil nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BVerfG ≪Kammer≫ NJW 2003, 2524; vgl auch BSG, Urteil vom 2.9.2009 - B 6 KA 44/08 R - RdNr 17 mwN, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Auch eine dem bisherigen Verlauf des Verfahrens widersprechende Beweiswürdigung, die dem Verfahren eine überraschende Wende gibt, kann eine unzulässige Überraschungsentscheidung sein, wenn die Beteiligten nicht auf diese Beweiswürdigung hingewiesen werden und ihnen damit die Möglichkeit eingeräumt wird, dazu näher Stellung zu nehmen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 62 RdNr 8b). Wenn das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte, muss vor der den Rechtszug abschließenden Entscheidung ein Hinweis gegeben worden sein (vgl Bundesverwaltungsgericht vom 27.11.2008 - 5 B 54/08 - RdNr 8 mwN, in juris dokumentiert; BSG, Urteil vom 2.9.2009, aaO, RdNr 17).
Nach dem Verlauf des Berufungsverfahrens dürfte der Kläger davon ausgehen, dass es für die Entscheidung des Rechtsstreits entscheidend auf die Verordnungsfähigkeit der in Rede stehenden Salben und Medizinprodukte ankommen würde, und dass das LSG dies als eine dem Beweis durch Sachverständigengutachten zugängliche Frage ansehen würde. Letzteres steht zwar mit der Rechtsprechung des Senats nicht in Einklang (vgl BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 57; BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 6 RdNr 15, ausdrücklich zur Verordnung von Sprechstundenbedarf), doch hindert das nicht notwendig die Annahme einer Verletzung des Anspruchs auf angemessenes rechtliches Gehör. Soweit das Berufungsgericht davon ausgeht, die Frage der Verordnungsfähigkeit der umstrittenen Präparate könne nur auf der Grundlage von Sachverstand in medizinischer Hinsicht abschließend beurteilt werden, über die das Gericht nicht verfügt, muss die Beweiserhebung und die Verwertung der erhobenen Beweise den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Daraus folgt, dass das Gericht spätestens in der mündlichen Verhandlung den anwaltlich vertretenen Kläger darauf hätte hinweisen müssen, dass es im Ausgangspunkt weder den Feststellungen im Gutachten des Sachverständigen noch in dessen ergänzender Stellungnahme folgen werde. Dann hätte der Kläger Gelegenheit gehabt, aus seiner Sicht die Schlüssigkeit der Darlegung des Sachverständigen zu bekräftigen oder - was nahegelegen hätte - den Antrag zu stellen, diesen zur mündlichen Verhandlung zu laden, um die ersichtlich eklatanten Widersprüche zwischen der Auffassung des Senats, der seine spezifische medizinische Sachkunde zumindest nicht prozessordnungsmäßig in das Verfahren eingeführt hat, und der Ansicht des vom Gericht selbst bestellten Sachverständigen aufzuklären (§ 411 Abs 3 ZPO iVm § 118 Abs 1 Satz 1 SGG). Wenn sich das LSG dagegen der nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung naheliegenden Auffassung hätte anschließen wollen, wonach die Verordnungsfähigkeit von Präparaten über den Sprechstundenbedarf keine dem Beweis zugängliche Frage ist, hätte auch darüber nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens, das auf eine Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht hingedeutet hat, ein entsprechender Hinweis erfolgen müssen.
Der Kläger hat jedenfalls nach der Einholung der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen im Februar 2009 nicht von sich aus damit rechnen müssen, dass das Gericht die genannte Beweisaufnahme nunmehr für überflüssig halten würde. Darauf hätte der Kläger nach dem Prozessverlauf hingewiesen werden müssen. Der Kläger hätte einen solchen Hinweis zum Anlass nehmen können, substantiiert zur Verordnungsfähigkeit der betroffenen Präparate Stellung zu nehmen. Das Berufungsgericht hat weder den einen noch den anderen Weg gewählt, und auch dem Urteil ist nicht mit letzter Sicherheit zu entnehmen, ob das Gericht tatsächlich seine eigene Sachkunde in medizinischer Hinsicht für ausreichend hielt, um den Schlussfolgerungen des von ihm selbst bestellten Sachverständigen entgegentreten zu können, oder ob es zumindest stillschweigend zu der Auffassung gelangt ist, auf die Beurteilung eines Sachverständigen komme es für die Verordnungsfähigkeit von Sprechstundenbedarf nicht entscheidend an. Beide Entscheidungen hätten jedoch dem Rechtsstreit im Berufungsverfahren eine Wendung gegeben, mit der nach der bisherigen Führung des Verfahrens durch den Berichterstatter auch ein sorgfältig arbeitender und über die Sach- und Rechtslage ausreichend orientierter Bevollmächtigter nicht ohne Weiteres hätte rechnen müssen. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Kläger auf den gerichtlichen Hinweis in der einen oder anderen Richtung Wesentliches hätte vortragen können, beruht das Berufungsurteil auch auf dem dargelegten Rechtsverstoß.
Zur Beschleunigung des Verfahrens macht der Senat von der Möglichkeit des § 160a Abs 5 SGG Gebrauch und verweist den Rechtsstreit unmittelbar im Beschwerdeverfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück. Dieses wird anlässlich seiner neuen Entscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen