Verfahrensgang

LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 01.12.2022; Aktenzeichen L 4 KR 312/22)

SG Hannover (Entscheidung vom 13.06.2022; Aktenzeichen S 10 KR 121/16)

 

Tenor

Der Antrag des Klägers, ihm für ein Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 1. Dezember 2022 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt S, H, beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 1. Dezember 2022 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte, multimorbide, nierentransplantierte Kläger leidet ua unter mit der Transplantation einhergehenden Begleit- und Folgeerkrankungen, einem chronischen Erschöpfungssyndrom, allergischem Asthma und Bluthochdruck. Letzterer ist ärztlich mit den Medikamenten Atacand 16 mg (Wirkstoff Candesartan) und Norvasc 5 mg (Wirkstoff Amlopidin) stabil eingestellt. Die Wirkstoffe dieser Medikamente gehören Festbetragsgruppen an. Der Apothekenabgabepreis dieser Medikamente liegt oberhalb des jeweiligen Festbetrags. Der Kläger ist mit seinem Begehren, ihn wegen aufgetretener Nebenwirkungen bei der Einnahme von zum Festbetrag erhältlichen Medikamenten mit Atacand und Norvasc zu versorgen, bei der Beklagten erfolglos geblieben (zwei Bescheide vom 22.1.2015, jeweils einer zu jedem Medikament, Widerspruchsbescheide vom 21.1. und 25.2.2016). Das SG hat Beweis erhoben und bei B () ein für den Kläger negatives Sachverständigengutachten eingeholt. Es hat danach die auf Erstattung der dem Kläger bisher entstandenen Kosten und auf zukünftige Versorgung mit Atacand und Norvasc gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 13.6.2022). Auf die Berufung des Klägers hat das LSG durch den konsentierten Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung das SG-Urteil und die angegriffenen Bescheide geändert. Es hat die Beklagte verurteilt, den Kläger zukünftig mit den begehrten Medikamenten zu versorgen, im Übrigen, also hinsichtlich der Erstattung der Kosten oberhalb des Festbetrags für die vom Kläger erworbenen Medikamente, die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG auf die im Urteil des BSG vom 3.7.2012 (B 1 KR 22/11 R - BSGE 111, 146 = SozR 4-2500 § 35 Nr 6) aufgestellten Rechtssätze Bezug genommen und ausgeführt: Eine (gänzlich) unbegrenzte Verpflichtung des Versicherten, alle/sämtliche in Betracht kommenden Festbetragsarzneimittel einer Testung zu unterziehen, sei weder aufgrund des Wirtschaftlichkeitsprinzips des § 12 Abs 1 SGB V geboten noch in Anbetracht des Art 2 Abs 2 GG rechtlich zulässig. Erforderlich sei ein begrenzendes Kriterium der Zumutbarkeit (Hinweis auf BSG, aaO, RdNr 27). Weitere Testungen festbetragswahrender Medikamente seien unzumutbar, wenn mit Blick auf die Schwere der bestehenden Erkrankungen, die Auswirkungen eines Rückfalls bei Testungen unwirksamer Medikamente und/oder die hierdurch ausgelösten bzw auslösbaren Nebenwirkungen die Gesundheit unverhältnismäßig beeinträchtigen oder sogar das Leben des Versicherten gefährden könnten. Das LSG hat die Unzumutbarkeit bejaht und hierfür auf einen sich zuletzt insgesamt verschlechternden gesundheitlichen Zustand des Klägers verwiesen. Weitere Versuche der Behandlung des Bluthochdrucks mit zum Festbetrag erhältlichen Medikamenten seien unzumutbar. Da diese Verschlechterung jedoch erst kürzlich eingetreten sei, scheide ein Kostenerstattungsanspruch für die Vergangenheit aus (Urteil vom 1.12.2022).

Der Kläger begehrt, ihm für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwalt S, H, zu bewilligen, und wendet sich mit seiner privatschriftlich erhobenen Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision.

II

1. Der Antrag des Klägers auf PKH und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen. Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 121 ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten für das Beschwerdeverfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet werden, wenn ua die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Daran fehlt es.

Der Kläger kann aller Voraussicht nach mit seinem Begehren auf Zulassung der Revision nicht durchdringen, weil es keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Nach Durchsicht der Akten fehlen auch unter Würdigung seines Vorbringens Anhaltspunkte dafür, dass er einen der in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe darlegen könnte.

a) Die Sache bietet keine Hinweise für eine über den Einzelfall des Klägers hinausgehende grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Die Voraussetzungen, unter denen Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Versorgung mit Arzneimitteln oberhalb des Festbetrags beanspruchen können, sind durch die Rspr des erkennenden Senats geklärt (vgl BSG vom 3.7.2012 - B 1 KR 22/11 R - BSGE 111, 146 = SozR 4-2500 § 35 Nr 6).

b) Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass das LSG entscheidungstragend bewusst von Rspr des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abgewichen sein könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG).

c) Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Danach ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

aa) Die vom Kläger gewünschte, über die Versorgung mit Festbetragsarzneimitteln hinausgehende Versorgung ist nach den Feststellungen des LSG für die hier allein noch im Streit stehende Zeit vor dem 1.12.2022 nicht notwendig gewesen. Anhaltspunkte für Verfahrensfehler des LSG bei dieser Feststellung bestehen nicht.

(1) Eine erfolgreiche Rüge der Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) erfordert, dass ein anwaltlich vertretener Beteiligter einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat (stRspr; vgl nur BSG vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Es muss insbesondere ein für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbarer Beweisantrag bezeichnet werden können, dem das LSG nicht gefolgt ist (stRspr; vgl zB BSG vom 16.5.2019 - B 13 R 222/18 B - juris RdNr 12 mwN). Wird - wie hier - ein Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entschieden, tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt der Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG(stRspr; vgl zB BSG vom 29.9.2021 - B 9 SB 40/21 B - juris RdNr 8 mwN) . Einen Beweisantrag hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht gestellt.

(2) Einen rügefähigen Verfahrensfehler dürfte der Kläger auch nicht aus der Beweiswürdigung des LSG ableiten können.

Der ausdrückliche gesetzliche Ausschluss der Rüge des Verstoßes gegen die Grundsätze über die freie Überzeugungsbildung des Gerichts (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) im Rahmen der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG) hat zur Folge, dass selbst dann, wenn offensichtliche Widersprüche zwischen der Folgerung des Gerichts und der Aussage des Sachverständigen vorliegen, eine Verfahrensrüge nicht auf eine Verletzung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung gestützt werden kann (vgl BSG vom 25.10.2017 - B 1 KR 18/17 B - juris RdNr 5; BSG vom 8.10.1992 - 13 BJ 89/92 - juris RdNr 5).

Hier ist das LSG dem gerichtlichen Sachverständigen für die noch streitige Zeit im Ergebnis sogar gefolgt, ohne sich jedoch auf dessen Gutachten zu stützen. Ob es dem Kläger - unter Zugrundelegung der hier maßgeblichen Rechtsauffassung des LSG - schon vor dem 1.12.2022 unzumutbar gewesen ist, Festbetragsarzneimittel einzusetzen, ist unerheblich. Nach den vorgenannten Maßstäben kann eine Verfahrensrüge nicht auf die Behauptung gestützt werden, die Beweiswürdigung des LSG sei fehlerhaft.

bb) Auch ist nichts für sonstige Verfahrensfehler ersichtlich.

Das LSG hat zwar die ablehnenden Bescheide vollständig aufgehoben. In den Gründen hat das LSG aber eindeutig klargestellt, dass es nur um eine Abänderung der Entscheidungen der Beklagten für die Zukunft geht. Danach ist weder ein Verstoß gegen § 136 Abs 1 Nr 4 SGG (Bestimmtheit der Urteilsformel) noch gegen § 136 Abs 1 Nr 6 SGG(Begründungspflicht; absoluter Revisionsgrund nach § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO) ersichtlich (vgl zu den Anforderungen an einen Verstoß gegen § 136 Abs 1 Nr 6 SGGBSG vom 31.7.2018 - B 5 R 128/17 B - juris; und zur Möglichkeit der Auslegung eines Urteilstenors BSG vom 1.8.2017 - B 13 R 323/16 B - juris RdNr 8).

Dem Kläger dürfte es schließlich auch nicht gelingen, einen entscheidungserheblichen Verstoß gegen das jedermann gewährleistete Recht auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 EMRK) aufzuzeigen. Hierfür gibt es ebenso wenig Anhaltspunkte wie für eine fehlerhafte Anwendung der § 124 Abs 2, § 155 Abs 3 SGG.

2. Die neben dem PKH-Antrag vom Kläger erhobene Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil ist unzulässig, da der Kläger nicht postulationsfähig ist. Vor dem BSG müssen sich die Beteiligten außer im PKH-Verfahren durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen (§ 73 Abs 4 Satz 1 SGG). Der Kläger, der nicht zu dem Kreis der zugelassenen Prozessbevollmächtigten gehört, hat die Beschwerde jedoch selbst eingelegt.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Schlegel

Scholz

Estelmann

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15741799

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