Entscheidungsstichwort (Thema)
Ergänzende Bezugnahme des Gerichts. Erfahrungswert. medizinische Lehrmeinung. Verletzung rechtlichen Gehörs
Orientierungssatz
Nimmt das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung ergänzend zu den Aussagen eines Sachverständigen auf seine Erfahrungen und/oder Literaturzitate Bezug, so handelt es sich hierbei nicht um Tatsachen oder Beweisergebnisse iS von § 128 Abs 2 SGG, zu denen sich die Beteiligten hätten äußern können müssen.
Normenkette
SGG § 128 Abs 2, § 62
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 28.01.1992; Aktenzeichen L 5 U 74/87) |
Gründe
Der Kläger ist mit seinem Begehren, wegen der Folgen des am 28. August 1978 erlittenen Arbeitsunfalles (Verkehrsunfall) Verletztenrente zu erhalten, ohne Erfolg geblieben (Bescheid der Beklagten vom 7. November 1985; Urteile des Sozialgerichts vom 28. April 1987 und des Landessozialgerichts <LSG> vom 28. Januar 1992). Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, ursächlich auf den Unfall zurückzuführende Gesundheitsstörungen seien bereits ab dem 16. September 1978 nicht mehr erweislich. Dies folge insbesondere aus dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Dr. S. Danach fehle es sowohl an Anhaltspunkten für eine Commotio oder Contusio cerebri, als auch für eine Verletzung der Halswirbelsäule und der Arteria vertebralis. Auch unfallbedingte psychogene Störungen oder neurotische Entwicklungen seien nicht erwiesen.
Mit seiner hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, die Revision sei zuzulassen, weil es das LSG verfahrensfehlerhaft unterlassen habe, seinem in der mündlichen Verhandlung vom 28. Januar 1992 gestellten Antrag auf gutachterliche Anhörung von Frau Dr. B. zu folgen (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>). Das LSG hätte diesen Antrag nicht als einen gemäß § 109 SGG gestellten Antrag werten dürfen. Zwar habe der Kläger mit Schriftsatz vom 14. Januar 1992 beantragt, gemäß § 109 SGG ein Privatgutachten durch Frau Dr. B. erstellen zu lassen. Gerade aus dem Umstand, daß er sich bei seinem in der mündlichen Verhandlung vom 28. Januar 1992 gestellten Antrag nicht auf § 109 SGG bezogen habe, folge aber, daß ein Beweisantrag nach § 103 SGG gestellt worden sei. Das LSG hätte sich auch gedrängt fühlen müssen, diesem Antrag stattzugeben; denn bei Vorliegen einer Halswirbelschleuderprellung träten häufig die beim Kläger vorhandenen Dauerbeschwerden auf. Dies werde auch durch das von ihm vorgelegte Urteil des Schweizer Bundesgerichts vom 4. Februar 1991 bestätigt. Das LSG habe dem Kläger auch nicht in ausreichender Weise rechtliches Gehör gewährt. So habe sich das LSG in seinen Gründen nicht nur auf die gutachterlichen Ausführungen von Dr. S. gestützt, sondern auch auf seine Erfahrungen aus Parallelverfahren und auf Zitate aus Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 4. Aufl, und Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 256. Aufl. Diese Erfahrungen und Literaturkenntnisse habe das LSG zuvor nicht in das Verfahren eingeführt. Hätte es dies getan, so hätte der Kläger unter Beweis stellen können, daß eine Commotio cerebri auch ohne die vom LSG genannten Symptome vorliegen könne.
Die Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Das ist hier nicht der Fall. Dabei kann dahinstehen, ob die Rüge, das LSG hätte Frau Dr. B. als Sachverständige hören müssen, nicht bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil es sich bei dem Beweisantrag vom 28. Januar 1992 mit Blick auf den vorangegangenen Schriftsatz vom 14. Januar 1992 um einen Antrag nach § 109 SGG gehandelt hat, auf dessen Nichtbefolgung die Beschwerde gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht gestützt werden kann. Denn das LSG hat hinreichend begründet, weshalb es sich zu keiner weiteren Beweisaufnahme hat gedrängt fühlen müssen. Den mit dem pauschalen Beweisthema, "daß die beim Kläger vorliegenden Beschwerden unfallursächlich sind", versehenen Beweisantrag hat der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf das schweizerische Bundesgerichtsurteil vom 4. Februar 1991 gestellt. Auf den Inhalt dieses Urteils ist das LSG ausführlich eingegangen und hat dargelegt, weshalb diesem Urteil für das anhängige Verfahren keine Bedeutung zukommt, vor allem deshalb nicht, weil in jenem Verfahren - anders als im vorliegenden Fall - ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule erwiesen gewesen sei; zudem sei das Schweizerische Bundesgericht von einer anderen Kausalitätsbeurteilung - dem Erfordernis einer adäquaten, natürlichen Ursächlichkeit im Gegensatz zur Lehre von der wesentlichen Bedingung - ausgegangen.
Der Vorwurf, das LSG habe den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, ist ebenfalls unbegründet.
Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes in der hier in Betracht kommenden konkretisierten Form des § 128 Abs 2 SGG ist nur dann verletzt, wenn das Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wurde, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Um Tatsachen oder Beweisergebnisse handelt es sich indessen nicht, wenn das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung ergänzend zu den Aussagen eines Sachverständigen auf seine Erfahrungen und/oder Literaturzitate Bezug nimmt. Im vorliegenden Fall hat das LSG seine Entscheidung nicht auf eigene Erkenntnisse oder medizinische Lehrmeinungen gestützt, die den Beteiligten zuvor unbekannt waren, sondern hat die zu den erforderlichen Indizien einer Commotio cerebri mitgeteilten Gutachtensergebnisse des Dr. S. lediglich aus seiner kritischen Sicht bestätigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen