Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeitsrente. Zumutbare Verweisungstätigkeit. Rechtliches Gehör
Leitsatz (redaktionell)
- Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs hat unter anderem zum Inhalt, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen haben müssen
- Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung von rechtlichem Gehör ist zu verneinen, wenn nicht alles getan wird, um sich selbst rechtliches Gehör zu verschaffen. Dies ist anzunehmen, wenn sich im Sitzungsprotokoll weder ein entsprechender Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach deren Abschluss, noch ein entsprechender Vortrag in der Beschwerdebegründung findet.
Normenkette
SGG §§ 62, 103, 109, 128, 160 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Juli 2003 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Mit Urteil vom 9. Juli 2003 hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) im Wesentlichen mit folgender Begründung verneint: Beim Kläger liege BU nicht vor. Er sei nach seinem festgestellten Leistungsvermögen zwar nicht mehr in der Lage, seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Fensterbauer zu verrichten, doch könne er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichte bis mittelschwere Arbeiten unter Beachtung weiterer – im Einzelnen aufgeführter – Einschränkungen vollschichtig verrichten. Ob die derzeit ausgeübte Arbeit als qualifizierte Anlerntätigkeit anzusehen sei, wie dies das Sozialgericht (SG) gesehen habe, könne dahinstehen. Als Facharbeiter müsse er sich auf den Einsatz als Hausmeister verweisen lassen. Diese Tätigkeit sei ihm nicht nur gesundheitlich, sondern auch sozial zumutbar, weil die Entlohnung eines Hausmeisters regelmäßig in Lohngruppen für angelernte Arbeiter bzw auch in solchen für Facharbeiter erfolge.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Er beruft sich auf das Vorliegen eines Verfahrensmangels und trägt hierzu im Wesentlichen vor: Vom Berufungsgericht sei ihm nicht ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden, weil ihm keine Möglichkeit eingeräumt worden sei, sich bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem LSG zur Verweisungstätigkeit des Hausmeisters zu äußern. Das SG habe eindeutig entschieden, dass er auf diese Tätigkeit nicht zumutbar verwiesen werden könne. Der Berufungssenat habe erst nach der Urteilsverkündigung in der mündlichen Begründung deutlich gemacht, dass er entgegen der Auffassung des SG die Hausmeistertätigkeit als für ihn – den Kläger – zumutbar ansehe. Zu dieser geänderten Auffassung des Berufungsgerichts habe er sich nicht äußern können. Das Berufungsgericht hätte daher nach der erfolgten Beweisaufnahme die mündliche Verhandlung neu eröffnen und darauf hinweisen müssen, dass ein anderer, im Berufungsverfahren noch nicht erörterter Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht würde. Bei einem entsprechenden Hinweis hätte er unter Berufung auf die Stellungnahme des Landesarbeitsamtes Bayern vom 7. Februar 2002 das Berufungsgericht davon überzeugen können, dass er auf diese Tätigkeit nicht verwiesen werden könne.
Die Beschwerde des Klägers ist nicht begründet, denn der behauptete Verfahrensmangel liegt nicht vor.
Gemäß § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist die Revision nur zuzulassen, wenn (1) die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder (2) das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Entscheidung beruht oder (3) ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
Die vom Kläger geltend gemachte Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62, § 128 Abs 2 SGG; Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫) liegt insbesondere dann vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachkommt (vgl BVerfGE 25, 137, 140) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12). Dementsprechend sind vor allem Überraschungsentscheidungen verboten (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 62 RdNr 8a mwN).
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs hat unter anderem zum Inhalt, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen haben müssen (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5; BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 14). Vor allem in der mündlichen Verhandlung, dem “Kernstück” des gerichtlichen Verfahrens (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33) ist den Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zum gesamten Streitstoff zu äußern. Dies gilt insbesondere, wenn der Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung eine unerwartete Wendung nimmt, indem etwa neue, bislang nicht erörterte Gesichtspunkte auftauchen, oder das Gericht den Beteiligten mit einer geänderten Rechtsauffassung gegenübertritt (BSG, Beschluss vom 23. Oktober 2003 – B 4 RA 37/03 B mwN). Eine Pflicht des Gerichts, die Beteiligten auf alle nur möglichen Gesichtspunkte hinzuweisen, besteht dagegen nicht; es ist auch nicht verpflichtet, seine Rechtsauffassung zu der Rechtssache bzw zu den Erfolgsaussichten zu erkennen zu geben (vgl Meyer-Ladewig, aaO, § 62 RdNr 8f, g). In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass ein Verstoß gegen § 62 SGG nicht geltend gemacht werden kann, wenn der Beteiligte von gegebenen prozessualen Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, keinen Gebrauch gemacht hat (vgl Meyer-Ladewig, aaO, § 62 RdNr 11c).
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze kann dem Berufungsgericht eine Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung von rechtlichem Gehör nicht vorgehalten werden.
Allerdings ist auch nach der vom erkennenden Senat eingeholten Stellungnahme des die Berufungsverhandlung leitenden Vorsitzenden nicht geklärt, ob in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungssenat die Möglichkeit der Verweisung des Klägers auf eine Hausmeistertätigkeit angesprochen worden ist. Der Kläger verneint dieses, während die Vertreterin der Beklagten, die den Termin wahrgenommen hat, darauf verweist, dass von ihr sogar ein – nicht protokollierter – daraufhin zielender Hilfsantrag gestellt worden sei. Der Vorsitzende des Berufungssenats vermag sich diesbezüglich nicht mehr an den genauen Ablauf der mündlichen Verhandlung zu erinnern. Einer weiteren Klärung dieser Frage bedarf es jedoch nicht, denn die Beschwerde ist aus anderen Gründen zurückzuweisen.
Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung von rechtlichem Gehör ist jedenfalls deshalb zu verneinen, weil der Kläger bzw sein Bevollmächtigter nicht alles getan hatte, um sich selbst rechtliches Gehör zu verschaffen. Sein Vorbringen, er habe nach Abschluss der Beweisaufnahme keine Gelegenheit gehabt, sich zur Verweisungstätigkeit des Hausmeisters zu äußern, kann nicht zutreffen. Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Stellungnahme des Vorsitzenden des Berufungssenats war den Beteiligten Gelegenheit gegeben worden, zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung zu nehmen, auch wenn dies nicht nochmals ausdrücklich protokolliert worden war. Für den erkennenden Senat besteht kein Anlass, an der Richtigkeit dieser Erklärung des Vorsitzenden des Berufungssenats zu zweifeln. Die Vertreterin der Beklagten hat die weitere Erörterung der Sach- und Rechtslage nach der erfolgten Beweisaufnahme ebenfalls bestätigt. Der Kläger selbst ist der Erklärung des Vorsitzenden des Berufungssenats zu diesem Punkt in seiner weiteren Stellungnahme vom 12. Mai 2004 nicht entgegengetreten.
Es kann dahinstehen, welche Erörterungen im Einzelnen nach Abschluss der Beweisaufnahme erfolgten. Gerade aufgrund der eigenen Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme durch den Bevollmächtigten des Klägers, wonach die konkret verrichtete Tätigkeit sich für ihn nicht als zumutbare Verweisungstätigkeit darstellte, hätte es nahe gelegen, vom Berufungsgericht – falls dieses nicht bereits von sich aus darauf eingegangen sein sollte – nähere rechtliche Hinweise zur Sach- und Rechtslage zu erbitten. Dass dies geschehen und vom Berufungsgericht ein entsprechender Hinweis etwa verweigert worden ist, lässt sich weder dem Sitzungsprotokoll noch dem Vorbringen des Klägers entnehmen. Auch für die Angabe des Klägers, die mündliche Verhandlung sei vorzeitig geschlossen worden und habe wiedereröffnet werden müssen, ergeben sich keine Anhaltspunkte. Insbesondere findet sich im Sitzungsprotokoll kein entsprechender Antrag des Klägers auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach deren Abschluss, noch hat der Kläger hierzu Entsprechendes in der Beschwerdebegründung vorgetragen.
Das LSG war auch – zur Vermeidung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs – von sich aus nicht gehalten, die Beteiligten auf die von ihm vertretene, vom SG abweichende, Auffassung über die soziale Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeit ausdrücklich vor seiner Entscheidung hinzuweisen. Insoweit handelte es sich nicht um einen neuen Gesichtspunkt, weil diese Verweisungstätigkeit bereits Gegenstand der Erörterung und Entscheidung des erstinstanzlichen Verfahrens war, und die Beteiligten damit rechnen mussten, dass diese Verweisungstätigkeit auch Gegenstand der Überlegungen des Berufungsgerichts werden könnte. Es ergibt sich auch kein Hinweis darauf, dass das LSG sich für die Beteiligten erkennbar zunächst der Ansicht des SG hierzu angeschlossen und seine im Berufungsurteil zum Ausdruck gebrachte Rechtsauffassung während des Berufungsverfahrens geändert hätte. Weder lässt sich Entsprechendes der Akte entnehmen, noch hat der Kläger hierzu Konkretes vorgetragen. Zugunsten des Klägers ist lediglich einzuräumen, dass aufgrund der angeordneten und durchgeführten Beweisaufnahme zur Zumutbarkeit der konkret ausgeübten Tätigkeit der Eindruck entstehen konnte, das LSG halte diese letztere Fragen für entscheidungserheblich. Umso mehr hätte sich der rechtskundig vertretene Kläger jedoch dann nach Abschluss der – nach seiner Ansicht für ihn günstig verlaufenen – Beweisaufnahme veranlasst sehen müssen, die bereits zuvor in das Verfahren eingeführte Hausmeistertätigkeit nochmals anzusprechen, um ggf hierzu weitere Sachaufklärung beantragen zu können.
Nach alledem stellt sich der Ablauf der mündlichen Verhandlung für den erkennenden Senat letztlich so dar, dass der Bevollmächtigte des Klägers es versäumt hatte, von sich aus die Verweisungstätigkeit als Hausmeister noch in die abschließende Erörterung einzubeziehen, um entsprechende rechtliche Hinweise des Berufungsgerichts zu erhalten. Allein sein Vertrauen, die Einschätzung des SG zur Zumutbarkeit dieser Verweisungstätigkeit werde vom LSG geteilt, vermag den Kläger für dieses Versäumnis nicht zu entlasten; als rechtskundig vertretener Beteiligter hätte er sich vielmehr vergewissern müssen, ob das LSG die gleichen Schlüsse wie er selbst aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme für die endgültige Beurteilung der Rechtssache ziehen würde, um erforderlichenfalls auf eine weitere Sachaufklärung zum Ausschluss von etwaigen zumutbaren Verweisungstätigkeiten zu drängen. Letztlich ist die enttäuschte Erwartung, das LSG werde sich seiner eigenen – des Klägers – und der Auffassung des SG in diesem Punkt anschließen, nicht geeignet, einen Verfahrensfehler des Berufungsgerichts zu begründen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen