Verfahrensgang
SG Gotha (Entscheidung vom 20.11.2020; Aktenzeichen S 5 SO 2536/18) |
Thüringer LSG (Urteil vom 15.06.2022; Aktenzeichen L 8 SO 9/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 15. Juni 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte trägt die Kosten auch des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung von Eingliederungshilfe für die Unterbringung in einem Wohnheim in B seit der Aufnahme der Klägerin am 23.6.2017 im Streit.
Die Klägerin leidet ua an Schizophrenie, einer mittelgradigen Intelligenzminderung und einer Sprachstörung; bei ihr sind ein Pflegegrad 5, ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche "BH" und "G" anerkannt. Am 23.6.2017 wurde sie in einem Wohnheim des Beigeladenen für geistig behinderte Menschen (Leistungstyp BLT 3.10) aufgenommen und schloss am 25.1.2018 einen Wohnbetreuungsvertrag mit der Beigeladenen ab. In dem Wohnheim werden erwachsene behinderte Menschen durch Förderung, Begleitung und Assistenz unterstützt; die Einrichtung übernimmt in Kooperation mit beteiligten Diensten und Einrichtungen die Gesamtverantwortung für die vollstationäre Hilfe rund um die Uhr ohne tagesstrukturierende Angebote. Der Beklagte lehnte die Übernahme der Kosten der vollstationären Unterbringung als Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) ab. Ein Verbleib im Wohnheim werde zur Überbrückung der bestehenden Notlage nur als Verhinderungspflege, nicht als Eingliederungshilfe, gewährt (Bescheid vom 1.12.2017; Widerspruchsbescheid vom 8.8.2018). Das Sozialgericht (SG) Gotha hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20.11.2020). Das Thüringer Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten verurteilt, die Kosten für das Wohnen im Wohnheim vom 23.6.2017 bis 31.12.2019 als Leistung der Eingliederungshilfe zu übernehmen. Die Unterbringung sei erforderlich, um die Ziele der Eingliederungshilfe zu erreichen. Der Einschätzung einer vom SG vernommenen Zeugin und der behandelnden Ärzte, wonach im Vordergrund des Bedarfs die aktivierende gute Pflege stehe, die auch in einer stationären Einrichtung nach § 71 SGB XI für behinderte Menschen ergänzt durch einzelne Leistungen der Eingliederungshilfe ohne Weiteres abgedeckt werden könne, folge der Senat nicht, weil er davon überzeugt sei, dass die heilpädagogische Förderung in dem Wohnheim erforderlich sei, um die durch den Aufenthalt der Klägerin im elterlichen Haushalt bedingte Entwicklungsverzögerung und die Hospitalisierung im Verlauf der Jahre teilweise wieder aufzuholen (Urteil vom 15.6.2022).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem bezeichneten Urteil richtet sich die Beschwerde des Beklagten. Er macht grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und eine Divergenz geltend.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen; die geltend gemachten Zulassungsgründe sind nicht in der gebotenen Weise dargelegt bzw bezeichnet worden.
Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Um der Darlegungspflicht zu genügen, muss eine konkrete Frage formuliert, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihr angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) dargelegt werden (vgl nur Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung - ggf sogar des Schrifttums - angeben, welche Rechtsfrage sich stellt, dass diese noch nicht geklärt ist, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfrage aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt (BSG vom 2.3.1976 - 12/11 BA 116/75 - SozR 1500 § 160 Nr 17 und BSG vom 26.6.1975 - 12 BJ 12/75 - SozR 1500 § 160a Nr 7; BSG vom 22.8.1975 - 11 BA 8/75 - SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG vom 25.9.1975 - 12 BJ 94/75 - SozR 1500 § 160a Nr 13; BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31; BSG vom 19.1.1981 - 7 BAr 69/80 - SozR 1500 § 160a Nr 39; BSG vom 9.10.1986 - 5b BJ 174/86 - SozR 1500 § 160a Nr 59 und BSG vom 22.7.1988 - 7 BAr 104/87 - SozR 1500 § 160a Nr 65).
Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Der Beklagte formuliert bereits keine abstrakt-generelle Rechtsfrage zum Inhalt oder Anwendungsbereich einer revisiblen Norm (§ 162 SGG); er führt an keiner Stelle aus, welches gesetzliche Tatbestandsmerkmal welcher bundesrechtlichen Norm mit Blick auf welche Bestimmung ausgelegt werden soll, um die Rechtseinheit zu wahren oder das Recht fortzubilden (vgl BSG vom 29.3.2017 - B 5 RE 12/16 B - juris RdNr 8). Ebenfalls fehlt eine hinreichende, den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Darlegung der abstrakten Klärungsbedürftigkeit. Der Beklagte behauptet lediglich, das Urteil des LSG führe dazu, dass sich "jeder Leistungsberechtigte (…) eine Einrichtung der Eingliederungshilfe aus(sucht) und (…) demzufolge Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe (hat)". Das LSG habe völlig außer Acht gelassen, wie Leistungen der Eingliederungshilfe von Leistungen der Pflege abzugrenzen seien und habe der Einschätzung der Zeugin und der behandelnden Ärzte keine ausreichende Beachtung geschenkt. Damit macht der Beklagte nur die Unrichtigkeit der Entscheidung geltend. Die Frage nach der Richtigkeit der Entscheidung im Einzelfall kann jedoch die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache nicht begründen.
Das Vorbringen genügt auch nicht den gesetzlichen Anforderungen an die Darlegung einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Hierzu hätte der Beklagte entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen müssen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (vgl zB BSG vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat.
Der Beklagte legt schon nicht dar, dass das LSG bewusst einen von der Rechtsprechung des BSG abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa nur das Recht fehlerhaft angewandt hat (sog Subsumtionsfehler; BSG vom 4.3.2020 - B 8 SO 61/19 B - RdNr 7). Er formuliert weder einen konkreten Rechtssatz aus dem Urteil des LSG, noch bezeichnet er, wo er sich im Urteil findet. Zudem wird dem LSG zwar Rechtsprechung des BSG entgegengehalten, aber ohne konkrete Rechtssätze des BSG zu bezeichnen und aufzuzeigen, inwieweit der vom LSG aufgestellte Rechtssatz hierzu in Widerspruch steht. Im Kern macht der Beklagte auch insoweit lediglich die Unrichtigkeit des angegriffenen Urteils geltend, was die Zulassung der Revision aber nicht begründen kann (vgl nur BSG vom 26.6.1975 - 12 BJ 12/75 - SozR 1500 § 160a Nr 7).
Auch soweit man das Vorbringen des Beklagten als Rüge eines Verfahrensmangels auslegen wollte, ist dieser nicht hinreichend bezeichnet. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; BSG vom 24.3.1976 - 9 BV 214/75 - SozR 1500 § 160a Nr 24 und BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36; BSG vom 31.7.2019 - B 8 SO 20/19 B - juris RdNr 9).
Soweit der Beklagte ausführt, er habe beim LSG angeregt, ein Sachverständigengutachten einzuholen, ließe sich eine Verletzung des § 103 SGG auf diese Ausführungen nur stützen, wenn der Beklagte möglicherweise in einem vorbereitenden Schriftsatz enthaltenen Beweisanträge bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem LSG durch entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten hätte (stRspr; vgl BSG vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Wird ein Rechtsstreit - wie hier - ohne mündliche Verhandlung entschieden, tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt der Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG(vgl BSG vom 5.2.2015 - B 13 R 372/14 B - RdNr 10; BSG vom 13.8.2018 - B 13 R 397/16 B - RdNr 15) . Der Beklagte behauptet aber selbst nicht, einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag unter konkreter Angabe des Beweisthemas gestellt und zum maßgeblichen Zeitpunkt noch aufrechterhalten zu haben.
Mit der Rüge, das LSG habe bei seiner Entscheidung der Aussage der Zeugin und den Einschätzungen der behandelnden Ärzte nicht ausreichend Beachtung geschenkt, ist der Beklagte ausgeschlossen, soweit darin der Vorwurf einer mangelhaften Beweiswürdigung durch das LSG liegen sollte; denn auf die Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach das Gericht (hier das LSG) nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet, kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nicht gestützt werden. Ein Verstoß gegen Denkgesetze könnte nur vorliegen, wenn das LSG ausgehend von seiner Rechtsauffassung zu einer bestimmten Frage aus den gesamten rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten nur eine Folgerung hätte ziehen können, jede andere nicht folgerichtig "denkbar" ist und das Gericht die allein in Betracht kommende nicht gesehen hat (vgl nur BSG vom 11.6.2003 - B 5 RJ 52/02 R - juris RdNr 13 mwN). Ausführungen, weshalb diese Voraussetzungen vorliegen sollen, fehlen gänzlich (BSG vom 31.7.2019 - B 8 SO 20/19 B - juris RdNr 12).
Die Entscheidung ergeht nach § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 Satz 3 SGG ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Krauß Luik Bieresborn
Fundstellen
Dokument-Index HI15581831 |