Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Zurückweisung der Berufung durch Beschluss. Ermessensentscheidung. Ermessensfehler. grobe Fehleinschätzung. Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention. fehlerhafte Gerichtsbesetzung. Richterbank. absoluter Revisionsgrund
Orientierungssatz
1. Die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gem § 153 Abs 4 S 1 SGG zurückzuweisen, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung überprüft werden (vgl BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R = SozR 3-1500 § 153 Nr 13, vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B = SozR 4-1500 § 153 Nr 7 und vom 8.10.2010 - B 4 AS 59/10 B).
2. Unter Beachtung des nach Art 6 Abs 1 MRK anerkannten Rechts auf (mindestens) eine mündliche Verhandlung ist die Möglichkeit, nach § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Entsprechend gilt der Grundsatz, dass von einer Verfahrensweise nach § 153 Abs 4 SGG in Fallgestaltungen abzusehen ist, in denen ein Verfahrensbeteiligter noch nicht die Möglichkeit hatte, sein Anliegen persönlich vorzutragen (vgl BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B = SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 7 und vom 14.4.2010 - B 8 SO 22/09 B).
3. Das Sozialgericht handelt ermessenswidrig, wenn es durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet, weil es auch bei Vorliegen einer Einverständniserklärung der Beteiligten im Ermessen des Gerichts liegt, ob es dennoch eine mündliche Verhandlung durchführt (vgl BSG vom 21.2.1989 - 1 RA 65/88 und vom 22.9.1977 - 10 RV 79/76 = BSGE 44, 292, 294 = SozR 1500 § 124 Nr 2).
4. Eine Verletzung des § 153 Abs 4 S 1 SGG führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes gem § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 153 Abs. 4 S. 1, §§ 33, 202; ZPO § 547 Nr. 1; MRK Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. November 2010 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Streitig sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wegen eines von dem Kläger geltend gemachten Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung für die Zeit vom 1.3.2009 bis 31.8.2009.
Der Beklagte bewilligte dem Kläger für diesen Zeitraum weiterhin die Regelleistung sowie Kosten für Unterkunft und Heizung; die Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung lehnte er jedoch ab (Bescheid vom 12.2.2009; Widerspruchsbescheid vom 30.3.2009). Nachdem der Kläger auf Nachfrage des Gerichts mitgeteilt hatte, dass er wegen der Kosten und "eindeutiger miserabler Verfassung seiner Gesundheit" auf eine mündliche Verhandlung verzichte, hat das SG die Klage ohne mündliche Verhandlung abgewiesen (Urteil vom 10.6.2010). Im Berufungsverfahren hat die zuständige Berichterstatterin den Kläger mit Schreiben vom 19.10.2010 darauf hingewiesen, dass der Senat nach den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen keinen Anlass zu weiteren Beweiserhebungen von Amts wegen sehe. Nach § 153 Abs 4 SGG könne er die Berufung auch ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zurückweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Diese Verfahrensweise sei aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes beabsichtigt. Der Kläger hat daraufhin unter Hinweis auf die beim BSG anhängigen Verfahren B 4 AS 100/10 R und B 4 AS 138/10 R angeregt, die Entscheidung zurückzustellen (Schreiben vom 17.11.2010). Mit Beschluss vom 25.11.2010 hat das LSG Baden-Württemberg die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Urteil des SG vom 10.6.2010 sei ohne mündliche Verhandlung ergangen. Mit Schreiben vom 24.6.2009 habe er sich hiermit einverstanden erklärt, sei aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht anwaltlich vertreten gewesen. Wäre er darüber belehrt worden, dass eine mündliche Verhandlung für ihn nicht mit Kosten verbunden sei, hätte er auf deren Durchführung bestanden. Seine Prozessbevollmächtigte habe gegenüber dem SG mit Schriftsatz vom 28.5.2010 angezeigt, dass er nunmehr anwaltlich vertreten sei. Ausweislich der richterlichen Verfügung vom 10.6.2010 sei diese Vertretungsanzeige jedoch erst zu den Akten gelangt, als der Rechtsstreit erstinstanzlich bereits entschieden worden sei. Auch der Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 25.11.2010 sei ohne mündliche Verhandlung ergangen. Nachdem er mit Schriftsatz vom 17.11.2010 angeregt habe, die beabsichtigte Entscheidung wegen anhängiger Verfahren beim BSG zurückzustellen, habe das LSG hierzu keine Stellung mehr genommen, sondern durch den streitgegenständlichen Beschluss entschieden. Er habe aber darauf vertrauen dürfen, dass es zu einem weiteren richterlichen Hinweis kommen würde, falls das LSG an der angekündigten Verfahrensweise festhalte. Die Entscheidung des LSG beruhe auf diesem Verfahrensfehler.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor, weil der Beschluss des LSG unter Verletzung des § 153 Abs 4 SGG und damit in nicht vorschriftsmäßiger Besetzung (§ 33 SGG) ergangen ist. Das LSG durfte nicht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne ehrenamtliche Richter entscheiden, sondern hätte aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden müssen.
Nach § 153 Abs 4 SGG kann das LSG, außer in den Fällen des § 105 Abs 2 Satz 1 SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Voraussetzung für ein Vorgehen des LSG nach § 153 Abs 4 SGG ist also neben den Erfordernissen der Einstimmigkeit und der Ausübung des eingeräumten Ermessens, dass die Tatbestandsvoraussetzung "mündliche Verhandlung nicht erforderlich" erfüllt ist. Zwar steht die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG zurückzuweisen, im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung überprüft werden (BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13; BSG Beschluss vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 7; BSG Beschluss vom 8.10.2010 - B 4 AS 59/10 B). Insofern kann allein der Vortrag des Klägers, er habe auf das Schreiben der Berichterstatterin beim LSG angeregt, wegen der beim BSG anhängigen Verfahren zum ernährungsbedingten Mehrbedarf die Entscheidung zurückzustellen, die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung nicht begründen. Die Einschätzung des LSG, nach § 153 Abs 4 SGG entscheiden zu können, beruht jedoch deshalb auf einer groben Fehleinschätzung, weil es nicht ausreichend beachtet hat, dass (bereits) das SG ohne mündliche Verhandlung entschieden hatte, obwohl dies nicht zulässig war. Es liegt daher eine Konstellation vor, in der ausnahmsweise ein Verfahrensmangel des sozialgerichtlichen Klageverfahrens für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG bedeutsam bleibt.
Bei der Beurteilung, ob eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, ist zu beachten, dass diese das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ist (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33) und den Zweck verfolgt, dem Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihm den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Unter Beachtung der prozessrechtlichen Garantie des Art 6 Abs 1 EMRK (vgl hierzu auch Hauck in Hennig, SGG, § 124 RdNr 6, Stand September 2010) ist die Möglichkeit, nach § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Entsprechend gilt der Grundsatz, dass von einer Verfahrensweise nach § 153 Abs 4 SGG in Fallgestaltungen abzusehen ist, in denen ein Verfahrensbeteiligter noch nicht die Möglichkeit hatte, sein Anliegen persönlich vorzutragen (Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 7; BSG Beschluss vom 14.4.2010 - B 8 SO 22/09 B - RdNr 6).
Zwar ist eine Ausnahme von diesem Grundsatz für möglich gehalten worden, wenn in erster Instanz ein Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung vorliegt und ein Widerruf der Erklärung mangels wesentlicher Änderung der Verfahrenslage nicht in Betracht kommt (vgl BSG Beschluss vom 14.10.2005 - B 11a AL 45/05 B; BSG Beschluss vom 16.2.2007 - B 6 KA 60/06 B - RdNr 10). Es ist bereits zweifelhaft, ob die Mitteilung des Klägers gegenüber dem SG vom 24.6.2009 nach Eingang des Schreibens der neu beauftragten Bevollmächtigten des Klägers vom 28.5.2010 am 31.5.2010 noch als wirksame Einverständniserklärung angesehen werden konnte (vgl zum "Verbrauch" einer Einverständniserklärung bei einer Änderung der Prozess-, Beweis- oder Rechtslage BSG Urteil vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R - SozR 3-1500 § 124 Nr 4 S 8; BSG Beschluss vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - RdNr 13), weil die Bevollmächtigte mit diesem Schreiben ihre Interessenvertretung des Klägers unter Beifügung einer Originalvollmacht angezeigt und eine weitere Begründung der Klage angekündigt hat. Gleichzeitig bat sie um Akteneinsicht in die Verwaltungs- sowie die Gerichtsakte.
Das SG hat aber jedenfalls ermessenswidrig gehandelt, indem es am 10.6.2010 durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, weil es auch bei Vorliegen einer Einverständniserklärung der Beteiligten im Ermessen des Gerichts liegt, ob es dennoch eine mündliche Verhandlung durchführt (BSG Urteil vom 21.2.1989 - 1 RA 65/88 - SozSich 1989, 313; BSGE 44, 292, 294 = SozR 1500 § 124 Nr 2). Das Gericht muss sein Ermessen dahin ausüben, trotz vorliegender Einverständniserklärung aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden, wenn eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach der Verfahrenslage höherrangige Prozessgrundrechte (zB den Anspruch auf rechtliches Gehör) verletzen würde (Hauck in Hennig, SGG, § 124 RdNr 43, Stand September 2010). Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Umstand, dass das Schreiben der Bevollmächtigten des Klägers vom 28.5.2010 trotz Eingang am 31.5.2010 nach dem Inhalt des Vermerks des Kammervorsitzenden in erster Instanz vom 10.6.2010 erst nach der Entscheidung vom gleichen Tag zu den Akten gelangte, begründet ein Organisationsverschulden des Gerichts. Bei ordnungsgemäßer Prozessführung hätte das SG der Prozessbevollmächtigen Akteneinsicht gewähren und ausreichend Zeit zur Einarbeitung in den Sach- und Streitstand sowie für den bereits angekündigten ergänzenden Sachvortrag einräumen müssen. Mit der - ohne weiteren Hinweis an die Bevollmächtigte - erfolgten Entscheidung ohne mündliche Verhandlung hat das SG pflichtwidrig gehandelt. Unter Berücksichtigung dieses Verfahrensverstoßes des SG durfte das LSG nicht von dem Grundsatz, dass im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens zumindest eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist, abweichen.
Die angefochtene Entscheidung kann auf dem festgestellten Verfahrensmangel beruhen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, bei einem Verstoß gegen § 153 Abs 4 SGG wegen der fehlerhaften Besetzung der Richterbank einen absoluten Revisionsgrund (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO) anzunehmen, bei dem nähere Ausführungen zur Kausalität entbehrlich sind (vgl BSG Urteil vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 13; BSG Beschluss vom 29.8.2006 - B 13 R 37/06 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 10 mwN; BSG Beschluss vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - RdNr 17). Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen