Orientierungssatz

Dem Großen Senat des BSG wird nach § 42 SGG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

Werden sogenannte kleine Dauerrenten, welche nach § 604 RVO abgefunden sind, durch § 1278 RVO über den Zeitraum hinaus erfaßt, welcher dem Faktor entspricht, der dem Abfindungsbetrag zugrundeliegt?

 

Normenkette

RVO §§ 604, 1278 Abs 2 S 1 Nr 1; RKG § 75 Abs 2 S 1 Nr 1

 

Tatbestand

In dem anhängigen Verfahren erstrebt der Kläger die Zurücknahme des Bescheides der Beklagten vom 24. September 1987, soweit darin bei der Berechnung des vorgezogenen Knappschaftsruhegeldes eine abgefundene Verletztenrente von 20 vH aus der gesetzlichen Unfallversicherung fortlaufend angerechnet wird.

Der gegen den Bescheid vom 24. September 1987 erhobene Widerspruch war erfolglos (Bescheid vom 15. Mai 1988). Ein Rechtsmittel wurde nicht eingelegt. Durch den hier angefochtenen Bescheid vom 12. August 1988 wies die Beklagte das Begehren des Klägers auf Neuberechnung des Knappschaftsruhegeldes ab, weil sie das Recht in dem Bescheid vom 24. September 1987 zutreffend angewendet habe. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 1988).

Das Sozialgericht (SG) hat die gegen diese Bescheide erhobene Klage durch Urteil vom 24. Mai 1989 abgewiesen, weil die Voraussetzungen des § 44 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch - (SGB X) nicht vorlägen. Die Beklagte habe das Recht richtig angewendet. Die dagegen eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 29. März 1990 zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Die Beklagte sei zutreffend davon ausgegangen, daß die knappschaftliche Rente gemäß § 75 Abs 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) zum Teil ruhe. Der Kläger habe bis Ende Januar 1972 eine Verletztendauerrente in Höhe von 20 vH der Vollrente erhalten. Diese sei danach abgefunden worden. Das Abfindungskapital habe sich aus der mit einem Kapitalwert von 16,5 vervielfachten Jahresrente errechnet. Diese Rente gelte nach § 75 Abs 2 Satz 3 RKG bis zum Tode des Versicherten als fortlaufend. Sie führe daher gemäß § 75 Abs 1 RKG zum teilweisen Ruhen der knappschaftlichen Rente. Zwar werde bei der Abfindung von kleinen Verletztenrenten nach § 604 der Reichsversicherungsordnung (RVO) kein Zeitraum festgelegt, für welchen die Abfindung bestimmt sei. Da jedoch der Anspruch auf die Unfallrente auf Lebenszeit entfalle und die Rente nicht wiederauflebe, sei die Abfindung für diesen gesamten Zeitraum bestimmt. Das Abfindungskapital werde nach versicherungsmathematischen Grundsätzen festgelegt. Hieraus dürfe nicht gefolgert werden, daß die Unfallrente nur für den Zeitraum als fortlaufend angesehen werden könne, welcher dem Faktor entspreche, mit welchem die Jahresrente vervielfältigt worden sei. Es ergebe sich kein Hinweis darauf, daß der Gesetzgeber die auf Lebenszeit abgefundene sogenannte kleine Dauerrente von der Ruhensanordnung des § 75 RKG habe ausnehmen wollen. Mehrfache Änderungen und Ergänzungen der Vorschrift des § 75 RKG hätten nicht zu einer entsprechenden Veränderung der geltenden Regelung geführt. Ein Verfassungsverstoß liege nicht vor, weil die in § 75 Abs 1 und Abs 2 RKG getroffene Regelung nicht willkürlich sei. Die Abfindung einer Verletztenrente sei für beide Seiten ein Risikogeschäft. So werde nach der Abfindung durch den Versicherungsträger nicht mehr überprüft, ob der Anspruch auf die Rente wegen einer Änderung der Verhältnisse zwischenzeitlich weggefallen sei; der Versicherungsträger mache bei einem frühen Tod des Versicherten ein "schlechtes Geschäft". Der Rentenempfänger würde im Falle langer Lebensdauer von einer laufenden Verletztenrente den größeren Vorteil ziehen. Mit dem Kläger habe auf seinen Abfindungsantrag hin ein eingehendes Aufklärungsgespräch stattgefunden.

Die Revision ist der Auffassung, abgefundene kleine Dauerrenten unterlägen generell nicht der Anrechnungsvorschrift des § 75 RKG. Allenfalls dürfe die Abfindung für denjenigen Zeitraum zum Ruhen der knappschaftlichen Rente führen, welcher sich aus dem Vervielfältigungsfaktor für die Jahresrente ergebe, so daß im vorliegenden Falle von einer Laufzeit der Unfallrente von 16,5 Jahren auszugehen sei. Der Kläger habe demgemäß nach dem Ablauf von 16,5 Jahren vom Beginn des Abfindungszeitraumes an (Februar 1972) Anspruch auf die ungekürzte Rente von der Beklagten. § 75 Abs 2 Satz 3 RKG sei auf die kleinen Dauerrenten nicht anzuwenden, weil der Gesetzgeber in § 604 RVO keinen Zeitraum ausdrücklich benannt habe, für welchen die Rente bestimmt sei. Der Gesetzgeber habe in § 75 Abs 2 Satz 3 RKG die Fiktion der Fortzahlung von Renten nur vorgesehen, wenn eine entsprechende ausdrückliche Bestimmung für den Abfindungszeitraum einer Rente getroffen sei. In § 604 RVO fehle eine solche Regelung; es sei nicht ausdrücklich bestimmt worden, daß die Rente auf Lebenszeit abgefunden werde. Vom Ruhen eines Teiles der Knappschaftsrente könne der Gesetzgeber nur ausgegangen sein, wenn im Falle einer Abfindung wenigstens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, daß aus der Abfindung ein vermögensrechtlicher Vorteil noch zu dem Zeitpunkt vorhanden sei, zu dem die Ruhensbestimmung Anwendung finden solle. Bei einer Abfindung nach § 604 RVO sei es dem Gesetzgeber aber völlig gleichgültig, wie der Abgefundene den Kapitalbetrag anlege. Demzufolge könne nicht angenommen werden, daß nach Ablauf des Zeitraumes, der dem Vervielfältigungsfaktor der Jahresrente entspricht, überhaupt noch ein Vorteil auf Seiten des Versicherten vorhanden sei. Auf eine im Zeitpunkt der Abfindung vorhandene Risikosituation könne im Rahmen der Ruhensvorschrift nicht abgestellt werden. Bei der Abfindung einer kleinen Dauerrente könne ein vermögensrechtlicher Vorteil ohnehin nicht unterstellt werden. Es biete sich an, die sich aus dem Kapitalwert ergebenden Jahre zugrunde zu legen, mit welchem die Jahresrente bei der Abfindung vervielfältigt worden sei. Das bedeute, daß sich der Ruhenszeitraum im vorliegenden Falle auf 16,5 Jahre, vom Ende der Dauerrente an gerechnet, erstrecke.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das

Land Nordrhein-Westfalen vom 29. März 1990 und

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen

vom 24. Mai 1989 aufzuheben, sowie die Beklagte

unter Änderung des Bescheides vom

24. September 1987 und unter Aufhebung der Bescheide

vom 12. August 1988 und 31. Oktober

1988 zu verurteilen, ihm Knappschaftsruhegeld

ohne Anwendung von Ruhensbestimmungen wegen

Anrechnung einer abgefundenen Verletztenrente

aus der gesetzlichen Unfallversicherung spätestens

ab 1. Juli 1988 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Senat hat mit Beschluß vom 18. Dezember 1990 dem 5. Senat die Frage vorgelegt, ob er an der in dem Urteil vom 25. April 1990 - 5 RJ 53/89 - vertretenen Rechtsansicht festhält, daß sog kleine Dauerrenten, welche nach § 604 RVO abgefunden werden, durch § 1278 RVO nicht über den Zeitraum hinaus erfaßt sind, welcher dem Faktor entspricht, der dem Abfindungsbetrag zugrundeliegt. Der 5. Senat hat am 27. Februar 1991 beschlossen, er halte an der im Urteil vom 25. April 1990 - 5 RJ 53/89 - vertretenen Rechtsauffassung fest, daß sog kleine Dauerrenten, welche nach § 604 RVO abgefunden werden, durch § 1278 RVO nicht über den Zeitraum hinaus erfaßt sind, welcher dem Faktor entspricht, der dem Abfindungsbetrag zugrunde liegt.

 

Entscheidungsgründe

Der erkennende Senat beabsichtigt, die Revision des Klägers zurückzuweisen. Er hat keinen Anspruch auf die Zurücknahme des rechtsverbindlichen Bescheides der Beklagten vom 24. September 1987 idF des Widerspruchsbescheides vom 15. März 1988. Der Bescheid vom 12. August 1988 idG des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 1988 ist nach der Auffassung des erkennenden Senats rechtmäßig. SG und LSG haben nach der Überzeugung des erkennenden Senats zutreffend entschieden, daß die Knappschaftsrente des Klägers in diesen Bescheiden richtig errechnet ist, weil die Rente in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang gemäß § 75 RKG ruht, so daß die Voraussetzungen, unter denen die Beklagte die genannten Bescheide gemäß § 44 Abs 1 SGB X hätte zurücknehmen dürfen, nicht vorliegen.

An einer Entscheidung in diesem Sinne sieht sich der Senat durch das Urteil des 5. Senats vom 25. April 1990 - 5 RJ 53/89 - gehindert. Darin hat der 5. Senat den Rechtssatz aufgestellt, daß sog kleine Dauerrenten, welche nach § 604 RVO abgefunden werden, durch § 1278 RVO jedenfalls nicht über den Zeitraum erfaßt sind, welcher dem Faktor entspricht, der dem Abfindungsbetrag zugrundeliegt. Die vorgelegte Rechtsfrage ist also entscheidungserheblich. Sie ist mit der vom 5. Senat entschiedenen Rechtsfrage identisch.

Der Ansicht des 5. Senats schließt sich der erkennende Senat nicht an. Er vermag nicht zu erkennen, warum andernfalls "ein nicht vertretbares Ergebnis" erzielt werden sollte. Wenn überhaupt vom Ergebnis her argumentiert wird, so läßt sich leicht erkennen, daß die Rechtsauffassung des 5. Senats dem Sinn des Gesetzes nicht entsprechen kann. Sie läuft auf folgendes Ergebnis hinaus: Empfänger kleiner Dauerrenten können auf ihren Antrag zinslos und ohne das Risiko der Rückzahlung einen Kapitalbetrag ähnlich einem Vorschuß auf ihre Rente erhalten, welcher dem Vielfachen ihrer laufenden Jahresrente entspricht. Da die Höhe der Zahlung von dem Zeitraum abhängig ist, für welchen die Rente ersetzt wird, erlischt zwar der Verletztenrentenanspruch auf Lebenszeit. Im Gegensatz zu nicht abgefundenen Renten führt die Abfindung allenfalls zum (teilweisen) Ruhen einer Rentenleistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Läßt der Verletzte sich die Abfindung vernünftigerweise mit dem Faktor zahlen, welcher der Zeitspanne bis zu dem Beginn seiner voraussichtlichen Rentenberechtigung in der gesetzlichen Rentenversicherung entspricht, soll ein Ruhen überhaupt nicht mehr eintreten. Der auf Lebenszeit abgefundene Verletzte erhält nach der Rechtsmeinung des 5. Senats die ungekürzte Rente; allen anderen Rentenempfängern wird die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung um den Ruhensbetrag gekürzt ausgezahlt. Zur Vermeidung einer derartigen Ungleichbehandlung war im Schrifttum von Anfang an klar: die Abfindung einer Rente kann keine andere Wirkung haben als das Nebeneinander von zwei Renten, da sich sonst der Verletzte ungerechtfertigte Vorteile in der Rentenversicherung verschaffen könnte (Linthe BG 1963, 5, 39).

Aber nicht nur das Ergebnis, welches der 5. Senat in seinem Urteil vom 25. April 1990 erzielt hat, erscheint dem erkennenden Senat nicht hinnehmbar. Er berücksichtigt vor allem nicht die Systematik des Abfindungsrechts. Er gibt darüber hinaus dem Verordnungsgeber ein Gewicht, welches größer ist als das des Gesetzgebers.

Nach § 75 Abs 1 RKG - diese Vorschrift entspricht § 1278 Abs 1 RVO - ruht ein Teil der knappschaftlichen Rente, wenn sie mit einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusammentrifft und die übrigen Voraussetzungen dieser Norm gegeben sind. Die durch § 75 Abs 1 RKG gewollte und herbeigeführte Beschneidung des Rentenanspruchs dient dazu, den Doppelbezug von Leistungen mit gleicher Zwecksetzung in unangemessenem Rahmen zu vermeiden (BVerfG SozR 2200 § 1278 Nr 11 mit zahlreichen Nachweisen aus der Verfassungsrechtsprechung; BSG SozR 2200 § 1278 Nr 14 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG-). Die Knappschaftsrente ist ebenso wie die Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zur Sicherung des Lebensunterhalts des Versicherten bestimmt (s im einzelnen BSG Urteil vom 8. Oktober 1987 - 4b RV 25/86 -). Auf dieser einheitlichen Zielsetzung beruht die Ruhensanordnung des § 75 Abs 1 RKG.

Der in diesem Rechtsstreit zu beurteilende Sachverhalt ist allerdings durch die Besonderheit gekennzeichnet, daß dem Kläger neben der in dem angefochtenen Bescheid gewährten Knappschaftsrente eine Verletztenrente aus der Unfallversicherung nicht (mehr) gezahlt wird, weil sie abgefunden wurde. Diesem besonderen Umstand hat der Gesetzgeber in § 75 Abs 2 RKG Rechnung getragen. Darin ist bestimmt, daß das Ruhen der knappschaftlichen Rente auch für den Fall eintritt, daß anstelle der Verletztenrente eine Abfindung gewährt worden ist. Diese rechtliche und tatsächliche Besonderheit des vorliegenden Rechtsstreits ist unter den Beteiligten im Grunde nicht streitig. Vielmehr geht es ihnen ausschließlich um die Beantwortung der Frage, wie lange das Ruhen der Knappschaftsrente dauert. Hierzu heißt es in § 75 Abs 2 Satz 1 RKG, daß das Ruhen eintritt, "soweit" die Abfindung an die Stelle der Verletztenrente getreten ist (§ 75 Abs 2 Nr 1 RKG). In dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit kommt ein Ruhen der knappschaftlichen Rente demgemäß nur in Betracht, wenn die dem Kläger früher gewährte und im Jahre 1972 abgefundene Verletztenrente auch noch für die Zeit ab Zahlung der Knappschaftsrente fiktiv als fortlaufend gezahlt anzusehen ist. Das ist nach der Überzeugung des erkennenden Senats der Fall.

Die Frage, ob eine abgefundene Verletztenrente als fortlaufende Leistung der gesetzlichen Unfallversicherung angesehen werden muß, ist in erster Linie nach unfallversicherungsrechtlichen Vorschriften zu beantworten. Nur aus ihnen ergeben sich Grund und Wirkung einer Abfindung. Die Ruhensbestimmung des § 75 RKG ist lediglich ein Reflex auf die Abfindungsregelungen der §§ 604 ff RVO.

Grundlage der Abfindung der Verletztenrente durch Bescheid vom 19. Januar 1972 war § 604 RVO. Danach konnte der Unfallversicherungsträger die dem Kläger zustehende "kleine" Verletztenrente mit einem dem Kapitalwert der Rente entsprechenden Betrag abfinden. Das ist hier auf Antrag des Klägers und nach ausdrücklicher Belehrung über die Rechtsfolgen geschehen. Die Abfindung des Rentenanspruchs des Klägers nach dieser Vorschrift erfolgte ohne zeitliche Beschränkung, also auf Lebenszeit. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus § 605 RVO. Danach wird im Falle einer nachträglichen Verschlimmerung der Unfalleiden eine Unfallrente nur insoweit gezahlt, als sie durch die eingetretene Verschlimmerung begründet ist; für den abgefundenen Rentenanspruch lebt die Verletztenrente nicht wieder auf. Die Kapitalabfindung nach den §§ 604 und 605 RVO ist eine besondere Form der Zahlung der Verletztenrente bis zum Lebensende (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd III, S 594). Damit zeigt sich, daß die Abfindung einer "kleinen" Dauerrente nach § 604 RVO keine Rentenkapitalisierung ist, wie anscheinend Funk (Kasseler Kommentar, SVRecht RdNr 7 zu § 1278 RVO) meint, sondern vielmehr eine echte Kapitalabfindung mit der beschriebenen Wirkung (Brackmann, aaO, S 594a). Schon aus dem genannten Grunde verbietet es sich, die Ruhensbestimmung des § 75 RKG von irgend einem Zeitpunkt an nicht mehr anzuwenden, etwa weil die "kapitalisierte Rente" inzwischen verbraucht sei. Die Verletztenrente wird nach § 604 RVO sowohl der Höhe nach als auch zeitlich in vollem Umfang abgefunden. An ihre Stelle tritt ein Kapitalwert.

Das LSG ist also zutreffend davon ausgegangen, daß die Unfallrente des Klägers für seine gesamte Lebenszeit als abgefunden und demgemäß als fortlaufend gezahlt anzusehen ist. Soweit die Revision mit dem 5. Senat meint, es fehle an einem Zeitraum, für den die Abfindung bestimmt sei (§ 75 Abs 2 Satz 3 RKG), ist ihr insoweit zuzustimmen, als der Endpunkt dieses Zeitraumes im Zeitpunkt der Rentenabfindung terminlich nicht feststellbar ist, weil dies nach der Natur der Sache nicht möglich ist. Der Tod des abgefundenen Verletzten ist jedoch der Zeitpunkt, bis zu welchem die Kapitalabfindung einen Ausgleich für den Wegfall des Rentenanspruchs gewährt. Demgegenüber setzt der 5. Senat den Zeitraum, für den die Abfindung bestimmt ist, mit einem "bestimmten Zeitraum" gleich. Diese sprachliche Interpretation ist indes nicht überzeugend. Ebenso wie eine Abfindung können - sprachlich betrachtet - auch andere Leistungen für einen unbestimmten Zeitraum "bestimmt" sein, also für einen Zeitraum mit einem noch nicht feststehenden Anfangs- oder Endpunkt. Philologisch ergibt sich daher nichts, was gegen die Auffassung des erkennenden Senats sprechen könnte.

Da die Abfindung bis zum Tode des Verletzten an die Stelle der Verletztenrente tritt, ist sie "insoweit" nach § 75 Abs 2 Satz 1 RKG als fortlaufend anzusehen; für diesen Zeitraum führt die Abfindung demgemäß zum Ruhen der knappschaftlichen Rente in den Grenzen des § 75 Abs 1 RKG.

Nach der Überzeugung des erkennenden Senats ist die besondere Bestimmung des § 75 Abs 2 Satz 3 RKG eine Folge der in § 609 RVO getroffenen Regelung für die Abfindung großer Dauerrenten. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen.

Durch das Wort "soweit" in der allgemeinen Vorschrift des § 75 Abs 2 Satz 1 RKG wird der Umstand gekennzeichnet, daß das Ruhen der knappschaftlichen Rente infolge der Abfindung einer Verletztenrente Einschränkungen unterliegt. Es tritt sozusagen spiegelbildlich zum Umfang der gewährten Abfindung ein, soweit nämlich die Verletztenrente der Höhe nach und zeitlich ersetzt ist. Der Terminus "insoweit" erhält seine Bedeutung infolge der Regelung des § 609 RVO. Diese die Abfindung "großer" Dauerrenten betreffende Vorschrift bestimmt zunächst, daß die Abfindung die Verletztenrente "bis zur Hälfte umfassen" kann. Die dadurch gegebene unterschiedliche Regelungsmöglichkeit bezüglich der Höhe des abgefundenen Rententeiles erfordert im Rahmen der Ruhensanordnung die Klarstellung, daß nur ein entsprechendes Ruhen der knappschaftlichen Rente eintritt, "soweit" nämlich die Abfindung an die Stelle der Verletztenrente getreten ist.

Bedeutsamer für den hier zur Entscheidung stehenden Rechtsstreit ist die zeitliche Begrenzung, welche in § 75 Abs 2 Satz 1 RKG für den Fall der Rentenabfindung festgelegt ist. Auch "insoweit" sollen Abfindung der Verletztenrente und Ruhen der Knappschaftsrente korrespondieren. Die "Anrechnung" der Verletztenrente soll in demselben zeitlichen Rahmen erfolgen wie ihre Abfindung reicht. Diese Übereinstimmung zwischen dem Wegfall des Anspruchs auf Verletztenrente und der Festsetzung der Abfindung bedurfte in zeitlicher Hinsicht einer ausdrücklichen Regelung, weil § 609 Abs 2 RVO zu unterschiedlicher Auslegung Anlaß gibt.

Nach § 609 Abs 2 RVO ist die Abfindung auf einen Zeitraum von 10 Jahren beschränkt. Als Abfindungssumme wird jedoch (nur) das Neunfache des der Abfindung zugrunde liegenden Jahresbetrages der Rente gezahlt. Bei dieser Regelung wäre zweifelhaft, ob die Ruhensbestimmungen neun oder zehn Jahre lang ab dem Wegfall der Unfallrente angewendet werden sollen, wenn es den 3. Satz von § 75 Abs 2 RKG nicht gäbe. Die Ruhensanordnung könnte ohne diese Vorschrift als für die Dauer von neun oder auch für die Dauer von zehn Jahren bestimmt sein. Insoweit bedurfte es der Regelung in § 75 Abs 2 Satz 3 RKG. Der Gesetzgeber hat entschieden, daß das Ruhen nicht entsprechend dem bei der Abfindung angesetzten Faktor (9) eintritt, sondern vielmehr für den Zeitraum, für den die Abfindung bestimmt ist, also nicht für die Dauer von neun, sondern von zehn Jahren. § 75 Abs 2 Satz 3 RKG enthält eine Regelung des Inhalts, daß der bei der Abfindung berücksichtigte Faktor für die Ruhensvorschriften unerheblich sein soll. Vielmehr kommt es allein darauf an, in welchem zeitlichen Rahmen der Rentenanspruch infolge der Abfindung ersetzt wird.

Für die Abfindung der kleinen Dauerrente kann dies nicht anders sein. Im hier zu entscheidenden Falle trat die Abfindung (nach § 604 RVO), wie oben dargelegt ist, zeitlebens an die Stelle der Verletztenrente. Eine Unsicherheit gibt es für den Fall der Kapitalabfindung nach § 604 RVO insoweit nicht als außer Zweifel steht, daß die Abfindung bis zum Tode des Versicherten an die Stelle der Verletztenrente tritt, § 75 Abs 2 Satz 1 RKG. § 75 Abs 2 Satz 3 RKG ist die Reaktion des Gesetzgebers auf seine Regelung der Abfindung in § 609 RVO. Auch hier fallen der Zeitraum, für den die Abfindung gezahlt wird, und der Faktor, mit welchem die laufende Jahresrente multipliziert wird, auseinander. Dies macht deutlich, daß es sich bei dem Faktor, mit welchem die Jahresrente multipliziert wird, nicht um einen Zeitfaktor handelt. Vielmehr ergibt er sich als das Ergebnis der durch das Gesetz- bzw den Verordnungsgeber vorgenommenen und beabsichtigten Risikoverteilung. Dementsprechend ist auch der gemäß § 604 RVO durch Rechtsverordnung vorgegebene Kapitalwert kein Zeitfaktor. Auf ihn ist im übrigen die zeitlich vorangehende Ruhensbestimmung ohne jeden Zweifel nicht bezogen. Aufgrund dessen scheidet die Anwendung der Ruhensbestimmungen nur für einen bestimmten vor dem Tode des Klägers endenden Zeitraum aus.

Richtig ist allerdings, daß die Abfindungssumme im Jahre 1972 auf der Basis von 16,5 Jahresrenten festgesetzt wurde. Wie SG und LSG bereits überzeugend dargestellt haben, handelt es sich dabei um einen Faktor im Rahmen einer versicherungsmathematischen Festlegung. Die Berechnung erfolgte aufgrund der Verordnung über die Berechnung des Kapitalwertes bei Abfindung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach den §§ 604 und 616 RVO (Kapitalwertverordnung) vom 17. August 1965 (BGBl I S 894) und den zugehörigen Anlagen. Danach bestimmen die Rentenhöhe, das Alter des Verletzten zur Zeit des Unfalls und die Zahl der Jahre, welche seit dem Unfall vergangen sind, die Höhe des Abfindungsbetrages. Der Verordnungsgeber hat die Ermittlung des Kapitalwertes in Ausfüllung der Ermächtigung unter Berücksichtigung bestimmter Risikogesichtspunkte vorgenommen. Einer der beiden maßgebenden Faktoren ist das Alter des Verletzten im Unfallzeitpunkt. Dieser Faktor stellt auf die Lebenserwartung des Verletzten ab. § 75 Abs 2 Satz 3 RKG iVm § 609 RVO bestätigen jedoch unzweideutig, daß bei den großen Dauerrenten der bei der Festsetzung der Abfindung verwendete Faktor für die Zeitdauer des Ruhens unmaßgeblich ist. Dementsprechend handelt es sich auch bei der kleinen Dauerrente ebenfalls nicht um einen Zeitfaktor. In ihm sind weitere Fakten enthalten, beispielsweise die zu erwartenden Rentenerhöhungen, die Kapitalverzinsung und das Risiko der Besserung der Unfallfolgen (während der Verletzte das Risiko einer Verschlimmerung nicht trägt, s §§ 605, 606 RVO). Die Berücksichtigung dieser Faktoren gewährleistet die wirtschaftliche Gleichwertigkeit von Kapitalabfindung und laufender Rentenzahlung. (Insoweit verhält es sich nicht anders als bei der Kapitalabfindung von Schadensersatzrenten nach den §§ 843, 847 BGB. Vgl dazu eingehend das Urteil des 11. Senats vom 10. Februar 1991 - 11 RAr 109/89).

Das BAG sieht dies übrigens genau so wie der erkennende Senat. In seinem Urteil vom 6. Juni 1989 (3 AZR 668/87 - AP zu § 5 BetrAVG Nr 30) hat es entschieden, daß die teilweise Anrechnung der abgefundenen kleinen Dauerrente auf eine Betriebsrente auch zulässig ist, wenn der Abfindungsbetrag durch Anrechnung auf die betrieblichen Versorgungsleistungen aufgezehrt ist. Wörtlich heißt es dazu ua:

"Der Abfindungsbetrag stellt ein versicherungsmathematisch

ermitteltes Äquivalent für die laufenden Rentenleistungen

dar. Entschließt sich der Versorgungsberechtigte,

seine Verletztenrente als eine einmalige

Zahlung für die voraussichtlich gesamte Laufzeit der

einzelnen Rentenraten entgegenzunehmen, dann kann er

nicht nachträgl. von seinem zur (teilweisen) Anrechnung

dieser Leistung befugten ArbGeb. verlangen, ihn

so zu stellen, wie wenn die Leistung nicht erbracht

worden wäre. Die Abfindung eines Rentenanspruchs

stellt immer ein Risikogeschäft dar: Erreicht der

Versorgungsberechtigte ein hohes Lebensalter, kann sich

die Leistung in Form einer Abfindung nachteilig auswirken;

stirbt er früh, kann die Abfindung einen Gewinn

darstellen. Aus der Sicht des Rentenversicherungsträgers

stellt sich die Situation umgekehrt dar;

auch er kann im Einzelfall finanziell vorteilhaft oder

nachteilig handeln. Maßgebend für die Berechnung der

Abfindung kann nur die durchschnittl. Lebenserwartung

unter Berücksichtigung der sofortigen Fälligstellung

sein. Der Kl. hat sich gegenüber dem Träger der Unfallversicherung

auf dieses Risikogeschäft eingelassen.

Er kann nunmehr nicht von der Unterstützungskasse

seines früheren ArbGeb. verlangen, aus diesem Risiko

entlassen und so gestellt zu werden, wie wenn er

nichts erhalten hätte."

Der Senat weist schließlich auf folgenden wichtigen Gesichtspunkt hin: Der 5. Senat entnimmt die Dauer des Ruhens eines Teils der Rentenleistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung den Anlagen zur Kapitalwertverordnung. Die darin festgelegten Kapitalwerte sind nach seiner Meinung gleichzeitig die Zeitwerte für die Dauer des Ruhens der Rententeilleistungen. Hierin erblickt der erkennende Senat eine der Rechts- und Verfassungslage nicht entsprechende Anwendung der Kapitalwertverordnung.

Die der Kapitalwertverordnung zugrundeliegende Ermächtigungsnorm findet sich in § 604 Satz 3 RVO. Danach bestimmt der Verordnungsgeber "die Berechnung des Kapitalwertes". An diese klare und enge Ermächtigung hat der Verordnungsgeber sich erkennbar halten wollen und auch gehalten. Er hat in § 1 die Gesichtspunkte festgelegt, nach denen die Kapitalwertbestimmung erfolgt und dies in den zugehörigen Anlagen ausgeführt. Aber selbst wenn der Verordnungsgeber den ihm eingeräumten Rahmen überschritten hätte, wäre dies unbeachtlich. Die Kapitalwertverordnung würde allein für die Kapitalwertberechnung eine rechtserhebliche Normgestaltung enthalten.

Insbesondere auch aus diesem Grunde darf der Kapitalwertbestimmung nichts für Umfang oder Dauer des Ruhens entnommen werden, welches mit der Abfindungszahlung korrespondiert. Der Verordnungsgeber durfte und wollte diese Umstände nicht mitbestimmen.

Hinzu kommt folgendes. Die Frage des (teilweisen) Ruhens von Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung ist nicht Gegenstand des Unfallversicherungs-, sondern vielmehr des Rentenrechts und vom Gesetzgeber erkennbar in den systematisch richtigen Rahmen gestellt worden. Weder § 604 RVO noch die hierauf beruhende Kapitalwertverordnung treffen eine dem Rentenversicherungsrecht zugehörige Ruhensregelung. Diese ist vielmehr in § 75 RKG enthalten. Die Frage, ob und in welchem Umfang Rentenansprüche ruhen, ist ausschließlich den Normen des Rentenrechts zu entnehmen. Dies übersieht der 5. Senat.

Soweit der 5. Senat in seinem Beschluß vom 27. Februar 1991 im Anschluß an den Ausschußbericht des Deutschen Bundestages (BT- Drucks IV/938 - neu -) von einer anderen Normfassung und demgemäß einem anderen Norminhalt ausgeht als der erkennende Senat, sei darauf hingewiesen, daß die Argumentation des erkennenden Senats von dem Gesetzestext ausgeht, welcher im Bundesgesetzblatt (BGBl 1963, 241, 286) veröffentlicht ist. Nur darauf ist abzuheben.

Mit seiner Entscheidung weicht der erkennende Senat nicht von dem Urteil des BSG vom 26. Oktober 1989 - 4 RLw 8/88 - (SozR 5850 § 4 Nr 10) ab. Der 4. Senat war mit der Frage befaßt, ob und wie eine abgefundene Verletztenrente auf das vorzeitige Altersgeld eines früheren Landwirts anzurechnen ist. Der 4. Senat hat in seinem Urteil eingehend dargelegt, daß das Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte keine dem § 75 RKG vergleichbare Regelung enthält, weil das Altersgeld keine Lohnersatzleistung wie die knappschaftliche Rente des Klägers ist.

Ebensowenig steht das Urteil des 4b-Senats des BSG vom 8. Oktober 1987 - 4b RV 25/86 - entgegen. Diese Entscheidung trägt den Besonderheiten des Versorgungsrechts Rechnung, wonach Rentenabfindungen nach Umfang und zeitlicher Dauer nur soweit auf die Ausgleichsrente anzurechnen sind, wie sie bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise anstelle der abgefundenen Dauerrentenleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes beitragen konnten. Danach stellt die Kapitalabfindung den Wert dar, mit dem die Rente für den Zeitraum, welche der Berechnung des Kapitalwerts zugrunde gelegt wird, in Höhe ihres bisherigen Zahlbetrages zur Deckung des Lebensunterhaltes des Verletzten beigetragen hätte. Demgegenüber dient im zugrundeliegenden Streitfall die Ruhensbestimmung nach § 75 Abs 1 RKG - wie ausgeführt - dazu, den Doppelbezug von Leistungen mit gleicher Zwecksetzung (hier Sicherung des Lebensunterhaltes) auch für die Dauer der fiktiv als fortlaufend zu wertenden Verletztenrente zu vermeiden.

Da die vom anrufenden Senat beabsichtigte Entscheidung mit der zitierten Entscheidung des 5. Senats unvereinbar ist und der 5. Senat an seiner Rechtsprechung festhält, mußte die entscheidungserhebliche Rechtsfrage gemäß § 42 des Sozialgerichtsgesetzes dem Großen Senat des BSG vorgelegt werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651934

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