Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurückweisung der Berufung durch Beschluss. Überprüfung der Ermessensentscheidung des Berufungsgerichts im Revisionsverfahren. Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Verstoß gegen § 158 S 2 SGG. Besetzung der Richterbank. absoluter Revisionsgrund
Orientierungssatz
1. Im Revisionsverfahren kann eine Ermessensentscheidung nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen die Berufung ohne mündliche Verhandlung gem § 158 S 2 SGG zurückzuweisen erkennbar fehlerhaften Gebrauch gemacht hat, dh sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zu Grunde gelegt hat (vgl BSG vom 9.9.2003 - B 9 VS 2/03 B = SozR 3-1500 § 153 Nr 13 zu § 153 Abs 4 S 1 SGG).
2. Die Ausgestaltung des vereinfachten Berufungsverfahrens im SGG unter Berücksichtigung der Rechtsbehelfe gegen Gerichtsbescheide nach §§ 153 Abs 4, 105 Abs 2 SGG ist nach dem Willen des Gesetzgebers allgemein an Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention orientiert und strahlt auf die Ermessensentscheidung nach § 158 S 2 SGG aus.
3. § 158 S 2 SGG gilt nicht ohne Einschränkungen in solchen Fällen, in denen erstinstanzlich ein Gerichtsbescheid ergangen ist (vgl BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B = SozR 4-1500 § 158 Nr 2). Vielmehr gebieten es das Gebot des fairen und effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht auf eine mündliche Verhandlung, von einer Entscheidung durch Beschluss nach § 158 S 2 SGG abzusehen, wenn sich die Berufung gegen einen Gerichtsbescheid richtet. Nicht anders als bei § 153 Abs 4 S 1 SGG führt die hieraus resultierende Verletzung des § 158 S 2 SGG zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes gem § 202 SGG iVm § 551 Nr 1 ZPO aF (vgl BSG vom 9.9.2003 - B 9 VS 2/03 B aaO sowie vom 8.11.2001 - B 11 AL 37/01 R).
Normenkette
MRK Art. 6 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4; SGG § 105 Abs. 2, § 124 Abs. 1-2, § 153 Abs. 4 S. 1, § 158 S. 2, § 202; ZPO § 551 Nr. 1 Fassung: 1964-01-01, § 547 Nr. 1 Fassung: 2005-12-05
Verfahrensgang
Tatbestand
Im Streit ist die Zahlung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
Den Antrag des Klägers, ihm aus Anlass einer Rehabilitationsmaßnahme einen Vorschuss auf Geldleistungen zu zahlen sowie die Fahrkosten zu übernehmen, lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 14. Dezember 2005; Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2006). Zur Begründung führte er aus, dass die für den Kläger zuständige Krankenkasse alle im Zusammenhang mit der Maßnahme erforderlichen Kosten zu tragen habe. Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 9. Februar 2007, zugestellt am 17. Februar 2007).
Mit einem beim SG am 3. März 2007 eingegangenen Schreiben vom 26. Februar 2007 hat der Kläger die Erstattung diverser außergerichtlicher Kosten begehrt. Auf Nachfrage des SG, ob dieses Schreiben als Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG anzusehen sei, hat der Kläger mit einem beim SG am 16. März 2007 eingegangenen Schreiben "Berufung im Rechts-Streit der LBS Westdeutsche Landesbausparkasse gegen Herrn G. S. (Bausparer)" gegen ein offenbar am 28. Februar 2007 ergangenes Urteil des Amtsgerichts Höxter eingelegt. Nach Weiterleitung des Vorgangs an das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat der Kläger auf Nachfrage des LSG vom 2. April 2007 mit einem am 19. April 2007 eingegangenen Schriftsatz vom 18. April 2007 "Berufung" eingelegt. Das LSG hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen, weil sie nicht innerhalb der am 19. März 2007 (Montag) endenden Berufungsfrist eingelegt worden sei. Die vom Kläger bis zu diesem Zeitpunkt vorgelegten Schriftsätze nebst Anlagen könnten nicht als Überprüfung des erstinstanzlichen "Urteils" und damit nicht als Berufung ausgelegt werden (Beschluss vom 13. August 2007).
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensfehler. Das LSG habe ohne ehrenamtliche Richter und damit in fehlerhafter Besetzung durch Beschluss entschieden. Daneben habe es gegen die Grundsätze des rechtlichen Gehörs, des fairen Verfahrens sowie des effektiven Rechtsschutzes verstoßen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet und führt gemäß § 160a Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an das LSG.
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich der geltend gemachten Verfahrensfehler den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Grundsätzlich bedarf es keines weiteren Vortrags zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf mündliche Verhandlung behauptet (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫, Beschluss vom 9. Juni 2004 - B 12 KR 16/02 B).
Die Beschwerde ist auch begründet. Der behauptete Verfahrensfehler liegt vor. Das LSG hätte unter Beachtung des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren, zu Wahrung des rechtlichen Gehörs und unter Beachtung von Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG, sondern nur aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Richter entscheiden dürfen. Nach § 158 Satz 2 SGG "kann" die Entscheidung (über die Verwerfung der Berufung als unzulässig) durch Beschluss ergehen. Damit ist dem Berufungsgericht - insoweit vergleichbar der Regelung des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG - Ermessen eingeräumt, durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung kann im Revisionsverfahren nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, dh etwa sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zu Grunde gelegt hat (vgl zu § 153 Abs 4 Satz 1 SGG BSG, Beschluss vom 9. September 2003 - B 9 VS 2/03 B; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 35, 38 mwN). Das ist hier der Fall. Nicht grundlegend anders als im Rahmen von § 153 Abs 4 Satz 1 SGG (vgl dazu BSG, Urteil vom 31. Juli 2002 - B 4 RA 28/02 R; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 1 RdNr 6) ist die Möglichkeit, nach § 158 Satz 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Auch die Ausgestaltung des vereinfachten Berufungsverfahrens im SGG unter Berücksichtigung der Rechtsbehelfe gegen Gerichtsbescheide nach §§ 153 Abs 4, 105 Abs 2 SGG ist nach dem Willen des Gesetzgebers allgemein an Art 6 Abs 1 EMRK orientiert und strahlt ebenfalls auf die Ermessensentscheidung nach § 158 Satz 2 SGG aus.
Das BSG hat bereits entschieden, § 158 Satz 2 SGG gelte nicht ohne Einschränkungen auch in solchen Fällen, in denen erstinstanzlich ein Gerichtsbescheid ergangen ist (BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 9; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Auflage 2008, Kap VIII RdNr 77; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 158 RdNr 6). Vielmehr geböten es das Gebot des fairen und effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht auf eine mündliche Verhandlung, von einer Entscheidung durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG abzusehen, wenn sich die Berufung gegen einen Gerichtsbescheid richte. Nicht anders als bei § 153 Abs 4 Satz 1 SGG führe die hieraus resultierende Verletzung des § 158 Satz 2 SGG zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes gemäß § 202 SGG iVm § 551 Nr 1 ZPO (vgl zu § 153 Abs 4 Satz 1 SGG: BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 35, 40; BSG, Urteil vom 8. November 2001 - B 11 AL 37/01 R). Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat ausdrücklich an.
Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird im Berufungsverfahren ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen