Leitsatz (amtlich)
Ein "wesentlicher" Mangel des Verfahrens im Sinne des SGG § 162 Abs 1 Nr 2 liegt nicht vor, wenn der mündlich mitgeteilte wesentliche Inhalt der Entscheidungsgründe (SGG § 132 Abs 2 S 2) nicht den Entscheidungsgründen in der Urteilsurkunde entspricht.
Leitsatz (redaktionell)
Hat das LSG ein erstattetes Gutachten in seinen Urteilsgründen nicht ausdrücklich erwähnt, sich jedoch mit den sachlichen Ausführungen eines anderen Gutachtens eingehend auseinandergesetzt, indem das andere Gutachten bereits erörtert worden ist, bedurfte es unter diesen Umständen keiner besonderen Erwähnung dieses Gutachtens und eines ausdrücklichen Eingehens auf dessen Ausführungen nicht mehr.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 132 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts in Berlin vom 25. März 1958 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger hat gegen das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin vom 25. März 195.8 form- und fristgerecht Revision eingelegt und diese auch begründet. Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Der Kläger will die Statthaftigkeit seiner Revision auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGG stützen. Er trägt zunächst vor, daß die vom Vorsitzenden des erkennenden Senats des LSG im Anschluß an die Verlesung der Urteilsformel mitgeteilten Urteilsgründe nicht mit den Gründen in dem schriftlich abgefaßten Urteil übereinstimmen; während nach der mündlichen Urteilsbegründung das Rheumaleiden als Schädigungsfolge anerkannt, dagegen das Herzleiden nicht anerkannt werden sollte, sei nach der schriftlichen Urteilsbegründung - und zwar in Übereinstimmung mit der Urteilsformel - das Herzleiden anerkannt worden, nicht aber das Rheumaleiden. Der Kläger, der für seine Behauptung Beweismittel benannt hat, sieht darin eine Verletzung der §§ 132, 134 SGG, die er für einen wesentlichen Verfahrensmangel gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG hält. Ein solcher Mangel liegt jedoch nicht vor, selbst wenn die Behauptung des Klägers als wahr unterstellt wird. Zwar ist nach § 132 Abs. 2 Satz 2 SGG der wesentliche Inhalt der Entscheidungsgründe mitzuteilen, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Beteiligten bei der Urteilsverkündung anwesend sind. Jedoch ist die Verletzung dieser Vorschrift kein "wesentlicher" Verfahrensmangel, auf den die Statthaftigkeit der Revision gestützt werden kann.
Die Urteilsverkündung ist in der Sozialgerichtsbarkeit wie in der Zivil-, Arbeits- und Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der Verlesung der Urteilsformel beendet (§ 132 Abs. 2 Satz 1 SGG, § 311 Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 173 VGO i.V. § 311 ZPO, § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. § 311 Abs. 2 ZPO). Die "Verlesung der Urteilsformel" ist in den Verfahrensordnungen aller Gerichtsbarkeiten zwingend vorgeschrieben, auch soweit damit noch nicht die "Urteilsverkündung" abgeschlossen ist. Ein Abweichen der verlesenen Urteilsformel von der in der Urteilsurkunde enthaltenen Urteilsformel ist dadurch verhindert. Aus dieser Vorschrift geht die besondere Bedeutung der Urteilsformel gegenüber der Mitteilung der Urteilsgründe bei der Urteilsverkündung hervor. Die Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Entscheidungsgründe ist im Verfahren der Zivilgerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit = bei letztgenannter durch die Verweisung auf die Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO) § 311 Abs, 3 - in das Ermessen des Gerichts gestellt, in den Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, der Arbeitsgerichtsbarkeit, der Strafgerichtsbarkeit und im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht aber immer oder wenigstens unter gewissen Voraussetzungen vorgeschrieben (§ 311 Abs. 3 ZPO, § 173 VGO i. V. § 311 Abs. 3 ZPO, § 132 Abs. 2 Satz 2 SGG, § 60 Abs. 2 ArbGG, § 268 Abs. 2 StPO, § 30 Abs. 1 Satz 3 Bve≪!rv!≫GG). Jedoch gleichgültig, ob diese Mitteilung auf Grund eines Ermessens des Gerichts oder ob sie auf Grund einer gesetzlichen Verpflichtung erfolgt, immer sind die schriftlichen Gründe maßgebend, wenn davon die mündlich mitgeteilten abweichen (Baumbach, ZPO 25. Aufl., § 311 Anm. C 2; Stein/Jonas, ZPO 18. Aufl., § 311 Anm. 2; Wieczorek, ZPO und Nebengesetze § 311 Anm. C; Dersch/Volkmar, Arbeitsgerichtsgesetze, 6. Aufl., 1955 § 60 Anm. 15; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 132 Anm. 2; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 1 S. 148 1; Mellwitz, Sozialgerichtsgesetz 1956, § 132 Anm. B 7; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, § 132 Anm. 9; Löwe-Rosenberg, StPO 1958, § 268 Anm. 5 c; Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung 1957, § 268 Anm. 26; Schwarz, StPO 22. Aufl., § 268 Anm. B; Kleinknecht/Müller, Komm. zur StPO 1958, § 268 Anm. 4 c). Die mündlich mitgeteilten Gründe haben neben den schriftlichen Urteilsgründen nur die Bedeutung einer vorläufigen und unmaßgeblichen Information der Beteiligten (vgl. BGHSt vom 4. Dezember 1960 in NJW 61 S. 420). Daß nicht beide Urteilsbegründungen gleichwertig nebeneinander stehen und nicht beide selbständig Grundlage von Rechten sein können, erfordert schon der Gedanke der Rechtssicherheit, weil sonst zB wegen einer irrtümlichen mündlich en Begründung eine richtige und auch schriftlich richtig begründete Entscheidung aufgehoben werden müßte. Nur die schriftliche Urteilsbegründung bietet eine Gewähr dafür, daß sie das Ergebnis der Beratung wiedergibt. Bei Abweichungen der mündlich mitgeteilten Begründung von der schriftlichen Begründung muß angenommen werden, daß sich der Vorsitzende versprochen oder geirrt hat. Kommt somit den mündlich ≪!!≫ mitgeteilten Gründen neben den schriftlichen keine selbständige Bedeutung zu, dann muß gefolgert werden, daß aus den mündlich mitgeteilten Gründen keine besonderen Rechte hergeleitet werden können, daß insbesondere darauf nicht eine Anfechtung des Urteils (so Stein/Jonas aaO) oder die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels als Voraussetzung für die Anfechtbarkeit einer Entscheidung gegründet werden kann (so zu § 268 StPO - der die mündlich e Mitteilung der Entscheidungsgründe ebenso vorschreibt, wie sie im § 132 SGG unter gewissen Voraussetzungen vorgeschrieben ist - BGHSt 7 S. 363; Bayer. OLG m MdR 53 S. 248. Ferner zu § 132 SGG LSG Rheinland-Pfalz in Breithaupt 1960 S. 827). Einer Verletzung des § 132 SGG insoweit, als nicht der wesentliche Inhalt "der Entscheidungsgründe", d. h. der nach der Beratung und später in der Urteilsurkunde wiederzugebenden Gründe, mitgeteilt ist, sondern irrigerweise davon abweichende Gründe, kann somit keine wesentliche Bedeutung beigemessen werden. Ein solcher Mangel im Verfahren ist daher auch kein "wesentlicher" Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
Der Kläger sieht sodann einen Verfahrensmangel darin, daß das Gutachten des Facharztes Dr. P... vom 26. Februar 1958, das er mit Schriftsatz vom 13. April 1958 überreicht hatte, in dem angefochtenen Urteil "weder erwähnt noch verwertet worden ist". Er führt als verletzte Verfahrensvorschrift den § 62 SGG an, welcher vorschreibt, daß den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren ist. Inwiefern bei diesem vom Kläger wiedergegebenen Sachverhalt der § 62 SGG verletzt sein soll, ist nicht ersichtlich, zumal der Kläger selbst ausführt, das Gutachten des Dr. P... sei Gegenstand der mündlich en Verhandlung im Termin vom 25. März 1958 gewesen. Offenbar will jedoch der Kläger, wie seine Ausführungen erkennen lassen, eine Verletzung des § 128 SGG rügen; er meint, das LSG habe seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere nicht aus den Gutachten des Dr. P... gewonnen, denn sonst hätte es sich in den Urteilsgründen mit diesen Gutachten auseinandersetzen müssen. Diese Rüge greift nicht durch. Es trifft zwar zu, daß das LSG das Gutachten des Dr. P. in den Urteilsgründen nicht ausdrücklich erwähnt hat, jedoch hat sich das LSG mit den sachlichen Ausführungen in dem Gutachten des Dr. P... die bereits in anderen vom LSG herangezogenen Gutachten erörtert sind, eingehend auseinandergesetzt. Unter diesen Umständen bedurfte es einer besonderen Erwähnung des Gutachtens des Dr. P... und eines ausdrücklichen Eingehens auf dessen Ausführungen nicht (BSG 1, 28).
Auch mit seinen weiteren Ausführungen unter Nr. 1 b seiner Revisionsbegründung will der Kläger anscheinend eine Verletzung des § 128 SGG rügen. Er weist auf die Begründung des angefochtenen Urteils hin, in welchem unter Bezugnahme auf das Gutachten des Dr. P... gesagt ist, daß der Gelenkrheumatismus auf die in der Gefangenschaft überstandene Ruhr zurückzuführen sei, "wenn die für einen Ruhrrheumatismus charakteristischen Beschwerden nachgewiesen werden und deswegen eine Behandlung erfolgt ist". Der Kläger meint, daß das LSG in diesem Zusammenhang weder die Gutachten des Dr. R... noch das Gutachten des Dr. P... "voll gewürdigt" habe und daß nach den Ausführungen in diesen Gutachten die Voraussetzungen für die Anerkennung des Gelenkrheumatismus als Folge der Ruhr gegeben seien. Mit dieser Rüge kann der Kläger schon deshalb nicht gehört werden, weil er sie nicht hinreichend substantiiert hat (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG), denn er hat weder behauptet noch näher dargetan, daß nach einem dieser Gutachten beim Kläger im Anschluß an die Kriegsgefangenschaft "die für einen Ruhrrheumatismus charakteristischen Beschwerden" bestanden haben und daß deswegen eine "Behandlung" durchgeführt worden ist, wie sie vom LSG unter Bezugnahme auf das Gutachten des Dr. P. als Voraussetzung für die Anerkennung des Gelenkrheumatismus gefordert ist. Der Kläger meint zwar, daß den Bekundungen des Dr. R... eine Bestätigung dieser Voraussetzungen zu entnehmen sei, er hat jedoch gegenüber der gegenteiligen Annahme des LSG nicht dargetan, daß das LSG bei seiner Würdigung der Bekundungen des Dr. R... und der von diesem geführten Karteikarten die Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung überschritten hat. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang auch das Gutachten des Dr. P... erwähnt, erübrigte sich für das LSG schon deswegen ein Eingehen auf dieses Gutachten, weil dieser Gutachter den Kläger bisher nicht behandelt hatte und deshalb auch nicht in seinem Gutachten aus eigenem Wissen über die Art der Beschwerden des Klägers und deren Behandlung im Anschluß an die Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft etwas sagen konnte. Die Ausführungen des Klägers ergeben daher auch insoweit nicht einen Verstoß gegen § 128 SGG.
Die folgenden Ausführungen des Klägers unter Nr. 2 seiner Revisionsbegründung lassen nicht immer klar erkennen, inwieweit sie die Statthaftigkeit der Revision im Hinblick auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 SGG rechtfertigen sollen. Der Kläger spricht eingangs seiner Ausführungen in diesem Abschnitt von der "Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs" und einer Gesetzesverletzung. Wenn seine Ausführungen auf § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG gerichtet sein sollten, so können sie schon deshalb nicht die Statthaftigkeit der Revision rechtfertigen, weil das LSG bei der Beurteilung des Zusammenhangs zwischen dem Gelenkrheumatismus und der Ruhr zur Anwendung der im Recht der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm gar nicht gekommen ist, sondern bereits den tatsächlichen Zusammenhang zwischen Gelenkrheumatismus und Ruhr verneint hat, so daß es auch nicht das Gesetz im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG, d. h. die im Recht der Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm (BSG 1, 268) verletzt haben kann.
Ferner erwähnt der Kläger in diesem Abschnitt seiner Revisionsbegründung einen "Verstoß gegen allgemeine Denkgesetze" bei der Würdigung der Gutachten der Ärzte Dr. P..., Dr. R... und Dr. P... durch das LSG. Ein solcher Verstoß, der eine Verletzung des § 128 SGG und damit einen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG darstellen würde, ergibt sich aus seinen Ausführungen aber nicht. Einleitend führt der Kläger aus, daß nach dem Gutachten des Dr. P... die Gelenkveränderungen beim Kläger als Endzustand eines nach Ruhr auftretenden Rheumatismus betrachtet werden könnten, wenn nachgewiesen würde, daß die für Ruhrrheumatismus charakteristischen Beschwerden kurz nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft beim Kläger bestanden haben und daß er wegen solcher rheumatischer Beschwerden behandelt worden ist. Der Kläger fährt dann fort: "Diese Voraussetzungen des Dr. P... sind gegeben, wie aus den Gutachten des Dr. R... und des Dr. P..., Facharzt für Chirurgie und Orthopädie, vom 26. Februar 1958 hervorgeht". Er übersieht dabei, daß das LSG diese Voraussetzungen nach den Gutachten Dr. R... und Dr. P... nicht für gegeben erachtet hat, und zwar, wie bereits oben ausgeführt, ohne bei der Würdigung der Gutachten dieser beiden Ärzte die Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung zu überschreiten. Damit entfällt auch die vom Kläger gezogene Folgerung, daß nach dem Gutachten Dr. P... der Gelenkrheumatismus anerkannt werden müsse, und der erwähnte "Verstoß gegen allgemeine Denkgesetze", ohne daß näher geprüft zu werden braucht, ob es sich den Ausführungen des Klägers nach überhaupt um einen solchen Verstoß handelt oder vielmehr um eine Wiederholung seiner bereits behandelten Ausführungen zur Beweiswürdigung.
Schließlich erwähnt der Kläger noch, das "BSG" - gemeint ist offenbar das "LSG" - hätte "sein gerichtliches Fragerecht ausüben müssen". Diese etwa auf eine Verletzung des § 106 SGG gerichtete Rüge kann schon wegen mangelnder Substantiierung (§ 164 Abs. 2 Satz 2) die Statthaftigkeit der Revision nicht rechtfertigen, denn der Kläger hat weder ausgeführt, warum das LSG zu Fragen an Dr. P... veranlaßt gewesen sein sollte, noch hat er dargetan, welche Fragen an Dr. P... zu stellen gewesen wären, noch hat er ausgeführt, zu welchen Ergebnissen diese Befragung geführt hätte.
Da somit die Revision des Klägers nicht statthaft ist, mußte sie als unzulässig verworfen werden. Der Beschluß ergeht gemäß § 169 SGG, die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2304753 |
NJW 1961, 1183 |
MDR 1961, 634 |
DVBl. 1962, 349 |