Leitsatz (amtlich)
Erkennt ein Beteiligter oder muß er erkennen, daß von Amts wegen keine Gutachten mehr eingeholt werden, so handelt er grob nachlässig, wenn er den Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach SGG § 109 Abs 1 nicht in angemessener Frist stellt; er darf, falls diese Frist vor der mündlichen Verhandlung endet, mit der Antragstellung nicht bis zur mündlichen Verhandlung warten.
Normenkette
SGG § 109 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 30. April 1958 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Revision ist zwar form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, sie ist jedoch nach § 160 in Verbindung mit § 162 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht statthaft.
Das Landessozialgericht hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG).
Auch die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG liegen nicht vor. Der Kläger rügt zwar, das Berufungsgericht habe § 109 SGG dadurch verletzt, daß es seinen Antrag vom 28. April 1958 auf Einholung eines Gutachtens von Dr. de V... abgelehnt habe; diese Rüge greift jedoch nicht durch. Das Berufungsgericht hat zwar diesen Antrag mit rechtsirriger Begründung abgelehnt, im Ergebnis ist seiner Entscheidung jedoch zuzustimmen. Entgegen der Ansicht des Klägers hat das Berufungsgericht diesen Antrag nicht deshalb abgelehnt, weil nach seiner Auffassung durch Einholung dieses Gutachtens eine weitere Klärung nicht mehr zu erwarten sei. Wenn auch die Urteilsgründe insoweit nicht ganz klar sind, so ist doch mit genügender Deutlichkeit ersichtlich, daß das Berufungsgericht lediglich sagen wollte, die weitere Einholung eines Gutachtens sei von Amts wegen nicht mehr erforderlich. Hätte es mit diesen Ausführungen auch die Ablehnung des Antrags nach § 109 SGG begründen wollen, so wäre die weitere - eingehende - Begründung dieser Ablehnung überflüssig. Es hat den Antrag also in Wirklichkeit nur deshalb abgelehnt, weil nach seiner Ansicht durch die Einholung dieses Gutachtens die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach seiner freien Überzeugung aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist (§ 109 Abs. 2 SGG).
Die Ansicht des Berufungsgerichts, daß sich die Erledigung des Rechtsstreits durch Zulassung des erst einen Tag vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangenen Antrags nach § 109 SGG verzögern würde, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden; denn bei einer Zulassung des Antrags hätte in diesem Termin das Urteil nicht ergehen können, sondern es hätte ein neuer Termin anberaumt werden müssen. Die vom Berufungsgericht darüber hinaus gegebene zusätzliche Begründung allerdings, der Kläger habe sich in seinem Antrag nicht bereit erklärt, einen Kostenvorschuß zu zahlen, ist rechtsirrig; zu dieser Frage brauchte der Kläger erst Stellung zu nehmen, wenn er vom Gericht zur Zahlung eines Kostenvorschusses aufgefordert worden war (BSG. 2, 259). Diese rechtsirrige Begründung berührt aber das Ergebnis der Entscheidung über den Antrag nach § 109 SGG nicht, da die Annahme der Verzögerung, wie gesagt, schon aus anderen Gründen gerechtfertigt ist. Auch die Entscheidung des Berufungsgerichts, daß der Antrag aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist, ist in der Begründung unzutreffend, im Ergebnis aber richtig. Es steht zwar grundsätzlich im freien Ermessen des Gerichts zu entscheiden, ob der Kläger einen Antrag nach § 109 SGG aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht hat, jedoch hat das Berufungsgericht im vorliegenden Fall die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens überschritten. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts durfte der Kläger, nachdem ihm durch Verfügung des Gerichts vom 29. Januar 1958 mitgeteilt worden war, daß noch von Amts wegen ein Gutachten von Dr. W... eingeholt würde, den Eingang dieses Gutachtens abwarten, bevor er sich schlüssig wurde, ob er noch einen Antrag nach § 109 SGG stellen wollte. Obwohl die Begründung der Entscheidung des Berufungsgerichts also auch insoweit nicht zutreffend ist, mußte ihr im Ergebnis doch zugestimmt werden; denn der Kläger hätte spätestens nach Übermittlung einer Abschrift dieses Gutachtens durch Verfügung des Gerichts vom 13. März 1958 Veranlassung haben müssen, zu prüfen, ob er einen Antrag nach § 109 SGG stellen wollte. Mit diesem Zeitpunkt mußte er erkennen, daß die von Amts wegen durchzuführende Beweiserhebung beendet war. Erkennt ein Beteiligter aber oder muß er erkennen, daß dies der Fall ist, so muß er innerhalb angemessener Frist den Antrag nach § 109 SGG stellen, wenn er eine Ablehnung seines Antrags vermeiden will. Selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Kläger an einem anderen Ort als sein Prozeßbevollmächtigter wohnt, und er sich sowohl mit diesem wie auch noch mit seinem Hausarzt beraten mußte, auch prüfen mußte, ob er in der Lage war, einen evtl. zu zahlenden Kostenvorschuß aufzubringen, durfte er doch nicht sechs Wochen bis zur Stellung des Antrages warten, zumal ihm bereits am 9. April 1958 eine Terminsladung zuging und diese ihm jedenfalls hätte Veranlassung geben müssen, nunmehr baldmöglichst den Antrag zu stellen, um dem Gericht noch die Möglichkeit zu geben, den Termin rechtzeitig aufzuheben. In diesem Verhalten des Klägers ist eine grobe Nachlässigkeit zu erblicken. Da der Antrag nach § 109 SGG ebenso schriftlich wie auch mündlich gestellt werden kann (SozR. Verf. § 109 Da 10 Nr. 17), kann der Kläger sich auch nicht darauf berufen, daß er mit diesem Antrag bis zur mündlichen Verhandlung hätte warten können. Zwar hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 10. Juni 1958 (SozR. Verf. § 109 Da 13 Nr. 19) den Standpunkt vertreten, daß der Kläger den Antrag nach § 109 SGG grundsätzlich nicht schon vor der ersten mündlichen Verhandlung zu stellen brauche und nur beim Vorliegen ganz besonderer Umstände angenommen werden könne, der Antrag sei durch grobe Nachlässigkeit verspätet gestellt, wenn er erst in der ersten mündlichen Verhandlung gestellt werde. Der Senat neigt demgegenüber zu der Auffassung, daß bei Anträgen nach § 109 SGG, da sie sowohl schriftlich wie mündliche wirksam gestellt werden können, der Kläger mit dieser Antragstellung grundsätzlich nicht bis zur mündlichen Verhandlung warten darf, wenn er Veranlassung haben muß, den Antrag nach § 109 SGG bereits vorher schriftlich zu stellen. Demnach konnte der Senat im vorliegenden Falle entscheiden, ohne den Großen Senat anrufen zu müssen, weil auch der 9. Senat von seinem Grundsatz Ausnahmen zugelassen hat.
Die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG sind schon deshalb nicht erfüllt, weil über einen Ursachenzusammenhang im Sinne dieser Vorschrift nicht entschieden worden ist und auch nicht zu entscheiden war.
Die Revision ist somit unstatthaft und mußte daher nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen