Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Anforderungen an Darlegungspflicht. Gesetzliche Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Faltrollstuhl mit Elektrohilfsantrieb. Maßstäbe für das vitale Lebensbedürfnis im Bereich des Gehens. Besonderheiten des Wohnorts. Möglichkeit des Aufsuchens von Ärzten und Therapeuten; Wirtschaftlichkeitsgebot
Orientierungssatz
1. Zu den maßgeblichen vitalen Lebensbedürfnissen im Bereich des Gehens gehört nur die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Ein über diesen Rahmen hinausgehendes Bedürfnis zu gehen kann nicht als Grundbedürfnis anerkannt werden. Dies gilt auch dann, wenn im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich der Wohnung liegen, also dafür längere Strecken zurückzulegen sind, die die Kräfte eines Rollstuhlfahrers möglicherweise übersteigen.
2. Besonderheiten des Wohnortes sind für die Hilfsmitteleigenschaft nicht maßgeblich (vgl BSG vom 16.9.1999 - B 3 KR 8/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 31).
3. Um den Bedürfnis eines Versicherten gerecht zu werden, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen, kann eine Versorgung mit Mobilitätshilfen erforderlich sein (vgl zuletzt BSG vom 16.9.2004 - B 3 KR 19/03 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 7). In einem solchen Fall muss jedoch dieser Zweck im Vordergrund stehen und im Übrigen das Hilfsmittel kostengünstiger sein als der Transport mit Krankenfahrzeugen.
Normenkette
SGB 5 § 12 Abs. 1, § 33 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der an Multipler Sklerose erkrankte Kläger begehrt von der beklagten Krankenkasse die Ausstattung seines Faltrollstuhls mit einem Elektrohilfsantrieb, um an weiter entfernten Orten, die er von seiner Wohnung aus mit seinem Elektrorollstuhl nicht erreichen kann, ähnlich mobil zu sein wie im Nahbereich. Er macht geltend, er könne den Elektrorollstuhl nicht mit seinem - von seiner Ehefrau gesteuerten - Pkw transportieren und müsse daher bei Fahrten zu weiter entfernten Orten den Faltrollstuhl mitnehmen, den er aber über ca 100 m hinausreichende Wege nicht mehr mit den Händen selbstständig bedienen könne. Beispielhaft führt er Fahrten zu entfernt wohnenden Verwandten, zu Treffen der MS-Selbsthilfegruppe Z., zu Ärzten (15 km), zur Krankengymnastik (15 km), zu Behörden (20 bis 30 km) und zu Einkaufsgelegenheiten (15 km) auf.
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 3. August 2004). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 22. September 2005) mit der Begründung, Aufgabe der Krankenkassen sei lediglich die Versorgung gehbehinderter Versicherter mit Mobilitätshilfen, die notwendig seien, um die Mobilität in der eigenen Wohnung sowie im Nahbereich der Wohnung zu erhalten. Dazu reichten die dem Kläger überlassenen beiden Rollstühle aus.
Mit der Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in der durch die §§ 160 Abs 2 und 160a Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) normierten Form begründet worden ist. Sie ist deshalb ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 2, § 169 Satz 1 bis 3 SGG).
Der Kläger macht geltend, das angegriffene Urteil betreffe eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist es erforderlich, die grundsätzliche Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat (BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 und 39) und dass sie klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65), sie also im Falle der Revisionszulassung entscheidungserheblich wäre (BSG SozR 1500 § 160a Nr 54). In der Regel fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage, wenn diese höchstrichterlich bereits entschieden ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51, § 160a Nr 13 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8). Diese Erfordernisse betreffen die gesetzliche Form iS des § 169 Satz 1 SGG (vgl BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 48). Deren Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Der Kläger sieht es nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung an, ob ein Versicherter die Ausstattung eines Faltrollstuhls mit einem Elektrohilfsantrieb jedenfalls dann verlangen kann, wenn er mit dem Elektrorollstuhl auf den Nahbereich beschränkt ist, einige wesentliche Alltagsgeschäfte aber nicht in diesem Nahbereich erledigt werden können, sondern das Aufsuchen weiter entfernter Orte erfordern (Ärzte, Krankengymnastik, Behörden, Einkaufszentrum), die eine Anfahrt mit dem Pkw erfordern, in dem nur der - aus eigener Kraft nur über sehr kurze Strecken zu bewegende - Faltrollstuhl, nicht aber der Elektrorollstuhl mitgenommen werden kann.
Die Klärungsbedürftigkeit dieser Rechtsfrage ist jedoch nicht dargelegt worden. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits entschieden, zu den maßgeblichen vitalen Lebensbedürfnissen im Bereich des Gehens gehöre nur die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Ein über diesen Rahmen hinausgehendes Bedürfnis zu gehen könne nicht als Grundbedürfnis anerkannt werden. Dies gelte auch dann, wenn im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich der Wohnung liegen, also dafür längere Strecken zurückzulegen sind, die die Kräfte eines Rollstuhlfahrers möglicherweise übersteigen. Besonderheiten des Wohnortes könnten für die Hilfsmitteleigenschaft nicht maßgeblich sein (Urteil vom 16. September 1999 - B 3 KR 8/98 R - SozR 3-2500 § 33 Nr 31). Mit diesem - vom LSG zitierten - Urteil setzt sich der Kläger nicht auseinander. Es wird daher nicht verdeutlicht, dass trotz dieser höchstrichterlichen Entscheidung die aufgeworfene Rechtsfrage nicht sicher zu beantworten ist. Das BSG hat darüber hinaus entschieden, dass die Versorgung mit Mobilitätshilfen über den vorgenannten Rahmen hinausgehen kann, wenn sie erforderlich sind, um dem Bedürfnis eines Versicherten gerecht zu werden, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen (Urteil vom 26. März 2003 - B 3 KR 23/02 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 3; Urteil vom 16. September 2004 - B 3 KR 19/03 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 7). Dann muss aber dieser Zweck im Vordergrund stehen und im Übrigen das Hilfsmittel kostengünstiger sein als der Transport mit Krankenfahrzeugen. Auch mit diesen Urteilen setzt sich der Kläger nicht auseinander, so dass der fortbestehende Klärungsbedarf nicht dargelegt ist.
Soweit der Kläger die Urteile des BSG vom 16. September 2004 zum Anspruch beinamputierter Versicherter auf Versorgung mit dem neuesten Stand der Technik entsprechenden Prothesen (sog C-leg) anspricht (vgl BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr 8) und insoweit auf Gleichbehandlung im Sinne einer nach Möglichkeit optimalen Mobilitätshilfe für alle gehbehinderten Versicherten besteht, ist darauf hinzuweisen, dass sich die Entscheidungen zum C-leg allein mit der Qualität eines Hilfsmittels befassen, das zur Erschließung des Nahbereichs dient. Der Kläger will aber nicht die Qualität des Behinderungsausgleichs im Nahbereich verbessern, sondern eine Erweiterung des Bewegungsspielraums über den Nahbereich hinaus erreichen. Dafür bietet die genannte Rechtsprechung keinen Ansatzpunkt, der eine weitere höchstrichterliche Klärung erfordern würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen