Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Inhaltliche Unrichtigkeit. Verfahrensmangel. Formgerechte Bezeichnung. Rechtliches Gehör. Überraschungsentscheidung
Leitsatz (redaktionell)
1. Dass die Klägerin das Berufungsurteil inhaltlich für unrichtig hält, kann nicht zur Zulassung der Revision führen.
2. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden und darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht.
3. Der Verfahrensmangel ist nur dann formgerecht bezeichnet, wenn das Beschwerdegericht durch die Beschwerdebegründung in die Lage versetzt wird, allein anhand dieser Begründung darüber zu befinden, ob die angegriffene Entscheidung des LSG auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann.
4. Eine allgemeine Verpflichtung des Gerichts, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, gibt es nicht.
5. Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte.
Normenkette
SGG §§ 62, 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2 S. 2, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Heilbronn (Entscheidung vom 15.06.2016; Aktenzeichen S 6 R 2222/15) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 27.03.2018; Aktenzeichen L 13 R 2693/16) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. März 2018 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
In dem der Beschwerde zugrundeliegenden Rechtsstreit hat das LSG mit Urteil vom 27.3.2018 einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung verneint.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie beruft sich auf Verfahrensmängel (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
II
Die Beschwerde der Klägerin ist als unzulässig zu verwerfen. Die Klägerin hat in der Begründung des Rechtsmittels entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt oder bezeichnet.
Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Dass die Klägerin das Berufungsurteil inhaltlich für unrichtig hält, kann dagegen nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr, vgl zB BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4; BVerfG Beschluss vom 6.5.2010 - 1 BvR 96/10 - SozR 4-1500 § 178a Nr 11 RdNr 28 mwN).
In der Beschwerdebegründung vom 2.7.2018 wird der gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG) durch eine vermeintliche Überraschungsentscheidung nicht hinreichend bezeichnet. Wird - wie hier - eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht.
Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung der Klägerin schon wegen einer fehlenden Darstellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts nicht. Sogar der Streitgegenstand wird darin allenfalls ungefähr kenntlich gemacht. Der Verfahrensmangel ist jedoch nur dann formgerecht bezeichnet, wenn das Beschwerdegericht durch die Beschwerdebegründung in die Lage versetzt wird, allein anhand dieser Begründung darüber zu befinden, ob die angegriffene Entscheidung des LSG auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann. Es ist nicht Aufgabe des erkennenden Senats, sich den maßgeblichen Sachverhalt aus den Akten oder dem angegriffenen Urteil herauszusuchen (vgl BSG Beschluss vom 31.5.2017 - B 5 R 358/16 B - Juris RdNr 8 mwN; BSG Beschluss vom 26.1.2018 - B 13 R 309/14 B - Juris RdNr 3 f).
Zudem hat die Klägerin eine Gehörsverletzung aufgrund einer Überraschungsentscheidung entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG nicht hinreichend schlüssig und nachvollziehbar dargelegt. Eine allgemeine Verpflichtung des Gerichts, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, gibt es nicht. Sie wird weder durch den allgemeinen Anspruch auf rechtliches Gehör aus § 62 SGG bzw Art 103 Abs 1 GG noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten (§ 106 Abs 1 bzw § 112 Abs 2 S 2 SGG) begründet. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (vgl BSG Beschluss vom 24.1.2018 - B 13 R 377/15 B - Juris RdNr 19; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 44; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 590 mwN).
Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl zB BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262 - Juris RdNr 18 mwN). Die Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt. Daran fehlt es hier.
Die Klägerin macht nicht deutlich, welche Umstände mehr als eine gewisse Zuversicht in Hinblick auf eine ihr günstige Entscheidung hätten begründen können. Der Einwand, das LSG sei nicht dem aktuellsten Gutachten gefolgt, reicht zur Darlegung einer Überraschungsentscheidung ebenfalls nicht aus. Es besteht kein Verfahrensgrundsatz, aufgrund dessen die Klägerin hätte erwarten können, dass das Gericht der Einschätzung des zuletzt angehörten Gutachters folgen muss (vgl BSG Beschluss vom 14.8.2018 - B 13 R 109/18 B - Juris RdNr 10).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen