Leitsatz (amtlich)

Bei der fernmündlichen Aufgabe eines Telegramms, mit dem ein Rechtsmittel eingelegt wird, bleibt das Sehvermögen des Aufgebenden regelmäßig ohne Einfluß. Daher kann in diesem Falle hinsichtlich der Wiedereinsetzungsgründe (Versäumung einer gesetzlichen Verfahrensfrist) ein Blinder nicht günstiger gestellt werden als ein Sehender.

 

Normenkette

SGG § 67 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

1)

Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird zurückgewiesen.

2)

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. November 1963 wird als unzulässig verworfen.

3)

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin hat gegen das ihr am 15. Januar 1964 ordnungsgemäß zugestellte Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin vom 22. November 1963 am Samstag, den 15. Februar 1964, durch ihren Prozeßbevollmächtigten telegrafisch Revision eingelegt. Die Revision enthält jedoch keinen bestimmten Antrag.

Gemäß § 164 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) muß die Revision das angefochtene Urteil bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten. Hierzu heißt es in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils:

"Die Revision ist binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich beim Bundessozialgericht in Kassel-Wilhelmshöhe, Graf-Bernadotte-Platz 3, einzulegen und binnen eines weiteren Monats zu begründen. Sie muß das angefochtene Urteil bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten. Die Revisionsbegründung muß außerdem die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen, die diese Mängel ergeben."

Diese Rechtsmittelbelehrung entspricht entgegen der Auffassung der Klägerin den Anforderungen des § 66 Abs. 1 SGG. Insbesondere kann sich das Wort "Sie" im zweiten Satz nur auf das einzige Subjekt des vorhergehenden Satzes, d. h. auf die "Revision" beziehen, woraus sich unmißverständlich ergibt, daß "Sie", d. h. die Revision, einen bestimmten Antrag enthalten muß. Hieran vermag auch das im dritten Satz nachfolgende Wort "außerdem" nichts zu ändern, da es allenfalls den - irrigen, aber unschädlichen - Schluß hervorrufen könnte, auch die Revisionsbegründung müßte nochmals die Bezeichnung des Urteils und einen bestimmten Antrag enthalten. Somit hätte spätestens bis zum Ende der Revisionsfrist am 15. Februar 1964 ein bestimmter Antrag beim Bundessozialgericht (BSG) vorliegen müssen. Die Erklärung in der Revisionsschrift, daß gegen das näher bezeichnete Urteil Revision eingelegt werde, ist jedoch kein bestimmter Antrag und genügt dem Formerfordernis des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht (BSG 1, 47, 50).

Nach einem entsprechenden Hinweis des BSG hat die Klägerin zwar mit Schriftsatz vom 25. Februar 1964, beim BSG eingegangen am 26. Februar, die Revisionseinlegung mit einem förmlichen Antrag wiederholt, jedoch war die Revisionsfrist zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen.

Gegen die somit vorliegende Versäumung der Revisionsfrist hat die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt; doch sind eine Wiedereinsetzung rechtfertigende Gründe weder ausreichend glaubhaft gemacht noch sonst ersichtlich (§ 67 SGG).

Allerdings hat der Prozeßbevollmächtigte die Klägerin, dessen etwaiges Verschulden diese zu vertreten hat (BSG 11, 160), eidesstattlich versichert, er glaube sich mit Sicherheit daran erinnern zu können, bei der telefonischen Aufgabe des die Revision enthaltenden Telegramms die Worte "lege ich ... in vollem Umfang ... Revision ein" verwendet zu haben. Er glaubt weiter, bei der Verlesung des aufgenommenen Telegramms durch die Postbeamtin gefragt zu haben, ob diese Worte im Text enthalten seien, was ihm bestätigt worden sei. Wie jedoch aus den von ihm gebrauchten Formulierungen, er "glaube" bzw. er "glaube, sich mit Sicherheit erinnern zu können", hervorgeht, ist er selbst außerstande, mit absoluter Bestimmtheit, sondern lediglich unter gewissen persönlichen inneren Zweifeln die Stellung eines Revisionsantrags zu behaupten. Deshalb kann seiner derart abgeschwächten eidesstattlichen Versicherung auch nur ein geringerer Beweiswert zukommen. Demgegenüber vermag nach seinen eigenen eidesstattlichen Angaben weder seine bei der Durchgabe des Telegramms anwesende Ehefrau die Worte "in vollem Umfang" zu bestätigen, noch enthält der von der Telegrammannahmestelle in Berlin aufgenommene Telegrammtext diese Worte. Selbst wenn man davon ausgeht, daß bei einer fernmündlichen Telegrammaufnahme Fehler möglich sind, so ist es doch unwahrscheinlich, daß eine Postbedienstete den fehlerhaft oder unter Lücken aufgenommenen Text bei der Kontrollwiedergabe richtig vorliest. Wären also die angeblich vom Prozeßbevollmächtigten durchgesagten Worte "in vollem Umfang" durch Postversehen nicht aufgenommen, so hätte ihm dies jedenfalls bei der Wiedergabe des Telegrammtextes auffallen müssen. Deshalb liegt die Annahme nahe, daß der Prozeßbevollmächtigte in der durch seine außergewöhnlich späte Beauftragung bedingten Eile entweder den gesetzlich vorgeschriebenen Revisionsantrag unterlassen oder sich von dessen Aufnahme in den Telegrammtext nicht mit der auf Grund der Revisionseinlegung am Tage des Fristablaufs erforderlichen besonderen Sorgfalt (vgl. BGH vom 26. Oktober 1961 in VersR 62, 86 und BSG in SozR § 67 Bl. Da 22 Nr. 33) überzeugt hat. Hierfür spricht ferner die Tatsache, daß im Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten vom 17. Februar 1964, der das Telegramm bestätigte, ein Revisionsantrag überhaupt nicht erwähnt oder auch nur andeutungsweise in Bezug genommen wurde.

Nach alledem ergibt sich nicht mit der gemäß § 67 SGG erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. RG vom 26. Oktober 1926 in JW 27, 1309; Baumbach/Lauterbach, Komm. z. ZPO § 294 Anm. 1 A; Schreier in SozVers 56, 289; Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGb, § 67 Anm. 4 c), daß die Versäumung der Frist des § 164 SGG hinsichtlich des Revisionsantrags nicht auf ein Verschulden der Klägerin, sondern auf Fehler der Post bei der Telegrammübermittlung zurückzuführen ist. Dabei vermag auch die Blindheit des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, auf die sich indessen dieser selbst nicht beruft, keine andere Beurteilung zu rechtfertigen. Zwar ist bei der Frage des Verschuldens im Sinne des § 67 Abs. 1 SGG regelmäßig ein subjektiver Maßstab anzulegen; doch bleibt bei einer telefonischen Telegrammaufgabe das Sehvermögen des Aufgebenden ohne Einfluß, so daß insoweit ein Blinder nicht günstiger gestellt werden kann als ein Sehender.

Da demnach die Revisionsfrist bezüglich des Revisionsantrags (§ 164 Abs. 2 Satz 1 SGG) versäumt und eine Wiedereinsetzung mangels ausreichender Wiedereinsetzungsgründe nicht möglich ist, muß die Revision als unzulässig verworfen werden (§ 169 SGG), ohne daß noch zu prüfen war, ob sie aus anderen Gründen ebenfalls unzulässig ist.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379963

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