Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Kenntnisnahme von Vorbringen durch Berufungsgericht. Verfahrensmangel
Orientierungssatz
1. Mit der Rüge, das Berufungsgericht habe das Klagevorbringen nicht zur Kenntnis genommen, sind keine zur Bezeichnung des geltend gemachten Verfahrensmangels hinreichenden Tatsachen vorgebracht worden. Es müssen die Umstände genau "bezeichnet" werden, aus denen sich ergibt, daß das LSG das Vorbringen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder ersichtlich nicht erwogen hat.
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß wurde nicht zur Entscheidung angenommen (vgl BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 10.3.1989 1 BvR 1539/88).
Normenkette
SGG § 160 Abs 2 Nr 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.10.1987; Aktenzeichen L 3 An 10/87) |
Gründe
Nach § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) darf das Bundessozialgericht (BSG) die Revision gegen das Urteil eines Landessozialgerichts (LSG) nur zulassen, wenn - die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - das Urteil von einer Entscheidung des BSG oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Die - behauptete - Unrichtigkeit des Urteils des LSG ist kein Revisionszulassungsgrund.
Gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 muß in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des LSG abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden. Genügt die Beschwerdebegründung diesen Anforderungen nicht, ist die Beschwerde in entsprechender Anwendung des § 169 Satz 2 und 3 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Einen Mangel des berufungsgerichtlichen Verfahrens, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, hat die Klägerin nicht "bezeichnet". Dazu hätte sie Tatsachen anführen müssen, aus denen sich ein Fehler des LSG auf dem Weg der Entscheidungsfindung und weiterhin ergibt, daß das angefochtene Urteil auf ihm beruhen kann (vgl BSG SozR § 160 Nr 31; § 160a Nr 14, 36). Die Klägerin hat vorgetragen, das LSG habe sich mit dem Kernpunkt ihres Klagevorbringens, nämlich den von ihr zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) - in BVerfGE 66/66 und 84 nicht befaßt und dadurch ihren Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art 103 des Grundgesetzes (GG) und aus Art 6 Abs 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verletzt. Denn es habe ihr Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen. Damit sind keine zur Bezeichnung des geltend gemachten Verfahrensmangels hinreichenden Tatsachen vorgebracht worden. Da die Gerichte nicht verpflichtet sind, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden, und weil grundsätzlich davon auszugehen ist, daß die Gerichte das entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (BVerfG SozR 1500 § 62 Nr 13, 16 jeweils mwN), hätte die Klägerin die Umstände genau "bezeichnen" müssen, aus denen sich ergibt, daß das LSG ihr verfassungsrechtliches Vorbringen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder ersichtlich nicht erwogen hat. Dafür bestand insbesondere auch deswegen hinreichender Anlaß, weil das Berufungsgericht zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) im Blick auf Art 3 Abs 1 und Art 6 Abs 1 GG ausdrücklich Stellung genommen hat (S 7 f im Urteil des LSG). Der Vortrag, das LSG hätte bei Kenntnisnahme von der og Entscheidung des BVerfG nicht zu dem von ihm gefundenen Ergebnis kommen können, ist eine Rüge der Verletzung materiellen Rechts, deren Prüfung nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sein kann.
Soweit die Klägerin darüber hinaus geltend macht, das LSG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör und seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG) dadurch verletzt, daß es "im Hinblick auf den Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 1. Juni 1981 (Bl 19) unter Bezugnahme auf das Urteil des 11. Senats des BSG (11a RA 54/86) nicht aufgeklärt habe, ob der Versicherte - wie von der Beschwerdeführerin geltend gemacht - auf die Einrede des Wegfalls der Geschäftsgrundlage verzichtet oder Erklärungen mit Verzichtscharakter abgegeben habe, obwohl dies durch Vernehmung der im Termin anwesenden Beschwerdeführerin möglich gewesen wäre" (S 9/10 in der Beschwerdebegründung vom 6. April 1988) ist der Verfahrensmangel ebenfalls nicht hinreichend "bezeichnet" im Sinne von § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Im Blick auf eine "Versagung des rechtlichen Gehörs" ist nicht vorgetragen, welches Vorbringen durch das Verhalten des LSG verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Bezüglich der gerügten Verletzung des § 103 SGG ist entgegen § 160 Abs 2 Nr 3 SGG der Beweisantrag, dem das LSG angeblich nicht gefolgt ist, nicht so genau bezeichnet worden, daß er für das BSG ohne weiteres auffindbar ist (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 5; § 160a Nr 34).
Ebensowenig hat die Klägerin die von ihr gleichfalls geltend gemachte Abweichung des Urteils des LSG von der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Sinne von § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet. Es wäre darzulegen gewesen, welche Rechtsfrage das LSG anders als das BSG oder der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes entschieden hat (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 21). Erforderlich sind Ausführungen, mit welchem das Urteil des Berufungsgerichts tragenden Rechtssatz das LSG von welchem eine Entscheidung des BSG tragenden Rechtssatz in welcher Hinsicht abgewichen ist. Die Beschwerdebegründung enthält keine derartige Gegenüberstellung von Rechtssätzen, aus denen eine Abweichung des LSG von der höchstrichterlichen Rechtsprechung erkennbar wäre. Die Klägerin trägt nur ihre Rechtsauffassung dazu vor, wie § 42 AVG auszulegen sei. Nicht mehr näher einzugehen ist deswegen darauf, daß der Vortrag der Klägerin die für divergenzfähig erachtete Entscheidung des BSG nicht hinreichend genau bestimmt und auch nicht aufgezeigt hat, das angefochtene Urteil beruhe auf der - behaupteten - Abweichung.
Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat die Klägerin nicht "dargelegt". Dafür hätte sie die Rechtsfrage, die sie für grundsätzlich bedeutsam hält, klar bezeichnen (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 11), die über den Einzelfall hinausgehende allgemeine Bedeutung der angestrebten Entscheidung aufzeigen (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 39, 7; SozR aaO § 160 Nr 60), die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage darstellen (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 59; § 160 Nr 17) und schließlich den nach ihrer Auffassung vom Revisionsgericht einzuschlagenden Weg der Nachprüfung des angefochtenen Urteils und dabei insbesondere den Schritt darlegen müssen, der die Entscheidung der als grundsätzlich bezeichneten Rechtsfrage notwendig macht (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 39; § 160a Nr 31, 54). Diesen - verfassungsrechtlich unbedenklichen (BVerfG SozR 1500 § 160a Nrn 44, 48) - Voraussetzungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Eine Rechtsfrage hat die Klägerin nicht bezeichnet. Schon deswegen ist nicht darauf einzugehen, daß die Beschwerdebegründung keine Ausführungen zu den weiteren Erfordernissen der Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache enthält. Dem Vortrag der Klägerin ist zu entnehmen, daß sie die vom LSG vertretene Auslegung des § 42 AVG und auch diese Vorschrift selbst für verfassungswidrig hält. Das dürfte der Senat nur dann einer Prüfung unterziehen, wenn die Revision zugelassen und zulässigerweise eingelegt worden wäre. Soweit geltend gemacht wird, das LSG habe bei Anwendung des § 42 AVG die sich aus § 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ergebende Bindungswirkung verkannt, ist eine Verletzung materiellen Rechts gerügt. Das kann nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sein.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 160a Abs 4 Satz 3 Halbs 2 SGG ab.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen