Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. mangelhafte gerichtliche Sachaufklärung. Ablehnung eines Beweisantrages. Gesamtbeurteilung der Ergebnisse mehrerer Einzelgutachten verschiedener medizinischer Fachrichtungen durch ärztlichen Sachverständigen
Orientierungssatz
1. Das Gericht muss von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen (vgl BSG vom 11.12.1969 - GS 2/68 = BSGE 30, 192). Von einer Beweisaufnahme darf es nur dann absehen bzw einen Beweisantrag nur dann ablehnen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn sie also als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache bzw ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist.
2. Werden mehrere Gutachten von Seiten verschiedener medizinischer Fachrichtungen eingeholt, so kann eine Pflicht zur Beauftragung eines Sachverständigen zusätzlich mit der Gesamtbeurteilung aller bereits vorliegenden Gutachtensergebnisse allenfalls dann anzunehmen sein, wenn sich die aus der Sicht der Fachgebiete jeweils festgestellten Defizite überschneiden und ggf potenzieren können (vgl BSG vom 10.12.2003 - B 5 RJ 24/03 R = SozR 4-1500 § 128 Nr 3).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 2, § 103
Verfahrensgang
Thüringer LSG (Urteil vom 13.09.2007; Aktenzeichen L 2 RJ 983/04) |
SG Gotha (Entscheidung vom 21.09.2004; Aktenzeichen S 11 RJ 1000/01) |
Gründe
Mit Urteil vom 13.9.2007 hat das Thüringer Landessozialgericht (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verneint und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die nach ihrem beruflichen Werdegang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verweisende Klägerin könne noch vollschichtig leichte Tätigkeiten verrichten. Für diese Überzeugung stütze sich der Berufungssenat auf die durchgängige und im Wesentlichen übereinstimmende Leistungsbeurteilung durch alle vom Gericht ausgewählten unabhängigen Sachverständigen. Hierzu nehme der Berufungssenat auf die vom Sozialgericht (SG) eingeholten Gutachten Bezug. Dieses hatte ein orthopädisches Gutachten von Dr. Bu. vom 4.12.2001 und ein internistisches Gutachten von Dr. K. vom 29.11.2001 eingeholt, die in ihrer gemeinsamen zusammenfassenden Stellungnahme ein vollschichtiges Leistungsvermögen der Klägerin bejaht hatten. Das auf Antrag der Klägerin von Frau Dipl.-Med. Sch. eingeholte orthopädische Gutachten vom 14.8.2002 hatte ein Leistungsvermögen von weniger als zwei Stunden festgestellt, während Dr. S. in seinem orthopädischen Gutachten vom 12.2.2003 wiederum ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten angegeben hatte. Zu diesem Ergebnis war auch Dr. O. in seinem neuropsychiatrischen Gutachten vom 15.7.2003 gekommen, während die Sachverständige Dr. Br. in ihrem gynäkologischen Gutachten vom 3.6.2004 aufgrund einer Inkontinenzsymptomatik ein vollschichtiges Leistungsvermögen verneint hatte. Unter Zugrundelegung dieser Gutachten war das SG von einem vollschichtigen Leistungsvermögen für leichte Arbeiten unter Vermeidung von Zeitdruck und Zwangshaltungen ausgegangen. Die Gutachten von Frau Dipl.-Med. Sch. und Dr. Br. hatte es für nicht nachvollziehbar gehalten.
Im Ergebnis hat sich das LSG diese Beurteilung zu eigen gemacht und ausgeführt: Die weitere Beweisaufnahme habe zu keiner anderen Einschätzung geführt. Der Sachverständige Dr. B. habe in seinem psychiatrischen Gutachten vom 8.11.2005 eine schwere depressive Einfärbung nicht festgestellt; die anhaltende somatoforme Schmerzstörung lasse noch leichte Tätigkeiten mit bestimmten Einschränkungen zu. Der auf Antrag der Klägerin gehörte orthopädische Gutachter Dr. M. sei in seinem Gutachten vom 24.8.2006 ebenfalls der Ansicht, die Klägerin könne trotz der Erkrankungen auf seinem Fachgebiet noch leichte, körperliche Arbeiten ausführen, habe jedoch aus der Zusammenschau sämtlicher Diagnosen aus den anderen medizinischen Bereichen ein aufgehobenes Leistungsbild gefolgert. Diese Ansicht teile der Berufungssenat nicht, weil keine wesentlichen funktionellen Einschränkungen auf anderen Fachgebieten - insbesondere des orthopädischen - vorlägen. Die Auswirkungen der somatoformen Schmerzstörung seien von vorrangig kompetenten psychiatrischen Fachärzten unter Einbeziehung der von Dr. G. diagnostizierten Fibromyalgie ausführlich und genügend berücksichtigt. Mit dem festgestellten Leistungsvermögen sei die Klägerin auf die Tätigkeit einer Poststellenmitarbeiterin zumutbar verweisbar. Nach dem zuletzt von Dr. K. eingeholten hautärztlichen Gutachten vom 4.5.2007 sei das Leistungsvermögen der Klägerin für diese Tätigkeit nicht eingeschränkt.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Sie beruft sich auf das Vorliegen von Verfahrensmängeln iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Hierzu trägt sie vor, sie habe im Termin zur mündlichen Verhandlung beantragt, ein Gutachten eines medizinischen Sachverständigen einzuholen, der eine Gesamteinschätzung des positiven und negativen Leistungsvermögens unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aller gehörten Fachdisziplinen (Innere Medizin, Rheumatologie, Orthopädie, Schmerzmedizin, Neurologie, Psychiatrie, Dermatologie, Gynäkologie) vorzunehmen habe. Das LSG habe diesen Antrag ohne hinreichende Begründung abgelehnt. Der Gutachter Dr. M. habe in seinem Gutachten vom 24.8.2006 eine Überschneidung und gegenseitige Beeinflussung der mit den gestellten Diagnosen vorhandenen Funktionsbeeinträchtigungen ausdrücklich bestätigt. Das LSG habe - wie schon zuvor das SG - jedoch nur Einzelgutachten in Auftrag gegeben und keinen der gehörten Sachverständigen mit der Gesamtbeurteilung betraut. Dagegen habe das LSG die ohne ausdrücklichen Auftrag von Dr. M. vorgenommene Gesamtschau zurückgewiesen und eine eigene Gesamtbeurteilung der Ergebnisse der verschiedenen Fachgebiete vorgenommen. Eine Gesamtbeurteilung durch einen medizinischen Sachverständigen hätte dagegen erbracht, dass aufgrund der gegenseitigen Beeinflussung der sich aus den Erkrankungen ergebenden Funktionsstörungen das Leistungsvermögen aufgehoben sei.
Die Beschwerde ist zulässig und auch begründet.
Der von der Klägerin gerügte Verfahrensverstoß der mangelhaften Sachaufklärung liegt vor.
Die Klägerin hat die Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hinreichend bezeichnet; diese Rüge trifft auch zu. Das LSG ist einem von der Klägerin im Berufungsverfahren gestellten und bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens nicht gefolgt.
Zutreffend führt die Klägerin aus, sie habe in der mündlichen Verhandlung den Antrag auf Einholung eines medizinischen Gutachtens gestellt. Dies belegt das Protokoll der mündlichen Verhandlung; zudem ist das LSG auf diesen Antrag in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils eingegangen. Bei dem Antrag der Klägerin handelte es sich um einen Beweisantrag iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG, denn mit diesem hat die Klägerin dem LSG in der mündlichen Verhandlung hinreichend deutlich vor Augen geführt, dass sie die gerichtliche Aufklärungspflicht in einem bestimmten Punkt noch nicht als erfüllt angesehen hat (sog Warnfunktion, vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21).
Das LSG ist diesem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt und hat eine weitere Beweiserhebung ohne objektiv ausreichenden Grund unterlassen (vgl hierzu Meyer-Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 160 RdNr 18) . Das Gericht muss von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen (BSGE 30, 192, 205 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO S Aa 25R). Von einer Beweisaufnahme darf es nur dann absehen bzw einen Beweisantrag nur dann ablehnen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn sie also als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache bzw ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 103 RdNr 8 mwN) .
Das LSG durfte den Beweisantrag der Klägerin nicht mit der Begründung übergehen, eine Gesamtbeurteilung der durch die verschiedenen Erkrankungen bedingten Funktionsstörungen sei nicht erforderlich. Es bedarf vorliegend keiner allgemeinen Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Tatsacheninstanzen gehalten sind, bei der Einholung mehrerer Gutachten von Seiten verschiedener medizinischer Fachrichtungen immer einen - in der Regel den letzten - Sachverständigen zusätzlich mit der Gesamtbeurteilung aller bereits vorliegenden Gutachtensergebnisse zu beauftragen. Eine Pflicht hierzu kann allenfalls dann anzunehmen sein, wenn sich die aus der Sicht der Fachgebiete jeweils festgestellten Defizite überschneiden und ggf potenzieren können (BSG SozR 4-1500 § 128 Nr 3). Selbst wenn keine spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, die für sich genommen auf ein aufgehobenes Leistungsvermögen schließen lässt, kann in Grenzfällen nicht ausgeschlossen werden, dass die von einzelnen Sachverständigen verschiedener Sachgebiete unabhängig voneinander festgestellten Erkrankungen und daraus folgenden Funktionsstörungen sich im Sinne einer Auswirkung auf das quantitative Leistungsvermögen überschneiden oder gar potenzieren. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn Funktionseinschränkungen aufgrund verschiedener Krankheiten von einzelnen Sachverständigen völlig unterschiedlicher Sachgebiete benannt werden. Es handelt sich dann nicht nur um eine Frage der etwaigen Summierung von Leistungseinschränkungen, welche das quantitative Leistungsvermögen in der Regel unberührt lassen. Vielmehr können die einzelnen Funktionseinschränkungen so geartet sein, dass ohne Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen nicht geklärt werden kann, ob aus ärztlicher Sicht unter Berücksichtigung aller einander beeinflussenden Gesundheits- und Funktionsstörungen nicht doch eine quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens anzunehmen ist. Lässt sich in derartigen Grenzfällen das Leistungsvermögen nur durch Einschaltung eines ärztlichen Sachverständigen aufgrund seines medizinischen Fachwissens über die Auswirkungen der verschiedenen festgestellten Erkrankungen endgültig klären, weil die Gesamtbeurteilung nicht den einzelnen Gutachten selbst entnommen werden kann, dann überschreitet das Tatsachengericht nicht nur die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung (BSG aaO RdNr 22 mwN), sondern unterlässt eine erforderliche Sachaufklärung. Unter diesen Umständen unterscheidet sich ein Antrag auf Einholung bzw Nachholung einer erforderlichen Gesamtbeurteilung von dem bloßen Antrag auf Einholung eines sog Obergutachtens, durch das keine neuen Tatsachen festgestellt, sondern nur die Schlüssigkeit abweichender Beurteilungen durch einen dritten Sachverständigen überprüft werden soll.
Unter diesen Gesichtspunkten hätte das LSG dem Beweisantrag der Klägerin, einen Sachverständigen mit der Gesamtbeurteilung zu beauftragen, nachkommen müssen. Im Laufe des Verfahrens war eine Reihe von Gutachten unterschiedlicher Fachgebiete (Innere Medizin/Rheumatologie, Orthopädie/Schmerzmedizin, Neurologie/Psychiatrie, Gynäkologie und Dermatologie) eingeholt worden. Es kann dahinstehen, ob bereits die Vielfalt und Spezialität der verschiedenen medizinischen Teilgebiete, auf denen Gutachten erstellt wurden, das LSG zur beantragten Beweiserhebung hätte drängen müssen oder ob es selbst in Auseinandersetzung mit den einzelnen Gutachtensergebnissen im Rahmen der Beweiswürdigung hätte feststellen können, dass auch eine Gesamtbetrachtung nicht zu einer Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens führte. Das LSG durfte sich jedenfalls nicht mit der gegebenen Begründung über die von Dr. M. abgegebene Gesamtbeurteilung hinwegsetzen. Dabei ist unerheblich, ob Dr. M. zu dieser Stellungnahme aufgefordert war oder nicht. Allein der Umstand, dass er sich ungefragt hierzu äußerte, spricht dafür, dass insoweit noch Klärungsbedarf bestand. Dies ist im Ergebnis auch vom LSG so gesehen worden, da es sich ebenfalls gehalten sah, eine Gesamtbeurteilung unter Berücksichtigung der Einzelgutachten vorzunehmen. Ohne weitere Sachaufklärung zu betreiben und ohne kenntlich zu machen, aufgrund welchen medizinischen Sachverstands es sich hierzu für befugt hielt, hat es der einzigen Aussage zu einer Gesamtbeurteilung von Dr. M. lediglich seine eigene Beurteilung entgegengesetzt. Hiergegen bestehen auch deshalb Bedenken, weil einige zuvor eingeholte Gutachten ohnehin ein eingeschränktes quantitatives Leistungsvermögen ergeben hatten. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, wieso das LSG die Leistungsbeurteilung von Seiten des gynäkologischen Fachgebiets aufgrund der Inkontinenzsymptomatik ohne Anhörung eines weiteren medizinischen Sachverständigen als irrelevant beurteilen konnte. Hinzu kommt, dass noch nach der Beurteilung durch Dr. M. ein weiteres medizinisches Gutachten von Seiten des dermatologischen und damit eines bislang noch nicht berücksichtigten Fachgebiets eingeholt worden ist, das selbst von Dr. M. noch nicht hatte gewürdigt werden können. Zwar geht auch das dermatologische Gutachten von Dr. K. von einem vollschichtigen Leistungsvermögen der Klägerin aus, fordert jedoch die Vermeidung von chemischen, thermischen oder mechanischen Einwirkungen auf das Hautorgan als (weitere) Einschränkung des qualitativen Leistungsvermögens. Da auch der zuletzt gehörte dermatologische Sachverständige weder zu einer eigenen Gesamtbeurteilung noch zu einer Stellungnahme zur Gesamtbeurteilung von Dr. M. aufgefordert worden war, blieb ungeklärt, ob aus ärztlicher Sicht noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen der Klägerin besteht.
In Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falls hätte sich das LSG nicht über den Beweisantrag hinwegsetzen dürfen, denn bei dieser Sachlage ist nicht auszuschließen, dass die von der Klägerin beantragte Einholung einer ärztlichen Gesamtbeurteilung unter Berücksichtigung aller vorliegenden Fachgutachten zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass sich die verschiedenen Gesundheits- und Funktionsstörungen gegenseitig nachhaltig beeinflussen und der Klägerin eine vollschichtige Erwerbstätigkeit nicht mehr zuzumuten ist.
Ist bereits wegen dieses Verfahrensfehlers die Nichtzulassungsbeschwerde begründet, kann dahinstehen, ob die übrigen von der Klägerin gerügten Verfahrensverstöße ausreichend dargelegt bzw begründet sind.
Die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG liegen somit vor. Der Senat hebt gemäß § 160a Abs 5 SGG die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück. Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um Tatsachenfeststellungen geht, sprechen prozessökonomische Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache, zumal ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren zu keinem anderen Ergebnis führen könnte.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen