Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 18.07.1957)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Juli 1957 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Revision ist zwar form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist jedoch nach §§ 160, 162 Abs. 1 Nrn. 1–3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht statthaft. Da das Landessozialgericht (LSG) sie nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), wäre sie nur statthaft, wenn der Kläger einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) oder eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes – BVG – (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) mit Erfolg gerügt hätte. Das ist nicht der Fall.

Eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs rügt die Revision nicht. Sie macht ausschließlich Verfahrensmängel geltend und beanstandet in erster Linie, das LSG habe während des Berufungsverfahrens – jeweils gegen den Widerspruch des Klägers – dem mit der Begutachtung des Klägers beauftragten ärztlichen Sachverständigen die Beiakten nebst allen in dieser Sache bereits erstatteten medizinischen Gutachten übersandt. Dadurch werde das aus der Unverletzlichkeit der Menschenwürde (Art. 1 GG) abzuleitende Grundrecht am „Geheimbereich der eigenen Person” verletzt. Es verstoße außerdem gegen allgemeine verfahrensrechtliche Grundsätze, wenn dem ärztlichen Gutachter, der im Sozialgerichtsverfahren Sachverständiger und Zeuge zugleich sei, Gerichtsakten offenkundig gemacht würden. Es genüge, wenn dem Gutachter statt der Akten ein Beweisbeschluß übersandt würde, der das Wissen notwendig mitteilt.

Diese Rüge geht fehl. Aus der Unverletzlichkeit der Menschenwürde kann ein „Geheimbereich der eigenen Person” insoweit abgeleitet werden, als es sich um den Schutz der Intimsphäre handelt. Ob auch die Existenz bestimmter Beschwerden seitens des Herzens und deren fachärztliche Wertung als Herzbeschwerden sowie die Beurteilung ihrer Art und ihres ursächlichen Zusammenhangs mit einem Dienst als Wehrmachtsbeamter dem Schutz der Intimsphäre unterliegen, kann hier offen bleiben. Der Kläger selbst hat diese Tatsachen zur Grundlage des dem Staat und damit der Gesamtheit der Bürger gegenüber erhobenen Versorgungsanspruchs gemacht, indem er beantragt hat, sie als vorhanden festzustellen und als Leistungsgrund anzuerkennen. Er hat mithin selbst offenbart, daß er an bestimmten Beschwerden seitens des Herzens leide, die auf seinen Dienst als Wehrmachtsbeamter zurückzuführen seien und hat auch deren Nachprüfung gewünscht. Die vom LSG zu diesem Zweck angestellten Ermittlungen können, da sie sich auf die Nachprüfung der Behauptungen des Klägers beschränken, nicht als unbefugtes Eindringen in den Geheimbereich seiner Intimsphäre angesehen werden.

Nicht vom Schutz des Art. 1 GG erfaßt wird das vom Kläger in Wahrheit verfolgte Interesse, eine angeblich unzulässige Beeinflussung der einzelnen Gutachter auszuschließen. Dieses Interesse ist nicht, auf Wahrung des „Geheimbereichs der eigenen Person” gerichtet, sondern will unvoreingenommene Begutachtungen dadurch erreichen, daß bereits bekannte Tatsachen und bereits vorliegende Beurteilungen dem Sachverständigen nicht mitgeteilt werden. Mit einem Schutz des Geheimbereichs der eigenen Person hat dies deshalb nichts zu tun, weil der Anspruchbegehrende die Einzelheiten seiner Intimsphäre dem „unvoreingenommenen” Gutachter ja selbst nicht vorenthalten, sondern nur verhindern will, daß der neue Gutachter die Ansichten der früheren Gutachter zur Kenntnis nimmt. Es war somit unabhängig von der Vorschrift des Art. 1 GG zu prüfen, ob die den Sozialgerichten obliegende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amt wegen erfüllt werden kann, wenn dem Sachverständigen die Akten mit den darin enthaltenen früheren Gutachten nicht übersandt werden. Diese Frage ist grundsätzlich zu verneinen. Soll ein ärztlicher Sachverständiger – wie im vorliegenden Fall – neben der Feststellung eines bestimmten Leidens 12 Jahre nach Kriegsende auch den ursächlichen Zusammenhang dieses Leidens mit dem Dienst in der Wehrmacht begutachten und steht ihm dazu nur sein eigener Befund zur Verfügung, so wird er selbst bei größter Sorgfalt diese Fragen nicht zufriedenstellend beantworten können. Eine zuverlässige Diagnose erfordert in jedem Fall genaue Kenntnis der Vorgeschichte, insbesondere der früheren Beschwerden, Befunde und Diagnosen, die auch durch eine mehrtägige klinische Untersuchung nicht zu ersetzen sind. Noch viel weniger kann die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs eines lange nach Kriegsende vom Gutachter festgestellten Leidens mit einem Versorgungstatbestand ohne genaue und lückenlose Kenntnis der Vorgeschichte und der Entwicklung des Leidens beurteilt werden. Wollte man mit der Revision annehmen, einem ärztlichen Gutachter dürfe im sozialgerichtlichen Verfahren jedenfalls gegen den Willen des Beschädigten der Akteninhalt nicht zugänglich gemacht werden, so würde sich ein solches Gutachten in aller Regel als Grundlage einer richterlichen Entscheidung nicht verwenden lassen. Gerade aus der Tatsache, daß ihm die Akten auf Wunsch des zu Begutachtenden nicht zugänglich gemacht werden, könnte der Gutachter auf das Vorhandensein ungünstiger Vorgutachten schließen und sich in seiner Beurteilung danach richten. Auch wenn der sachverständige Arzt ohne Kenntnis der Akten ein als Schädigungsfolge in Betracht kommendes Leiden feststellen und die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs bejahen würde, wäre doch seinem Gutachten gegenüber stets der Einwand gerechtfertigt, es lasse wichtige Brückensymptome oder deren Fehlen außer Betracht und gründe sich nur auf den im Zeitpunkt der Untersuchung festgestellten Zustand und auf die häufig zweckgerichtete Schilderung des Erkrankten, während die übrigen, in Kenntnis der ermittelten Tatsachen des seitherigen Verlaufs des Leidens und der Befunde der Vorgutachten erstatteten Gutachten sich auf eine große Zahl objektiver Anhaltspunkte stützen können und aus diesem Grunde allein die notwendigen Voraussetzungen für eine zutreffende, für den Richter verwertbare Beurteilung bieten. Dies zeigt, wie wenig es dem Kläger dienlich wäre, wenn seinem Begehren entsprochen würde. Die Vorakten müssen dem Gutachter somit grundsätzlich deshalb mit übersandt werden, weil andernfalls das neue Gutachten zur objektiven Aufklärung des Sachverhalts regelmäßig nicht beitragen könnte. Demgemäß hat auch schon das frühere Reichsversicherungsamt (RVA) die Auffassung vertreten, daß dem Arzt das gesamte Aktenmaterial zugänglich zu machen ist, weil nur so eine ausreichende Begutachtung gewährleistet ist (EuM 31, 50). Die Fertigung eines Beweisbeschlusses bietet keinen Ersatz, da die wesentlichen medizinischen Gesichtspunkte vom Gericht nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit knapp zusammengefaßt werden könnten. Wollte man aber einen umfangreichen Beweisbeschluß fordern, der alles Wesentliche – auch in medizinischer Hinsicht – enthält, so hätte man mit Zeitverlust und Umständlichkeit das gleiche erreicht wie mit der Aktenübersendung.

Als Verletzung des § 103 SGG rügt die Revision, das LSG habe pflichtwidrig unterlassen, die Widersprüche zwischen dem Gutachten des Prof. Dr. Sch… einerseits und den Gutachten des Dr. M. der Universitätskliniken Freiburg und Tübingen sowie des Prof. Dr. D. andererseits aufzuklären. Schon Dr. M. habe Coronarinsuffizienz als Wehrdienstbeschädigung angenommen, das Freiburger Gutachten habe geringgradige Herzmuskelschädigung, das Tübinger Gutachten Beschwerden seitens des Herzens und Prof. Dr. D. Coronarsklerose mit geringgradiger Herzmuskelschädigung festgestellt. Das LSG komme dagegen, gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. Sch… zu dem Ergebnis, ein organisches Herz- und Kreislaufleiden liege weder jetzt vor noch habe es früher bestanden. Schließlich sei das LSG dem Antrag nicht gefolgt, das Gutachten Prof. Dr. Sch… hinsieht lieh der von ihm festgestellten Osteochondrose und Spondylose ergänzen zu lassen.

Soweit die Revision unterlassene Gutachtenergänzung rügt, entspricht die Rüge nicht der in § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG für Verfahrensrügen zwingend vorgeschriebenen Form. Der Kläger hat weder angegeben, aus welchem Grunde und in welcher Richtung sich das LSG zu weiteren Ermittlungen gedrängt sehen mußte, noch kann der Revision entnommen werden, daß und warum nach ihrer Auffassung die Ergänzung des Gutachtens zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis geführt hätte. Die Rüge enthält mithin nicht die in § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG geforderte Bezeichnung der Tatsachen und Beweismittel, die den gerügten Verfahrensmangel ergeben. Sie ist daher nicht geeignet, die Statthaftigkeit der Revision zu begründen (SozR SGG § 164 Bl. Da 10 Nr. 28).

Die Rüge, das LSG sei den aus den Gutachten hervorgehenden Widersprüchen hinsichtlich des Herzleidens nicht nachgegangen, geht fehl, weil das Gutachten Prof. Dr. Sch… zu diesen Widersprüchen Stellung genommen bezw. diese aufgeklärt hat. Mit dem Gutachten der Universitätsklinik Tübingen besteht im Grundsätzlichen Übereinstimmung, weil auch dort nur Beschwerden seitens des Herzens durch vasomotorische Dysregulation und Fettleibigkeit festgestellt wurden. Prof. Dr. Sch… hat die Beschwerden auf die Fettleibigkeit und auf die Beeinträchtigung der zum Herzen führenden vegetativen Nervenadern durch schwere Veränderungen der Halswirbelsäule zurückgeführt. Die in dem Gutachten der Universitätsklinik Freiburg festgestellte altersentsprechende Coronarsklerose mit geringgradiger Herzmuskelschädigung, die von Prof. Dr. D. diagnostizierte Herzmuskelschädigung (Coronarinsuffizienz, nicht Coronarsklerose, wie die Revision meint) und die von Dr. M. erhobene „ausgesprochene coronare Insuffizienz” hat Prof. Dr. Sch… mit der inzwischen aufgegebenen Überbewertung der Herzstromkurve erklärt. Unter diesen Umständen durfte das LSG die zwischen den genannten Gutachten bestehenden Widersprüche ohne Verletzung seiner Sachaufklärungspflicht als aufgeklärt ansehen.

Das LSG hat auch die Grenzen seines richterlichen Ermessens hinsichtlich der Beeidigung des Prof. Dr. Sch… nicht überschritten. Da die Gutachten der beiden anderen Universitätskliniken im wesentlichen gleiche Befunde ergaben und übereinstimmend – ebenso wie auch das Gutachten von Prof. D. – die Frage der Wehrdienstbeschädigung verneinten, kann es nicht als ein Verfahrensverstoß des LSG gewertet werden, wenn der Gutachter Prof. Dr. Sch… nicht vereidigt worden ist bezw. die Beeidigung dieses Gutachters vom LSG nicht als zwingend notwendig erachtet worden ist. Sachverständige werden gemäß § 118 Abs. 2 SGG nur beeidigt, wenn das Gericht dies im Hinblick auf die Bedeutung des Gutachtens für die Entscheidung des Rechtsstreits für notwendig erachtet. Damit ist dem LSG ein Ermessensspielraum eingeräumt, den es nicht überschritten hat.

Der Rüge, das LSG hätte das Gutachten Prof. Dr. Sch… nicht verwerten dürfen, weil dieser von „paranoider Fehlhaltung” des Klägers spreche und deshalb befangen sei, muß der Erfolg ebenfalls versagt bleiben. Der Sachverständige hat die „neurotische Fehlhaltung”, die er als „fast paranoid anmutend” und schließlich als „neurotische, wenn nicht schon paranoide Fehlhaltung” bezeichnet, zur Begründung seiner Auffassung herangezogen, die Herzbeschwerden des Klägers seien auch durch dessen psychische Ausrichtung auf den Rentenstreit bedingt. Ohne Anhaltspunkte für eine zwischen dem Gutachter und dem Kläger bestehende Feindschaft, die auch die Revision nicht darzulegen vermag, konnte das LSG daraus eine begründete Besorgnis, daß dieser Gutachter befangen sei, nicht ableiten, denn es handelte sich nicht um unsachliche und deshalb als feindselig anzusehende Ausführungen, sondern um die Erklärung eines medizinischen Sachverständigen über die Ursache der von ihm zu beurteilenden Beschwerden.

Fehl gehen auch die Ausführungen der Revision, mit denen geltend gemacht wird, der Kläger sei trotz seiner Vorschußleistung von einem anderen als dem beauftragten Gutachter untersucht worden, während der mit der Begutachtung beauftragte Prof. Dr. M. nur sein Einverständnis mit dem Gutachten ohne eigene Untersuchung erklärt habe. Ein Anspruch auf Begutachtung durch einen bestimmten Arzt besteht nur im Falle des § 109 SGG. Ob es sich im vorliegenden Fall um ein Gutachten dieser Art handelte, erscheint sehr fraglich, da der Kläger einen bestimmten Arzt seines Vertrauens trotz Aufforderung durch das LSG nicht namentlich benannt, sondern nur Begutachtung durch die Universitätsklinik Heidelberg beantragt hat. Die Frage, ob der Auffassung des Bayerischen Landesversicherungsamts, ein Antrag, das Gutachten einer bestimmten Klinik einzuholen, sei als Antrag, einen bestimmten Arzt zu hören, anzusehen (EuM 21, 152), auch heute, trotz des Nebeneinanders zahlreicher Klinik-Abteilungen und der Notwendigkeit weitgehender Aufgabenteilung noch zuzustimmen ist, kann offenbleiben. Denn selbst wenn man den Antrag des Klägers als den Anforderungen des § 109 SGG genügend ansehen wollte, so ist festzustellen, daß der Direktor der Medizinischen Universitätsklinik, an den der Gutachtenauftrag erging, das Gutachten mit erstattet hat. Der Kläger hat nur dann einen Anspruch auf persönliche Untersuchung durch den mit der Begutachtung beauftragten Arzt, wenn die für das Gutachten notwendigen ärztlichen Feststellungen allein durch persönliche Untersuchung zu gewinnen waren (BSG 8, 72, 78). Im vorliegenden Fall erstreckte sich die Untersuchung auf die technischen Feststellungen der Röntgenbilder und des EKG sowie die Blut- und Urinuntersuchung; daneben war die übliche persönliche Untersuchung mit äußerer Besichtigung, Abklopfen, Abhorchen usw. vorzunehmen. Diese technischen und routinemäßigen medizinischen Untersuchungen konnten dem ärztlichen Hilfspersonal des beauftragten Gutachters überlassen werden. Zur Abfassung seines Gutachtens durfte sich nach der angeführten Entscheidung des erkennenden Senats in diesem Fall Prof. Dr. M. technischer und medizinischer Hilfskräfte bedienen. Es genügte, wenn er das Gutachten mit dem Verfasser durchsprach und sodann durch seine Unterschrift mit dem Vermerk „einverstanden” zum Ausdruck brachte, daß das Gutachten seine eigene ärztliche Auffassung zur Beweisfrage wiedergab.

Die Rüge, das LSG habe der Universitätsklinik Heidelberg am 19. Februar 1957 den Auftrag erteilt, eine erneute Nachuntersuchung des Klägers vorzunehmen, die jedoch unterblieben sei, obwohl das LSG seinen Auftrag nicht zurückgenommen habe, läßt im Unklaren, weshalb dieser Auftrag nicht durch das Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg vom 11. April 1957 als erfüllt angesehen wird. Die Rüge entspricht deshalb nicht den Anforderungen des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG und kann daher gleichfalls die Statthaftigkelt der Revision nicht begründen. Anscheinend ist dem Kläger hier eine Verwechslung unterlaufen; denn das Gutachten vom 11. April 1957 ist zweifelsfrei auf Grund des Auftrags des LSG vom 19. Februar 1957 erstattet worden.

Da die Revision einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG nicht zu rügen vermag, ist sie nicht statthaft und somit gemäß § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Weiß, Dr. Schwankhart, Dr. Maisch

 

Fundstellen

Haufe-Index 926357

NJW 1961, 2088

MDR 1961, 968

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