Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurückweisung der Berufung per Beschluß. zeitliche Begrenzung. rechtliches Gehör. effektiver Rechtsschutz. richterliche Überzeugungsbildung. Hinweispflicht
Leitsatz (amtlich)
Das LSG kann auch nach Einholung eines Sachverständigengutachtens die Berufung noch durch Beschluß zurückweisen.
Orientierungssatz
Es gibt für Entscheidungen auf Grund mündlicher Verhandlung keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG vom 31.8.1993 - 2 BU 61/93), und zwar weder in einer mündlichen Verhandlung noch in der den Beschluß gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG zwingend vorgeschriebenen vorangehenden Anhörungsmitteilung.
Normenkette
SGG § 153 Abs. 4 Sätze 1-2; GG Art. 103, 19 Abs. 4; EMRK Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Stuttgart (Entscheidung vom 20.03.1991; Aktenzeichen S 16 U 3749/89) |
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 21.04.1993; Aktenzeichen L 7 U 1025/91) |
Gründe
Der Kläger ist mit seinem Begehren auf Anerkennung weiterer Unfallfolgen sowie Gewährung einer Verletztenrente (Dauerrente) nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als 20 vH ohne Erfolg geblieben (Bescheid vom 28. August 1989; Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 20. März 1991 und Beschluß des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 21. April 1993). Das LSG ist in seinem ohne mündliche Verhandlung gemäß § 153 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergangenen Beschluß zu dem Ergebnis gelangt, daß dem Kläger aufgrund der bei ihm vorliegenden Unfallfolgen keine höhere Verletztenrente als nach einer MdE um 20 vH zustehe.
Zur Begründung seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Er meint, klärungsbedürftig sei die Rechtsfrage,
1.
ob das LSG gemäß § 153 Abs 4 SGG in der ab 1. März 1993 geltenden Fassung eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich halten darf, wenn im Laufe des Berufungsverfahrens durch Einholung eines weiteren Gutachtens erneut Beweis erhoben worden ist, und
2.
ob das LSG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe iS des § 153 Abs 2 SGG in der ab 1. März 1993 geltenden Fassung absehen darf, wenn es gemäß § 153 Abs 4 SGG in der ab 1. März 1993 geltenden Fassung über die nach seiner Ansicht unbegründete Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß entscheidet.
Die Beschwerde ist zurückzuweisen. Die Sache hat nicht die vom Beschwerdeführer geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung.
Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. Grundsätzliche Bedeutung hat das angestrebte Revisionsverfahren nur, wenn der Rechtsstreit sich in seiner Bedeutung nicht in diesem Einzelfall erschöpft, sondern dazu dienen kann, die Rechtseinheit zu wahren oder die Entwicklung des Rechts zu fördern. Das ist dann der Fall, wenn die für grundsätzlich gehaltene Rechtsfrage klärungsbedürftig ist (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX, RdNr 63 mwN). Das ist für beide vom Kläger für grundsätzlich bedeutsam gehaltenen Fragen nicht gegeben.
Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, wenn die Beantwortung der vom Beschwerdeführer bezeichneten Rechtsfrage unmittelbar dem Gesetz zu entnehmen ist, also schon aus sich heraus klar ist und die Antwortung außer Zweifel steht (BSG Zweifel steht (BSG SozR 1500 Beschwerdeschrift bezeichnete Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, weil sie sich aufgrund des Wortlauts, des Zwecks und der Entstehungsgeschichte des § 153 Abs 4 SGG ohne weiteres beantworten läßt.
Nach § 153 Abs 4 SGG kann das LSG, außer in den Fällen, in denen das SG durch Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 2 Satz 1 SGG) entschieden hat, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Diese durch Art 8 Nr 6 Buchst d des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 - BGBl I 50 - erlassene Regelung gibt dem LSG die Möglichkeit, eindeutig aussichtslose Berufungen rasch und ohne unangemessenen Verfahrensaufwand zu bearbeiten, und trägt dementsprechend zur Entlastung der Landessozialgerichte bei (BT-Drucks 12/1217 S 53 zu Nr 7 Buchst d). Eine zeitliche Begrenzung, innerhalb der ein die Berufung zurückweisender Beschluß des LSG ergehen kann, ist dem klaren Wortlaut dieser Vorschrift nicht zu entnehmen. Das Einholen eines Sachverständigengutachtens durch das LSG hat demnach einer Zurückweisung der Berufung durch Beschluß nicht entgegengestanden (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 153 RdNr 16). Eine entsprechende Regelung mit zeitlicher Begrenzung enthielt für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit Art 2 § 5 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit - EntlG - vom 31. März 1978 (BGBl I 446), wonach das Oberverwaltungsgericht die Berufung nur "bis zur Anberaumung der mündlichen Verhandlung und bis Anordnung einer Beweiserhebung" durch Beschluß zurückweisen konnte. Diese zeitliche Begrenzung, im vereinfachten Verfahren zu entscheiden, wurde durch § 130a der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) idF des Vierten Gesetzes zur Änderung der VwGO vom 17. Dezember 1990 (BGBl I 2809) nicht übernommen, weil sie sich nicht als praxisgerecht erwiesen hat (BT-Drucks 11/1730 S 31 zu Nr 30).
Zu Art 2 § 5 EntlG und des als Dauerrecht an dessen Stelle getretenen § 130a VwGO, der ebenfalls der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung dient, hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) wiederholt entschieden, daß mit der darin getroffenen Regelung weder die Gebote des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫) noch die des effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) verletzt sind, weil der Betroffene in seinem Recht auf Ausführungen zu tatsächlichen und rechtlichen Fragen nicht beschränkt wird, Beweisanträge stellen kann, und auch die Möglichkeit hat, sich zu der Absicht des Gerichts, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, zu äußern (BVerwG BayVBl 1992, 537 mwN).
Das gleiche gilt - entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers - auch für die Regelung in § 153 Abs 4 SGG, die § 130a VwGO im Wortlaut entspricht. Auch hier ist der Beteiligte in seinen Ausführungen zu tatsächlichen und rechtlichen Fragen nicht eingeschränkt; er hat ferner die Möglichkeit, sich zu der Absicht des Gerichts zu äußern, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß zu entscheiden. Der Beschwerdeführer weist zwar zutreffend darauf hin, daß im Verfahren nach § 153 Abs 4 SGG den Beteiligten bis zur Zustellung der Beschlußgründe verborgen bleibt, auf welche Tatsachen und Beweisergebnisse das LSG seine Entscheidung stützt. Es gibt aber auch für Entscheidungen auf Grund mündlicher Verhandlung keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (s zuletzt Beschluß des Senats vom 31. August 1993 - 2 BU 61/93), und zwar weder in einer mündlichen Verhandlung noch in der den Beschluß gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG zwingend vorgeschriebenen vorangehenden Anhörungsmitteilung.
Auch ein Verstoß gegen Art 6 Abs 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention ≪EMRK≫) vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II 685, 953), wonach jedermann das Recht auf gerichtliches Gehör hat, ist nach der Rechtsprechung des BVerwG nicht gegeben, weil durch diese Vorschrift nicht ein - zusätzliches - zweitinstanzliches Verfahren mit öffentlicher (mündlicher) Verhandlung garantiert wird (BVerwG NVwZ 1984, 792 und BayVBl 1992, 537 mwN). Nichts anderes gilt für die Entscheidungen des LSG im vereinfachten Verfahren nach § 153 Abs 4 SGG, auch bei einer vollen Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf sozialgerichtliche Streitigkeiten (vgl Meyer-Ladewig, SGb 1990, 257, 259 ff). Bei dieser Entscheidung hat das LSG im Rahmen seines vom Gesetzgeber eingeräumten Ermessens, im vereinfachten Verfahren durch Beschluß zu entscheiden, die Schwierigkeit des Falles und die Bedeutung von Tatsachenfragen zu berücksichtigen (s Meyer-Ladewig aaO § 153 RdNr 17 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte). Revisionsrechtlich ist die Entscheidung des LSG insoweit nur überprüfbar, ob es erkennbar von diesem Ermessen fehlerhaften Gebrauch gemacht hat (vgl Meyer-Ladwig aaO RdNr 16, 17), etwa wenn der Beurteilung erkennbar sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zugrunde liegen (vgl BVerwGE 84, 220, 223; BVerwG BayVBl aaO). Aber auch hinsichtlich dieses Prüfungsmaßstabes hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung, da unter Berücksichtigung des vorstehend aufgezeigten Anwendungsbereichs des § 153 Abs 4 SGG keinerlei Anhaltspunkte für einen Ermessensfehlgebrauch ersichtlich sind.
Der Beschwerdeführer macht schließlich im Rahmen der Klärungsbedürftigkeit der Frage zu Nr 1 geltend, durch die Entscheidung im Beschlußverfahren sei der Kläger "seinen ihm im Urteilsverfahren zustehenden ehrenamtlichen Richtern entzogen". Diese Frage hat der Gesetzgeber durch § 12 Abs 1 Satz 2 SGG idF des Art 8 Nr 1 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 eindeutig geregelt. Danach wirken - entsprechend der schon bisher geltenden Rechtslage (BSGE ≪GrS≫ 1, 1, 4/5) - die ehrenamtlichen Richter bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung nicht mit. Verfassungsrechtliche Bedenken sind nicht ersichtlich. Dies gilt um so mehr, als das oa Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege sicherstellt, daß dem Beteiligten mindestens eine Tatsacheninstanz mit abschließender Entscheidung unter Beteiligung der ehrenamtlichen Richter zur Verfügung steht. Denn bei einer Entscheidung des SG gemäß § 105 Abs 2 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid ist eine Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß gemäß § 153 Abs 4 SGG nicht zulässig (s BVerwGE 57, 272, 275). Damit hat der Gesetzgeber sichergestellt, daß die in Art 6 Abs 1 EMRK garantierte mündliche Verhandlung jedenfalls in der ersten oder der zweiten Instanz zur Verfügung steht und nicht in beiden Instanzen - ohne Einverständnis der Beteiligten - entfallen kann (Meyer-Ladewig aaO RdNr 14).
Es bedarf demnach keiner Entscheidung, ob über die vom Beschwerdeführer angeführten Fragen in einem Revisionsverfahren überhaupt zu entscheiden wäre und die Fragen ggf nicht klärungsfähig wären (s Krasney/Udsching aaO IX RdNr 68 ff), weil der rechtskundig vertretene Kläger bei seiner Anhörung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG keine Gründe dargelegt hat, die gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung sprechen.
Die unter Nr 2 vom Beschwerdeführer formulierte Frage, ob das LSG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe iS des § 153 Abs 2 SGG bei einer Zurückweisung der Berufung durch Beschluß gemäß § 153 Abs 4 SGG absehen kann, stellt sich für das angestrebte Revisionsverfahren nicht. Das LSG hat zwar "auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils des SG" verwiesen und "in vollem Umfang hierauf Bezug" genommen (§ 153 Abs 2 SGG). Das LSG hat sich jedoch sodann eingehend mit dem nach § 109 SGG im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten von Dr. W vom 18. Februar 1992 auseinandergesetzt und im einzelnen begründet, warum es dessen Beurteilungen nicht folgt und die Ausführungen des im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Sachverständigen Dr. G (Gutachten vom 12. Juni 1990 und ergänzende Stellungnahme vom 19. November 1990) für überzeugend hält. Das LSG nimmt gleichfalls zu den vom Kläger gegen das Gutachten von Dr. G erhobenen Vorwürfen Stellung, indem es feststellt, die Ausführungen dieses Sachverständigen seien insoweit auch nicht widersprüchlich, als er darlege, es liege eine Verschmächtigung der Muskulatur vor, die Trophik an beiden Beinen sei jedoch normal. Denn, so das LSG weiter, eine Verschmächtigung müsse nicht auf trophische Störungen zurückzuführen sein, vielmehr komme hierfür auch eine Schonung in Betracht. Das LSG hat demnach nicht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen, sondern hinsichtlich des in erster und zweiter Instanz übereinstimmenden maßgebenden Streitstoffes auch eine eigene Begründung gegeben.
Die Beschwerde war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen