Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Erforderlichkeit der Bestellung eines besonderen Vertreters. Anforderungen an das Vorliegen einer (partiellen) Prozessunfähigkeit. Prüfung der Prozessfähigkeit in jeder Lage des Verfahrens. keine Bindung an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz
Orientierungssatz
1. Zu den Anforderungen an das Vorliegen einer (partiellen) Prozessunfähigkeit.
2. Die Prozessfähigkeit ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Die höhere Instanz ist dabei an die Tatsachenfeststellungen der unteren Instanz zu den Prozessvoraussetzungen nicht gebunden und hat auch neues Tatsachenvorbringen zu berücksichtigen (vgl BAG vom 5.6.2014 - 6 AZN 267/14 = BAGE 148, 206 RdNr 13).
Verfahrensgang
SG Mainz (Entscheidung vom 23.08.2017; Aktenzeichen S 7 KR 151/14) |
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 06.05.2021; Aktenzeichen L 5 KR 196/17) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Mai 2021 wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der bei der Beklagten krankenversicherte Kläger ist mit seinem Begehren auf Durchführung einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit persönlicher Untersuchung im Zusammenhang insbesondere mit einem Beratungsbedarf zu Therapiemöglichkeiten bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Im Klage- und Berufungsverfahren hat der Kläger geltend gemacht, er sei prozessunfähig und benötige Unterstützung. Das LSG ist von der Prozessfähigkeit des Klägers ausgegangen und hat die Bestellung eines besonderen Vertreters abgelehnt. Dabei hat es sich auf ein in einem anderen Verfahren vom SG Mainz (S 1 SO 127/17) eingeholtes medizinisches Sachverständigengutachten des D gestützt und dieses, die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen sowie die Niederschrift über seine Anhörung in der mündlichen Verhandlung des SG Mainz vom 5.10.2020 im Wege des Urkundsbeweises verwertet. Eine ergänzende Anhörung des Sachverständigen hat das LSG abgelehnt. In der Sache hat das LSG unter Verweis auf die Entscheidungsgründe der erstinstanzlichen Entscheidung ausgeführt, es bestehe kein Anspruch des Klägers auf die begehrte Begutachtung durch den MDK. Durch den von der Beklagten eingeschalteten MDK sei ein umfassendes sozialmedizinisches Gutachten erstellt worden, das den Kriterien des (seit 1.1.2018 geltenden) § 17 Abs 2 SGB IX genüge; Anspruch auf ein bestimmtes Ergebnis der Begutachtung habe der Kläger nicht (Urteil vom 5.8.2021).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Einer abschließenden Entscheidung des Senats stehen keine von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisse entgegen. Der Kläger ist prozessfähig. Ein besonderer Vertreter war deshalb nicht zu bestellen.
a) Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht keinen Betreuer bestellt hat. Bei gewichtigen Bedenken gegen die Prozessfähigkeit hat das Gericht von der Prozessunfähigkeit auszugehen, wenn sich auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht feststellen lässt, dass der betreffende Beteiligte prozessfähig ist (vgl BSG vom 17.12.2019 - B 1 KR 73/18 B - SozR 4-1500 § 56a Nr 1 RdNr 8 mwN).
b) Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl BSG vom 12.12.2013 - B 8 SO 24/12 R - SozR 4-3500 § 67 Nr 1 RdNr 9; BSG vom 27.1.2022 - B 2 U 175/20 B - SozR 4-1500 § 71 Nr 4 RdNr 9; BFH vom 9.9.2004 - III B 165/03 - juris RdNr 4; BGH vom 5.11.2004 - IXa ZB 76/04 - juris RdNr 13, jeweils mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (BSG vom 15.11.2000 - B 13 RJ 53/00 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65 = juris RdNr 9; BSG vom 27.10.2020 - B 1 KR 45/20 B - juris RdNr 8).
An die Annahme einer Prozessunfähigkeit sind auch mit Blick auf den damit verbundenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht (vgl BSG vom 5.5.1993 - 9/9a RVg 5/92 - SozR 3-1500 § 71 Nr 1 S 3) strenge Anforderungen zu stellen. Es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet (vgl BSG vom 5.5.2010 - B 6 KA 49/09 B - juris RdNr 7 mwN). Ebenso wenig genügen eine bloße Willensschwäche (vgl BGH vom 5.6.1972 - II ZR 119/70 - juris RdNr 9) oder die bloße Unfähigkeit eines Beteiligten, seine Rechte in einer mündlichen Verhandlung selbst wahrzunehmen (vgl BSG vom 4.5.1965 - 11 RA 10/64 - juris RdNr 9; vgl zum Ganzen auch BSG vom 17.7.2020 - B 1 KR 23/18 B - juris RdNr 6; BSG vom 27.1.2022 - B 2 U 175/20 B - SozR 4-1500 § 71 Nr 4 RdNr 8 ff).
c) Die freie Willensbestimmung des Klägers ist danach weder ganz noch für bestimmte Lebensbereiche (partielle Geschäfts- bzw Prozessunfähigkeit) aufgehoben.
Der 8. Senats des BSG hat zur Prozessfähigkeit des Klägers ausgeführt (Beschlüsse vom 6.10.2022 - B 8 SO 2/22 B und B 8 SO 3/22 B):
"Nach diesen Maßstäben ist die freie Willensbildung des Klägers weder in allen Lebensbereichen noch für bestimmte Lebensbereiche aufgehoben. Der Sachverständige D hat schlüssig und überzeugend dargelegt, dass nach gegenwärtigem Kenntnisstand beim Kläger zwar eine psychische Störung vorliegt, eine genaue Diagnosestellung aber nicht mit hinreichender Sicherheit möglich ist. Eine dauerhafte Gesundheitsstörung im Sinne einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit kann danach beim Kläger festgestellt werden. Diese ist jedoch nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht von ausreichender Schwere, um die freie Willensbestimmung in relevantem Maße einzuschränken oder aufzuheben. Der Sachverständige legt überzeugend dar, dass die formalgedanklichen Auffälligkeiten und Hinweise auf Einschränkungen bei der Informationsverarbeitung auch angesichts der sonst gut erhaltenen kognitiven Fähigkeiten kein Ausmaß erreichen, das einen hieraus begründeten Ausschluss der freien Willensbildung zulassen würde. Insbesondere konnte der Sachverständige keinen Wahn feststellen, da die Überzeugungen des Klägers als überwertige Ideen einzustufen sind, verbunden mit dem starken Wunsch, andere von deren Richtigkeit zu überzeugen, aber keine subjektive Gewissheit im Sinne einer unverrückbaren Überzeugung festgestellt werden kann. Der Sachverständige hat sich mit den bereits vorliegenden, älteren sachverständigen Einschätzungen (insbesondere von K, H, S und W und B) kritisch auseinandergesetzt und seine Einschätzung auch im Verhältnis dazu überzeugend begründet. Der Senat konnte sich auf dieser Grundlage die Überzeugung bilden, dass der Kläger prozessfähig ist und hält daher an seiner Einschätzung im Beschluss vom 21.9.2016 im Verfahren B 8 SO 7/16 B, die auf einer älteren und nur nach Aktenlage erfolgten Begutachtung durch B fußte, für das vorliegende Verfahren nicht mehr fest."
Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen des 8. Senats nach eigener Prüfung und aufgrund eigener Überzeugungsbildung vollumfänglich an. Er stützt sich dabei auf die medizinischen Unterlagen aus den beigezogenen Gerichtsakten des Verfahrens L 1 SO 90/20, insbesondere auf das bei diesen Akten befindliche medizinische Sachverständigengutachten des D vom 28.12.2018, dessen ergänzende Stellungnahme vom 27.11.2019 sowie die Niederschrift über seine Anhörung in der mündlichen Verhandlung des SG Mainz vom 5.10.2020. Er verwertet diese Unterlagen im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 415 ff ZPO; vgl dazu BSG vom 13.7.2010 - B 9 VH 1/10 B - juris RdNr 4 ff; BSG vom 6.10.2020 - B 2 U 94/20 B - juris RdNr 10; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 117 RdNr 6). Die Beteiligten sind hierauf vom Berichterstatter hingewiesen worden (vgl BSG vom 31.3.2004 - B 4 RA 224/03 B - SozR 4-1500 § 118 Nr 1 RdNr 4 f).
2. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 mwN; BSG vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN).
a) Die Beschwerde ist jedenfalls insoweit zulässig, als der Kläger substantiiert behauptet (vgl dazu BGH vom 5.12.1995 - XI ZR 70/95 - juris RdNr 13), im Berufungsverfahren prozessunfähig oder zumindest partiell prozessunfähig gewesen zu sein. Insoweit hat der Kläger eine Verletzung des § 71 Abs 1 SGG hinreichend bezeichnet. Darlegungen dazu, dass die Entscheidung des LSG auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann, sind gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO entbehrlich (absoluter Revisionsgrund).
b) Die danach zulässige Verfahrensrüge ist aber unbegründet. Der Kläger ist prozessfähig (siehe oben RdNr 4 ff); er war dies auch im Berufungsverfahren. Der Verfahrensmangel der fehlenden Vertretung im zweiten Rechtszug (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO) liegt daher nicht vor.
c) Die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensmängel betreffen jeweils die Feststellung der Prozessfähigkeit durch das LSG. Ob diese Rügen zulässig erhoben sind, kann der Senat offenlassen. Sie sind jedenfalls unbegründet.
Die Prozessfähigkeit ist nach § 71 Abs 6 SGG iVm § 56 Abs 1 ZPO in jeder Lage des Verfahrens, und damit auch vom erkennenden Senat, von Amts wegen zu prüfen (vgl BSG vom 5.4.2000 - B 5 RJ 38/99 R - BSGE 86, 107 = SozR 3-1200 § 2 Nr 1, RdNr 11 mwN). Die höhere Instanz ist dabei an die Tatsachenfeststellungen der unteren Instanz zu den Prozessvoraussetzungen nicht gebunden und hat auch neues Tatsachenvorbringen zu berücksichtigen (vgl BAG vom 5.6.2014 - 6 AZN 267/14 - BAGE 148, 206 RdNr 13; Althammer in Zöller, ZPO 34. Aufl 2022, § 56 RdNr 2 mwN). Da der erkennende Senat die Prozessfähigkeit des Klägers auf der Grundlage eigener Feststellungen selbst geprüft und bejaht hat (siehe RdNr 4 ff), können sich die behaupteten Verfahrensmängel des LSG bei der Feststellung der Prozessfähigkeit nicht auf die Entscheidung ausgewirkt haben. Die Entscheidung des LSG kann hierauf nicht beruhen.
Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Schlegel |
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Estelmann |
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Geiger |
Fundstellen
Dokument-Index HI15554595 |