Entscheidungsstichwort (Thema)
Sorgfaltsverletzung iS § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB 10. Grundsätzliche Bedeutung
Leitsatz (amtlich)
Die Regelung in § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10 über vorwerfbares Nichtwissen vom Ruhen eines zuerkannten Anspruchs enthält inhaltlich die Definition des Begriffs der groben Fahrlässigkeit.*
Orientierungssatz
Sorgfaltsverletzung iS § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10 - Grundsätzliche Bedeutung:
1. Es unterliegt keinem vernünftigen Zweifel, daß die Regelungen der Sorgfaltsverletzung in § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10 und in § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 denselben rechtlichen Inhalt besitzen.
2. Die Klärungsbedürftigkeit einer aufgeworfenen Rechtsfrage als Voraussetzung für die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG fehlt in der Regel nicht nur dann, wenn sie bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, sondern auch dann, wenn sich ihre Beantwortung ohne weiteres aus dem Gesetz selbst ergibt, sie mithin praktisch außer Zweifel steht.
Normenkette
SGB 10 § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 Fassung: 1980-08-18, § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 Fassung: 1980-08-18; SGG § 160 Abs 2 Nr 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 24.01.1984; Aktenzeichen L 5 Ar 676/83) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 20.01.1983; Aktenzeichen S 8 Ar 3807/82) |
Tatbestand
Die Klägerin bezog seit 1. November 1980 Arbeitslosengeld (Alg), das ihr für 312 Tage bewilligt worden war. Durch Bescheid vom 13. März 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juni 1981 stellte die Beklagte zum Nachteil der Klägerin den Eintritt einer Sperrzeit vom 21. Januar bis 17. Februar 1981 fest, weil die Klägerin trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine ihr vom Arbeitsamt angebotene Arbeit nicht angenommen habe, ohne für ihr Verhalten einen wichtigen Grund zu haben (§ 119 Abs 1 Nr 2 des Arbeitsförderungsgesetzes -AFG-). Die hiergegen erhobene Klage ist rechtskräftig abgewiesen worden (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Baden-Württemberg vom 24. Juni 1982).
Im anhängigen Verfahren wendet sich die Klägerin dagegen, daß die Beklagte die Bewilligung von Alg für die Dauer der oa Sperrzeit aufgehoben hat und von ihr das in dieser Zeit gezahlte Alg in Höhe von 1.233,60 M zurückfordert (Bescheid vom 13. März 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 1982). Während das Sozialgericht (SG) der Klage stattgegeben hat (Urteil vom 20. Januar 1983), hat sie das LSG abgewiesen (Urteil vom 24. Januar 1984). Das LSG hat die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch (SGB 10) für eine (rückwirkende) Aufhebung der Alg-Bewilligung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse als Folge des Eintritts der Sperrzeit bejaht. Die Klägerin habe nämlich nur deshalb nicht gewußt, daß der bewilligte Anspruch insoweit kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen ist, weil sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Klägerin mit der Beschwerde. Sie macht mit näheren Ausführungen geltend, die Rechtssache besitze grundsätzliche Bedeutung. Die Entscheidung des Rechtsstreits hänge von der Frage ab, ob die Klägerin iS des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB 10 hinsichtlich ihrer Unkenntnis vom Ruhen des Anspruchs die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe. Zu klären sei, was hierunter zu verstehen sei. Diese Klärung sei im Interesse der Allgemeinheit erforderlich. Die Beantwortung der Rechtsfrage ergebe sich nicht aus dem Gesetz; insbesondere sei nach Gesetzeswortlaut und systematischen Unterschieden zweifelhaft, ob die genannte Formulierung den zivilrechtlichen Begriff der groben Fahrlässigkeit meine.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet. Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage verleiht der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung, so daß auch eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht in Betracht kommt. Die Rechtsfrage bedarf nämlich nicht der Klärung durch eine Revisionsentscheidung.
Die Klägerin hat zutreffend erkannt, daß die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage als Voraussetzung für die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG in der Regel nicht nur dann fehlt, wenn sie bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, sondern auch dann, wenn sich ihre Beantwortung ohne weiteres aus dem Gesetz selbst ergibt, sie mithin praktisch außer Zweifel steht (vgl dazu Hennig/Danckwerts/König, SGG, Erl 7.4 zu § 160; Meyer-Ladewig, SGG, RdNr 7 zu § 160, jeweils mwN). Entgegen der Auffassung der Klägerin ist dies für die von ihr aufgeworfene Rechtsfrage der Fall.
Nach § 48 Abs 1 Satz 2Nr 4 SGB 10 soll ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse, also ggf rückwirkend, aufgehoben werden, wenn ua der Betroffene wußte, daß der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen ist. Dasselbe gilt, wenn er dieses zwar nicht positiv wußte, sein Nichtwissen aber darauf beruht, daß er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. In der letztgenannten Formulierung sieht die Klägerin zu Unrecht eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, die der Klärung durch eine Revisionsentscheidung bedarf; denn sie enthält inhaltlich die Definition des Begriffs der groben Fahrlässigkeit. Dies ergibt sich ohne weiteres aus dem geregelten Inhalt des Gesetzes und der damit ausdrücklich verfolgten Absicht.
Zwar ist nicht in § 48 SGB 10 selbst, jedoch in § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB 10 der Begriff der groben Fahrlässigkeit spiegelgleich definiert; es heißt dort "...; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat". Es unterliegt keinem vernünftigen Zweifel, daß die Regelungen der Sorgfaltsverletzung in § 48 Abs 1Satz 2Nr 4 SGB 10 und in § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB 10 denselben rechtlichen Inhalt besitzen. Beide Vorschriften betreffen die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte (auch) für die Vergangenheit. Sprachliche Unterschiede beruhen lediglich auf den Unterschieden der zu regelnden Tatbestände. Die Fassung beider Vorschriften geht auf die Beschlüsse des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung zurück. Die wörtliche Übereinstimmung der Definition der groben Fahrlässigkeit in § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB 10 mit der Regelung der Sorgfaltsverletzung in § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB 10 sollte ausdrücklich der gegenseitigen Anpassung beider Regelungen dienen (vgl Schriftlicher Bericht des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung, Begründung zu § 46, BT-Drucks 8/4022). Übrigens vermerkt der Ausschußbericht (aaO zu § 43), daß die Aufnahme der Definition der groben Fahrlässigkeit in § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 die Rechtsanwendung erleichtern soll und die Definition inhaltlich der allgemein anerkannten Standarddefinition des Bundesgerichtshofs entspreche.
Der Einwand der Klägerin, Unklarheit ergebe sich deshalb, weil in § 48 Abs 1 Nr 2 SGB 10 von "grob fahrlässig" gesprochen werde, nicht aber in Nr 4, ist angesichts dessen ohne Relevanz. Auch dieser sprachliche Unterschied beruht ganz offenbar lediglich auf der Verschiedenheit der zu regelnden Tatbestände. Wegen der inhaltsgleich zu § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB 10 erfolgten gesetzlichen Definition der groben Fahrlässigkeit in § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB 10 und ihrer daraus folgenden Maßgeblichkeit können schließlich die Darlegungen der Klägerin über Unterschiede zwischen Sorgfaltsmaßstäben im Zivil- und Sozialrecht hier keinerlei Beachtung beanspruchen.
Ergibt sich nach allem ohne vernünftigen Zweifel bereits aus Inhalt und Regelungszusammenhang der Vorschrift ebenso wie aus der mit ihr verfolgten und ausdrücklich erklärten Absicht des Gesetzgebers, daß ein in besonders schwerem Maße auf der Verletzung der erforderlichen Sorgfalt beruhendes Nichtwissen vom Ruhen eines zuerkannten Anspruchs nichts anderes bedeutet, als ein auf grober Fahrlässigkeit beruhendes Nichtwissen, bedarf die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage nach dem Rechtsinhalt der ersteren Formulierung keiner weiteren Klärung. Daß aber der Begriff der groben Fahrlässigkeit noch einer Klärung bedürfe, hat die Klägerin nicht geltend gemacht.
Die Beschwerde muß nach allem als unbegründet abgelehnt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen