Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Nachversicherung von Bezügen eines Beamten, die nach unwirksamer Zustellung einer Entlassungsverfügung noch gewährt worden sind
Orientierungssatz
1. Der Zeitpunkt des Ausscheidens gemäß § 9 Abs 1 AVG bestimmt sich nach der tatsächlichen Beendigung der nachzuversichernden Beschäftigung und damit allein nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen; auf die beamtenrechtliche Beurteilung kommt es insoweit nicht an. Daraus ergibt sich, daß für den Zeitpunkt des Ausscheidens aus einer versicherungsfreien Beschäftigung iS des § 9 Abs 1 AVG der Zeitpunkt, bis zu welchem dem bisher versicherungsfrei Beschäftigten Bezüge - ob zu Recht oder versehentlich - fortgezahlt worden sind, als solcher nicht maßgebend ist; hinzukommen muß, daß die Fortzahlung der Bezüge eine Gegenleistung für eine tatsächlich ausgeübte (Weiter-) Beschäftigung darstellt, mag diese auch lediglich auf der aufschiebenden Wirkung der gegen eine Entlassungsverfügung gerichteten Rechtsbehelfe beruhen.
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß wurde nicht zur Entscheidung angenommen (vgl BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 19.2.1991 - 1 BvR 461/90).
Normenkette
AVG § 9 Abs 1; RVO § 1232 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.11.1988; Aktenzeichen L 4 An 121/87) |
Gründe
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. November 1988 ist teils unzulässig, teils unbegründet.
Auf die Beschwerde ist die Revision nur zuzulassen, wenn (1.) die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder (2.) das Urteil des LSG von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder (3.) ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, wobei der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden kann, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 SGG). In der Begründung der Beschwerde muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des LSG abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Bei der Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit der Nichtzulassungsbeschwerde darf der beschließende Senat lediglich das Vorbringen des Klägers in seiner Begründungsschrift vom 18. März 1989 berücksichtigen. Seine ergänzenden Schriftsätze vom 22. Mai und 11. Dezember 1989 sind außer Betracht zu lassen. Sie sind erst am 23. Mai bzw 12. Dezember 1989 und somit nach Ablauf der bis zum 21. März 1989 verlängerten Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde beim BSG eingegangen.
Der Kläger macht als Grund für eine Zulassung der Revision in erster Linie einen Verfahrensmangel in Gestalt einer Verletzung der §§ 103 und 106 SGG dadurch geltend, daß das LSG seinem in der mündlichen Verhandlung am 18. November 1988 gestellten Antrag auf Beiziehung der gesamten Gefangenenpost aus der Zeit der Untersuchungshaft nicht entsprochen habe. Aus seinen (des Klägers) während der Haft verfaßten Schreiben ergebe sich, daß er im Februar/März 1976 noch nicht über seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis und schon gar nicht über die Entlassungsverfügung vom 6. Februar 1976 informiert gewesen sei. Die Meinung des LSG, sein (des Klägers) Beweisangebot sei nicht geeignet gewesen, den Nachweis dafür zu erbringen, daß er über seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis nicht mündlich informiert worden sei, sei offensichtlich falsch. In seiner Korrespondenz bis zu seiner Entlassung im Mai 1976 habe er immer wieder klar zum Ausdruck gebracht, er gehe davon aus, daß das Beamtenverhältnis noch nicht beendet sei. Die Begründung, mit der das LSG den urkundlichen Beweis nicht erheben zu müssen geglaubt habe, entbehre jeder sachlichen und rechtlichen Grundlage. Auf diesem Verfahrensverstoß beruhe die Entscheidung. Das LSG hätte der Gefangenenpost den urkundlichen Beweis entnehmen können, daß er (Kläger) im Februar/März 1976 noch nicht über seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis informiert gewesen sei, so daß von einem "Ausscheiden" in diesem Zeitraum nicht gesprochen werden könne und dem Anspruch auf Nachversicherung auch für den Zeitraum nach dem 11. Februar 1976 hätte stattgegeben werden müssen.
Mit dieser Rüge ist die Nichtzulassungsbeschwerde unbegründet. Es ist nicht ersichtlich, daß das LSG dem Antrag des Klägers auf "Beiziehung der Gefangenenpost" ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG). Ob dies der Fall ist, ist ausschließlich auf der Grundlage des sachlich-rechtlichen Standpunktes des LSG, nicht desjenigen des BSG zu beurteilen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 34 S 50). Hingegen ist es für die Frage, ob das LSG einem Beweisantrag "ohne hinreichende Begründung" nicht gefolgt ist, nicht maßgebend, ob das LSG die Nichtstattgabe des Beweisantrages hinreichend begründet oder nicht hinreichend begründet hat. Es kommt nicht darauf an, ob die Ablehnung des Beweisantrages hinreichend begründet worden ist, sondern darauf, ob die Ablehnung hinreichend begründet ist. Ohne "hinreichenden" Grund bedeutet in diesem Zusammenhang ohne Vorliegen eines Grundes, der hinreichend für die Annahme ist, daß das LSG sich nicht hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 5 S 5f). Das ist auf der Grundlage des sachlich-rechtlichen Standpunktes des LSG im Beschwerdeverfahren in vollem Umfange nachzuprüfen.
Das LSG ist unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG (vgl die Hinweise auf S 13 des Urteils des LSG) davon ausgegangen, es sei allein nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen und nicht nach beamtenrechtlichen oder sonstigen dienstrechtlichen Vorschriften zu beurteilen, ob ein Ausscheiden aus der Beschäftigung iS des § 9 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vorliege; entscheidend sei die tatsächliche Beendigung der versicherungsfreien Tätigkeit. Dafür wiederum erheblich sei die "allein maßgebliche Kenntnis von der Beendigung des Beamtenverhältnisses" (S 18 des Urteils des LSG). Ausgehend von dieser sachlich-rechtlichen Auffassung erscheint es nicht unbedenklich, daß das LSG mit der dafür gegebenen Begründung (S 18 des Urteils des LSG) dem Antrag des Klägers auf Beiziehung der Gefangenenpost nicht entsprochen hat.
Dies braucht jedoch nicht vertieft und abschließend erörtert zu werden. Jedenfalls aus einem anderen Grunde ist das LSG dem Beweisantrag nicht ohne hinreichende Begründung gefolgt. Eine Verletzung des § 103 SGG durch unbegründete Übergehung eines Beweisantrages kommt nur dann in Betracht, wenn ein Beweisantritt iS der einschlägigen Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO) erfolgt ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 45 S 44). Daran fehlt es hier. Wie der Kläger selbst hervorhebt (S 4 des Schriftsatzes vom 18. März 1989), hat er eine Verwertung der "Gefangenenpost" im Wege des Urkundsbeweises begehrt. Der Urkundsbeweis ist gemäß § 118 Abs 1 SGG nach näherer Maßgabe der §§ 415 ff ZPO anzutreten. Der Kläger hätte daher, soweit sich die "Gefangenenpost" in seinem Besitz befindet, diese vorlegen (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 420 ZPO), anderenfalls unter Wahrung der dafür vorgeschriebenen Förmlichkeiten (vgl § 430 ZPO) beantragen müssen, zur Herbeischaffung der Urkunden eine Frist zu bestimmen (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 428 ZPO). Das ist nicht geschehen. Darauf, ob der Vorsitzende des erkennenden Senats des LSG gemäß § 106 Abs 1 SGG den Kläger zu einem formgerechten Antritt des Urkundsbeweises hätte veranlassen müssen, ist hier nicht einzugehen (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160 Nr 13 S 11). Der Kläger hat hierzu in seiner Beschwerdebegründung nichts vorgetragen. Die bloße Benennung des § 106 SGG (S 5 des Schriftsatzes vom 18. März 1989) entspricht dem Erfordernis einer "Bezeichnung" des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) nicht. Ebenfalls nicht dargelegt hat der Kläger, daß das angefochtene Urteil auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann, dh das LSG angesichts der Maßgeblichkeit der tatsächlichen Verhältnisse für die Beendigung des versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisses die durch die "Gefangenenpost" angeblich nachweisbaren Tatsachen hätte aufklären müssen.
Der Kläger macht als weiteren Verfahrensmangel eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 2 SGG geltend. Das LSG habe die Überzeugung gewonnen, daß er (Kläger) schon im Februar 1976 in der Haft Kenntnis von seiner Entlassung aus dem Beamtenverhältnis erhalten habe. Diese Überzeugung habe es sich aufgrund seiner (des Klägers) Ausführungen vor dem Verwaltungsgericht (VG) Köln am 13. August 1980 gebildet. Damals habe er ausgesagt, ihm sei in der Untersuchungshaft im Februar oder März 1976 der Inhalt der Entlassungsverfügung mitgeteilt worden. Daraus lasse sich nicht entnehmen, daß er mit Sicherheit schon im Februar 1976 Kenntnis von seiner Entlassung erhalten habe. Für diese Überzeugungsbildung enthalte das angefochtene Urteil keinerlei Begründung.
In diesem Umfange ist die Nichtzulassungsbeschwerde unzulässig. Der Kläger hat den Verfahrensmangel einer Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 2 SGG nicht formgerecht bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). An einer solchen Bezeichnung fehlt es dann, wenn der erhobenen Verfahrensrüge durch den weiteren Vortrag des Beschwerdeführers die tatsächlichen Grundlagen entzogen werden (BSG SozR 1500 § 160a Nr 12 S 18). Das ist in diesem Zusammenhang der Fall. Wenn der Kläger selbst ausführt, das LSG habe im Urteil dargelegt, es folge für seine Überzeugung, daß er schon im Februar 1976 Kenntnis von seiner Entlassung aus dem Beamtenverhältnis erhalten habe, seinen (des Klägers) Ausführungen vor dem VG Köln am 13. August 1980, ergibt sich daraus zwangsläufig, daß das LSG seine Überzeugungsbildung eben doch begründet hat. Damit läuft das Vorbringen des Klägers darauf hinaus, das LSG habe nicht zu der von ihm gewonnenen Überzeugung gelangen dürfen. Hierdurch wird die Rüge einer Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG erhoben. Darauf darf der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG).
Der Kläger trägt weiter vor, das Urteil des LSG weiche von demjenigen des beschließenden Senats vom 23. Juli 1986 - 1 RA 35/85 - (BSG SozR 2200 § 1232 Nr 22) ab, wonach eine Nachversicherung auch für solche Zeiten vorzunehmen sei, in denen ein Beamter auf Probe während der aufschiebenden Wirkung der gegen die Entlassungsverfügung gerichteten Rechtsbehelfe weiter beschäftigt worden sei. Ihm (dem Kläger) sei auch noch für den Monat März 1976 rechtskräftig und rechtswirksam Entgelt gezahlt worden, welches, wenn es sich nicht um Beamtenbezüge gehandelt hätte, eindeutig der Beitragspflicht zur gesetzlichen Sozialversicherung unterlegen hätte. Dieses Entgelt sei auf der Basis der im Urteil des BSG vom 23. Juli 1986 entwickelten Rechtsgrundsätze bei der Nachversicherung zu berücksichtigen.
Auch in diesem Umfange ist die Nichtzulassungsbeschwerde unzulässig. Seiner Obliegenheit zur "Bezeichnung" der Divergenz (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) genügt der Beschwerdeführer nicht allein durch den Hinweis auf eine bestimmte höchstrichterliche Entscheidung mit der Behauptung, das Urteil des LSG sei davon abgewichen. Abweichen kann das Tatsachengericht allein von bestimmten Aussagen einer höchstrichterlichen Rechtsprechung, so daß der Beschwerdeführer notwendigerweise auch darzulegen hat, mit welcher konkreten, hiermit unvereinbaren Aussage das LSG hiervon abgewichen ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 29 S 33). Eine derartige konkrete rechtliche Aussage im Urteil des LSG hat der Kläger in der Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde nicht dargelegt.
Der Kläger bringt schließlich vor, daß dann, wenn das Urteil des LSG nicht von demjenigen des BSG vom 23. Juli 1986 (aaO) abweiche, die Revision wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen sei. Klärungsbedürftig sei dann die Rechtsfrage, ob Bezüge eines Beamten, die diesem nach unwirksamer Zustellung einer Entlassungsverfügung noch gewährt worden seien, der Nachversicherung gemäß § 9 Abs 1 AVG unterlägen. Diese Rechtsfrage sei bislang höchstrichterlich noch nicht geklärt und bedürfe einer Entscheidung durch das BSG.
In diesem Umfange ist die Nichtzulassungsbeschwerde unbegründet. Die vom Kläger aufgezeigte Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig. Ihre Beantwortung ergibt sich schon aus der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Recht der Nachversicherung. Diese knüpft nach der insoweit eindeutigen Regelung des § 9 Abs 1 AVG an das Ausscheiden aus einer versicherungsfreien Beschäftigung an. Der Zeitpunkt dieses Ausscheidens bestimmt sich, wie (vor Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde) zuletzt der beschließende Senat in seinem Urteil vom 23. Juli 1986 (BSG SozR 2200 § 1232 Nr 22 S 60) ausgesprochen hat, nach der tatsächlichen Beendigung der nachzuversichernden Beschäftigung und damit allein nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen; auf die beamtenrechtliche Beurteilung kommt es insoweit nicht an. Schon daraus ergibt sich, daß für den Zeitpunkt des Ausscheidens aus einer versicherungsfreien Beschäftigung iS des § 9 Abs 1 AVG der Zeitpunkt, bis zu welchem dem bisher versicherungsfrei Beschäftigten Bezüge - ob zu Recht oder versehentlich - fortgezahlt worden sind, als solcher nicht maßgebend ist; hinzukommen muß, daß die Fortzahlung der Bezüge eine Gegenleistung für eine tatsächlich ausgeübte (Weiter-) Beschäftigung darstellt, mag diese auch lediglich auf der aufschiebenden Wirkung der gegen eine Entlassungsverfügung gerichteten Rechtsbehelfe beruhen. Der Kläger ist jedenfalls nach dem 11. Februar 1976 bis zum Ende des hier streitigen Zeitraums (31. Januar 1978) von seinem bisherigen Dienstherrn nicht mehr (weiter-) beschäftigt worden. Dies allein ist nach bereits feststehender Rechtsprechung für den Zeitpunkt seines Ausscheidens aus seiner versicherungsfreien Beschäftigung rechtserheblich. Einer erneuten höchstrichterlichen Entscheidung der Rechtsfrage, nach welchen Kriterien der Begriff des "Ausscheidens" iS des § 9 Abs 1 AVG zu bestimmen ist, bedarf es nicht.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Fundstellen