Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Bestellung eines besonderen Vertreters. Prozessunfähigkeit. Demenz
Orientierungssatz
1. Prozessunfähig sind gem § 71 Abs 1 SGG Personen, die sich nicht durch Verträge verpflichten können, die also nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB sind (vgl BSG vom 15.11.2000 - B 13 RJ 53/00 B = SozR 3-1500 § 160a Nr 32). Das ist nach § 104 Nr 2 BGB der Fall, wenn sich eine Person in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn ein Betroffener nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet; dies gilt auch bei fortschreitender Demenz.
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 1. Kammer vom 10.9.2018 - 1 BvR 54/18).
Normenkette
SGG § 71 Abs. 1, § 72 Abs. 1, § 73 Abs. 4; BGB § 104 Nr. 2
Verfahrensgang
Thüringer LSG (Urteil vom 29.07.2014; Aktenzeichen L 6 KR 303/12) |
SG Altenburg (Urteil vom 25.11.2011; Aktenzeichen S 13 KR 243/05) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 29. Juli 2014 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten über den versicherungsrechtlichen Status des Klägers in der gesetz-lichen Krankenversicherung im Zeitraum vom 21.7.2001 bis 30.6.2004. Der am 1947 geborene Kläger war seit 1973 als Zahnarzt und seit 1991 in eigener Praxis selbstständig tätig. Der Kläger gab seine Praxis 2004 aus gesundheitlichen Gründen auf und bezog Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Höhe von ca 2000 Euro monatlich. Hintergrund des Streits der Beteiligten sind Beitragsforderungen der Beklagten in Höhe von ca 19 500 Euro (Stand: Juli 2011) inkl Säumniszuschlägen; der Kläger begehrt außerdem weitere Krankengeldzahlungen.
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, dass das LSG den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß ermittelt habe. Er regt die Bestellung eines besonderen Vertreters an.
II. 1. Die Beschwerde ist unzulässig, da sie nicht von einem gemäß § 73 Abs 4 SGG vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegt worden ist. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG vom 29.7.2014 hat der Kläger mit einem von ihm unterzeichneten Schreiben vom 4.9.2014 Beschwerde eingelegt. Das Urteil des LSG ist ihm am 11.8.2014 zugestellt worden. Auf das Erfordernis, sich vor dem BSG durch einen der in § 73 Abs 4 SGG aufgeführten Prozessbevollmächtigten vertreten zu lassen (zur Verfassungsmäßigkeit vgl BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 13 mwN), ist der Kläger in der Rechtsmittelbelehrung des LSG-Urteils und mit Schreiben des Senats vom 10.9.2014, 8.1.2015 und 30.6.2017 hingewiesen worden. In diversen Verfahren vor dem BSG, auch in Verfahren gegen die Nichtzulassung der Revision (zB B 6 KA 19/14 B, B 6 KA 22/13 B, B 6 KA 23/13 B), hat der Kläger einen Bevollmächtigten beauftragt. Der Senat geht nach Auswertung der diversen beigezogenen medizinischen Unterlagen davon aus, dass der Kläger prozessfähig und insbesondere in der Lage ist, wirksam einen Anwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen zu beauftragen.
Ein besonderer Vertreter war nicht zu bestellen. Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Die vorliegenden Unterlagen rechtfertigen nicht die Annahme, dass der Kläger prozessunfähig ist. Prozessunfähig sind gemäß § 71 Abs 1 SGG Personen, die sich nicht durch Verträge verpflichten können, die also nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB sind (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 64). Das ist nach § 104 Nr 2 BGB der Fall, wenn sich eine Person in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn ein Betroffener nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet; dies gilt auch bei fortschreitender Demenz (Palandt/Ellenberger, BGB, 76. Aufl 2017, § 104 RdNr 5). Diese sehr strengen Voraussetzungen für die Annahme von Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit sind zu verneinen. Hierbei musste sich der Senat auf die beigezogenen medizinischen Unterlagen beschränken, denn der Kläger selbst hat auf Hinweis im vorliegenden Verfahren sinngemäß erklärt, dass er eine weitere Begutachtung ablehne. Weitere Sachverhaltsermittlungen von Amts wegen kommen in dieser Situation nicht in Betracht.
Die den Kläger behandelnden Ärzte beschreiben ihn zwar teilweise als verhandlungsunfähig, da die ständige Konfrontation mit den gerichtlichen Streitverfahren, insbesondere im Rahmen einer mündlichen Verhandlung, zu einer Verschlechterung der Depression führen könnte. Auch in dem vom Senat eingeholten Befundbericht des Dr. A. vom 30.3.2015 wird dem Kläger eine Verhandlungsunfähigkeit attestiert. Der Kläger konnte sich jedoch im Rahmen der durchgeführten Begutachtungen verbal ausdrücken und war orientiert zu Raum und Zeit. Er konnte sich um seine Angelegenheiten kümmern oder sich Hilfe Dritter bedienen, zB Rechtsanwälte beauftragen. Aus diesem Grund wurde auch die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt (Gutachten Dr. G. vom 25.9.2010). Der Auszug seiner Ehefrau hatte die psychische Situation verschlechtert und die Depression chronifiziert. Ausweislich der vorliegenden Gutachten aus dem Verfahren B 9 SB 84/15 B (aus den Jahren 2011 bis 2013) leidet der Kläger an Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen nebst einer Antriebsstörung; es besteht eine Grübelsymptomatik. Wahnwahrnehmungen, Halluzinationen oder sonstiges psychotisches Erleben liegen nicht vor. Zudem liegt eine Schmerzsymptomatik vor. Der Kläger zeigte außerdem eine Verwahrlosungstendenz, da auch dementielle Zustände hinzugetreten waren. Die beschriebenen Symptome bei Depression und Schmerzstörung begründen keine Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit, denn aus ihnen ergibt sich nicht, dass der Kläger nicht mehr in der Lage wäre, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Sie belegen lediglich eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit und das Erfordernis, dass der Kläger sich der Hilfe Dritter bedient. In diesem Kontext ist auch das dem Kläger durch Bescheid vom 17.4.2015 ab 30.12.2013 zuerkannte Merkzeichen "H" zu sehen. Als "hilflos" ist in diesem Zusammenhang derjenige anzusehen, der infolge von Gesundheitsstörungen - nach Teil 2 SGB IX und dem Einkommensteuergesetz - "nicht nur vorübergehend" - für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Häufig und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages sind insbesondere An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme, Körperpflege, Verrichten der Notdurft.
Außerdem sind notwendige körperliche Bewegung, geistige Anregung und Möglichkeiten zur Kommunikation zu berücksichtigen (vgl Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht ≪Teil 2 SGB IX≫ 2008 Nr 21; Teil A Nr 4 Buchst c Anl zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung). Hilflosigkeit nach Teil 2 SGB IX zwingt daher nicht automatisch zur Annahme von Prozessunfähigkeit. Aus der zuletzt vom Kläger vorgelegten Anlage zum Protokoll Pflegeeinsatz nach § 37 Abs 3 SGB XI vom 13.2.2017 ergibt sich, dass der Kläger aktuell an Depressionen, Neuropathie, M. Parkinson und Fibromyalgie leidet. Die Anlage zeigt allenfalls eine Verschlechterung des körperlichen Gesundheitszustandes des zwischenzeitlich siebzigjährigen Klägers auf, jedoch keine Verschlechterung seines geistigen Gesundheitszustandes. Zudem belegt der darin ausdrücklich attestierte Wunsch des Klägers, sein Haus behindertengerecht umzubauen, dass er durchaus zu vernünftigen Erwägungen in der Lage ist. Eine Betreuung wurde bis heute nicht eingerichtet. Aus dem Umstand, dass der Kläger offenbar - ggf mit selbst organisierter Hilfe - seine gesamten wirtschaftlichen Angelegenheiten nach wie vor eigenständig regelt und mit dem Gericht zu korrespondieren in der Lage ist, darf unter Berücksichtigung der oben erwähnten medizinischen Stellungnahmen geschlossen werden, dass der Kläger zwar psychisch erkrankt ist, damit die Schwelle zur Prozessunfähigkeit entgegen der aktuellen Beurteilung seiner "Helfer" im Schreiben vom 23.7.2017 jedoch nicht erreicht ist.
Die von dem Kläger selbst eingelegte Beschwerde ist somit gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen.
2. Der konkludent gestellte Prozesskostenhilfeantrag hat keinen Erfolg. Voraussetzung für die Bewilligung von PKH und die damit verbundene Beiordnung eines Rechtsanwalts ist nach der Rechtsprechung sowohl des BSG als auch der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes ua, dass nicht nur der (grundsätzlich formlose) Antrag auf PKH, sondern auch die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der für diese gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 117 Abs 2 und 4 ZPO), dh mit dem gemäß § 117 Abs 3 ZPO durch die Prozesskostenhilfeformularverordnung vom 6.1.2014 (BGBl I 34) in neuer Fassung eingeführten Formular, bis zum Ablauf der Beschwerdefrist eingereicht wird (vgl BSG SozR 1750 § 117 Nr 1 und 3; BVerfG SozR 1750 § 117 Nr 2 und 6; BVerfG NJW 2000, 3344). Der Kläger hat zwar zwischenzeitlich am 31.7.2017 ein solches Formular vorgelegt, jedoch sind die enthaltenen Angaben zum einen veraltet und zum anderen wurden keine Belege beigefügt. Der Kläger hat damit seine Bedürftigkeit nicht dargetan. Die Angaben in dem Formular über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aus dem Jahr 2009 reichen nicht aus, um eine gegenwärtige Bedürftigkeit darzulegen. Sie belegen darüber hinaus auch keine Bedürftigkeit, denn der Kläger gab im Jahr 2009 Einnahmen in Höhe von monatlich ca 2000 Euro an. Die Angabe, er zahle Darlehensraten in Höhe von ca 1500 Euro monatlich, ist ohne weitere Belege und Erläuterungen weder plausibel noch ist ein solcher Betrag ohne Weiteres als Abzugsposten berücksichtigungsfähig. Soweit in dem vom Kläger unterzeichneten Schreiben vom 23.7.2017, das offenbar von seinen "Helfern" entworfen wurde, ausgeführt wird, der Kläger sei "krankheitsbedingt" nicht in der Lage, aktuelle Angaben zu machen, ist dies weder glaubhaft gemacht noch angesichts seines aktuellen Bemühens um einen behindertengerechten Umbau seines Hauses nachvollziehbar. Ein besonderer Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG, dessen Rechte nicht denen eines Betreuers entsprechen, sondern die auf die Führung der Prozesse und die damit verbundenen Handlungen beschränkt sind, könnte - entgegen der Ansicht des Klägers - die Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht für diesen abgeben, da er nicht in der Lage ist, sich die erforderlichen Informationen zu verschaffen. Darüber hinaus fehlt es aber nach dem oben Gesagten ohnehin an den Voraussetzungen des § 72 Abs 1 SGG.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 11205344 |
NZS 2017, 799 |