Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Prozessurteil statt Sachurteil. Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses. Berufungsrücknahme. Auslegung einer Prozesserklärung. wirklicher Wille. verfassungsrechtliche Grenzen
Orientierungssatz
1. Bei Prozesserklärungen wie einer Berufungsrücknahme hat das Revisionsgericht die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, also das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln.
2. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet es dem Richter, das Verfahrensrecht so auszulegen und anzuwenden, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl BVerfG vom 2.12.1987 - 1 BvR 1291/85 = BVerfGE 77, 275).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3; BGB § 133; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3
Verfahrensgang
SG Berlin (Gerichtsbescheid vom 08.10.2012; Aktenzeichen S 24 AS 14342/11) |
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 11.06.2015; Aktenzeichen L 29 AS 2828/12) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Juni 2015 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Im Streit ist noch ein Anspruch des Klägers für die Zeit vom 1.2.2011 bis 31.7.2011 auf Leistungen für einen Mehrbedarf nach dem SGB II wegen Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit seinem Sohn. Die ursprünglich auch auf höhere Regelleistungen gerichtete Klage blieb vor dem SG Berlin erfolglos (Gerichtsbescheid vom 8.10.2012). Im Berufungsverfahren hat der dort unvertretene Kläger sein zunächst in vollem Umfang aufrechterhaltenes Begehren beschränkt auf die Zahlung von Mehrbedarfsleistungen, beziffert auf monatlich 49 Euro.
In einem parallel geführten Berufungsverfahren vor dem LSG Berlin-Brandenburg wegen Leistungen für den vorhergehenden Bewilligungszeitraum vom 1.8.2010 bis zum 31.1.2011 hatte der Kläger ua beantragt, als Mehrbedarf für Fahrtkosten 17,44 Euro monatlich zu gewähren. In diesem Verfahren war erstinstanzlich vom SG Berlin ein solcher Betrag für Fahrtkosten errechnet, aber nicht zuerkannt worden, weil das SG die Höhe dieses Mehrbedarfs als nicht erheblich angesehen hatte (Urteil vom 6.3.2013 zum Az S 205 AS 34324/10). Im vorliegenden Berufungsverfahren hat der Kläger mit Schreiben vom 21.5.2013 seine Berufungsbegründung aus dem Parallelverfahren (vom 7.4.2013) sowie das Urteil des SG Berlin übersandt und Folgendes ausgeführt: "… bittet der Kläger um Kenntnisnahme des beiliegenden Schriftsatzes des Klägers in ähnlicher Sache und macht ihn zum Gegenstand des Verfahrens. Er bittet in gleicher Weise mit dem ebenfalls in Kopie beiliegenden Urteil des SG Berlin vom 06.03.2013 (Az.: S 205 AS 34324/10) zu verfahren." Zudem hat der Kläger in einem am 12.12.2014 eingegangenen Schriftsatz wegen der (erneuten) Ablehnung von PKH durch das LSG darauf hingewiesen, dass in dem parallelen Berufungsverfahren das LSG "bei nunmehr identischem Klageumfang" PKH bewilligt habe.
Der Beklagte hat für den streitbefangenen Zeitraum während des Berufungsverfahrens Leistungen wegen Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts von monatlich 17,44 Euro anerkannt und bewilligt (Änderungsbescheid vom 6.1.2015). Das LSG hat daraufhin die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen (Urteil vom 11.6.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Kläger habe mit Schriftsatz vom 21.5.2013 unter Hinweis auf seine Berufungsschrift im Parallelverfahren und auf das Urteil des SG Berlin vom 6.3.2013 seine Berufung im hiesigen Verfahren insoweit zurückgenommen, als diese monatliche Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts in Höhe von mehr als monatlich 17,44 Euro zum Gegenstand hatte. Nach der Bewilligung monatlicher Fahrtkosten in Höhe von 17,44 Euro durch den Änderungsbescheid des Beklagten sei das Rechtsschutzbedürfnis für die Berufung entfallen. Selbst bei unterstellter Zulässigkeit der Berufung hätte kein Anspruch des Klägers in der von ihm geltend gemachten Höhe im Hinblick auf den bereits bewilligten Betrag von 17,44 Euro und den im Regelsatz enthaltenen Betrag von 22,78 Euro bestanden.
Gegen die Nichtzulassung der Revision durch das LSG wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Er macht geltend, das LSG hätte durch Sachurteil statt durch Prozessurteil entscheiden müssen, denn es sei verfahrensfehlerhaft von einer teilweisen Berufungsrücknahme hinsichtlich der Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts ausgegangen.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg (§ 160a Abs 5 SGG). Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das LSG-Urteil beruht auf einem von dem Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG bezeichneten Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Zutreffend rügt dieser, dass das LSG zu Unrecht durch Prozessurteil und nicht in der Sache entschieden hat. Darin liegt ein Verfahrensmangel, denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung (stRspr, vgl nur Senatsbeschluss vom 5.6.2014 - B 4 AS 349/13 B - RdNr 9; BSG Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - RdNr 5, jeweils mwN).
Das LSG hätte die Berufung des Klägers nicht mit der Begründung, es fehle ein Rechtsschutzbedürfnis, als unzulässig verwerfen dürfen. Entgegen der Auffassung des LSG hat der Kläger seine Berufung nämlich nicht zurückgenommen, soweit diese auf höhere Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts als 17,44 Euro monatlich gerichtet war.
Bei Prozesserklärungen wie einer Berufungsrücknahme hat das Revisionsgericht die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, also das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln. Dabei ist nach dem in § 133 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt, bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (vgl zum Ganzen nur BSG Urteil vom 29.5.1980 - 9 RV 8/80 - juris RdNr 8; BSG Urteil vom 25.6.2002 - B 11 AL 23/02 R - juris RdNr 21; BSG Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2; BSG Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 19/15 B - RdNr 6). Bei der Auslegung sind zudem das aus Art 3 Abs 1 GG abzuleitende Willkürverbot, das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art 19 Abs 4 GG und das Rechtsstaatsprinzip zu beachten. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet es dem Richter, das Verfahrensrecht so auszulegen und anzuwenden, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl BVerfGE 77, 275, 284 mwN). Eine angemessene Auslegung dient also zugleich der Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl dazu BVerfGE 107, 395, 401 ff = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1, RdNr 5 ff; BVerfGE 110, 77, 85).
Danach durfte das LSG aus dem klägerischen Schreiben vom 21.5.2013 nicht auf eine teilweise Berufungsrücknahme des Klägers schließen. Eine ausdrückliche Berufungsrücknahme bezogen auf die Mehrbedarfsleistungen wegen der Ausübung des Umgangsrechts findet sich - anders als etwa bei der wörtlich erklärten Rücknahme der "Berufungsklage" bezogen auf die ursprünglich beantragten höheren Regelleistungen - in diesem Schreiben nicht und auch in keinem anderen der vom Kläger persönlich verfassten Schriftsätze. Denn weder der Formulierung im Schreiben vom 21.5.2013, der Kläger bitte um Kenntnisnahme des beiliegenden Schriftsatzes in ähnlicher Sache und mache ihn zum Gegenstand des Verfahrens, noch seiner Anregung, "in gleicher Weise mit dem ebenfalls in Kopie beiliegenden Urteil des SG Berlin vom 6.3.2013 … zu verfahren", lassen sich klare oder eindeutige Prozesserklärungen entnehmen. Gleiches gilt für den Hinweis in dem am 12.12.2014 eingegangenen Schreiben auf einen identischen Klageumfang.
Vielmehr sind die Schreiben anhand der oben genannten Grundsätze auszulegen. Wirklich gewollt hat der Kläger danach keinesfalls eine (teilweise) Berufungsrücknahme. So hat er in der Folgezeit mehrfach ausdrücklich der vom LSG erstmals in dem ablehnenden PKH-Beschluss vom 20.1.2015 geäußerten Auffassung, er haben seine Berufung teilweise zurückgenommen, widersprochen. Eine Rücknahme entsprach auch nicht seinem erkennbaren Interesse. Soweit das LSG den Hinweis des Klägers auf das Urteil des SG Berlin im Parallelverfahren als Beleg für eine gewollte Berufungsrücknahme ansieht, ist dies schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil durch dieses Urteil die Klage in vollem Umfang abgewiesen wurde und der Kläger dagegen ausdrücklich Berufung eingelegt hatte. Auch dass der Kläger seine Berufungsbegründung vom 7.4.2013 in dem Parallelverfahren zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens machen wollte, rechtfertigt nicht den Schluss des LSG auf eine gewollte Berufungsbeschränkung. Dem steht schon entgegen, dass der Kläger in dieser Begründung ausgeführt hat, die tatsächlichen Fahrt- und weiteren Umgangskosten seien wesentlich höher als 17,44 Euro pro Monat (S 4 drittletzter Absatz).
Vor diesem Hintergrund hätte es sich dem LSG aufdrängen müssen, bei dem anwaltlich nicht vertreten Kläger nachzufragen, was er tatsächlich noch begehrt. Stattdessen hält es den Kläger buchstäblich an einem möglicherweise ungeschickten Antrag in einem anderen Verfahren fest, ohne weitere Äußerungen zu berücksichtigen. Dadurch hat das LSG den Zugang des Klägers zur Rechtsmittelinstanz in einer Weise vereitelt, die dem verfassungsrechtlichen Auftrag der Gerichte widerspricht, möglichst lückenlosen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt sicherzustellen.
Die Entscheidung des LSG beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Wäre es nicht von einer wirksamen Berufungsrücknahme ausgegangen, so hätte es den Rechtsstreit in der Sache entscheiden müssen.
Insoweit gilt, dass eine für den Kläger günstigere Entscheidung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BSG (vgl nur BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 ff = SozR 4-4200 § 21 Nr 18; daran anschließend BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - BSGE 117, 240 ff = SozR 4-4200 § 21 Nr 19; BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - vorgesehen in BSGE und SozR 4-4200 § 21 Nr 21) nicht ausgeschlossen erscheint. Danach ist entgegen der nicht tragenden Hilfserwägungen im Urteil des LSG der im Regelsatz enthaltene Anteil für Fahrtkosten nicht als quasi teilweise Erfüllung des Anspruchs auf Mehrbedarfsleistungen anzusehen (vgl BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 ff = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 28). Auch wird sich das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren mit der Länge der Fahrtstrecke und der Häufigkeit der Wahrnehmung des Umgangsrechts nach dem Vortrag des Klägers auseinanderzusetzen haben.
Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen