Leitsatz (amtlich)
1. Ermessensentscheidungen der Kassenärztlichen Vereinigung sind Verwaltungsakte, die grundsätzlich in einem Vorverfahren nachzuprüfen sind.
2. Ist in Angelegenheiten des Kassenarztrechts gegen eine Ermessensentscheidung des Vorstands der Kassenärztlichen Vereinigung Widerspruch erhoben, so erläßt den Widerspruchsbescheid die von der Vertreterversammlung bestimmte Stelle.
3. Hat die Vertreterversammlung einer Kassenärztlichen Vereinigung entgegen SGG § 85 Abs 2 Nr 2 keine Widerspruchsstelle bestimmt, so ist gegen die Ermessensentscheidung der Kassenärztlichen Vereinigung Aufhebungsklage ohne Vorverfahren jedenfalls dann zulässig, wenn mangels Bestimmung einer Widerspruchsstelle die Durchführung eines Vorverfahrens in angemessener Frist nicht erwartet werden kann.
Normenkette
SGG § 78 Fassung: 1953-09-03, § 79 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 81 Nr. 2 Fassung: 1955-08-17, § 85 Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beigeladenen zu 1 und 2 gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 9. November 1956 wird als unzulässig verworfen.
Die Beigeladenen haben der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens je zur Hälfte zu erstatten; im übrigen tragen die Beteiligten ihre Kosten selbst.
Gründe
Das Landessozialgericht hat durch Urteil vom 9. November 1956 die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Mai 1956 zurückgewiesen. Da das Landessozialgericht die Revision nicht zugelassen hat, wäre sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens mit Erfolg gerügt worden wäre (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; BSG. 1 S. 150). Die von den Beigeladenen erhobenen Rügen greifen jedoch nicht durch.
1. Die Nichtzulassung der Revision ist für das Bundessozialgericht bindend. Sie kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch auf dem Wege der Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels nicht zum Gegenstand der Prüfung durch das Revisionsgericht gemacht werden (BSG. 2, 45 und 81; BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 14 Nr. 55).
2. Die Rüge, das Landessozialgericht habe kein Sachurteil erlassen dürfen, weil das erforderliche Vorverfahren nicht durchgeführt worden sei, kann nicht zum Erfolg der Revision führen, Die Auffassung des Landessozialgerichts, daß die Klage auch ohne Durchführung eines Vorverfahrens zulässig gewesen sei, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der der Klägerin durch das Schreiben der Geschäftsführung vom 2. März 1956 mitgeteilte Beschluß des Vorstandes der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung vom 27. Februar 1956 als Ermessensentscheidung anzusehen ist. Dies ergibt sich aus § 11 Abs. 4 der damals in Berlin geltenden Zulassungsordnung für medizinisch-diagnostische Institute vom 3. September 1951 (GVBl. für Berlin 1951 S. 637), wonach beim Tod des Arztes das medizinischdiagnostische Institut auf den Namen des Arztes für seine Witwe oder für seine minderjährigen Kinder oder auch, wenn sie von dem Arzt wirtschaftlich abhängig waren, mit Genehmigung der Kassenärztlichen Vereinigung für seine volljährigen Kinder oder sonstige Angehörige durch einen geeigneten Vertreter bis zu drei Monaten fortgeführt und die Vertretung mit Genehmigung der Kassenärztlichen Vereinigung verlängert werden kann. Da die Frage, ob und wem sie die Genehmigung zur Vertretung erteilt, von dem pflichtgemäßen Ermessen der in der Zulassungsordnung (ZulO.) für zuständig erklärten Kassenärztlichen Vereinigung abhängt, muß vor Erhebung der Klage nach §§ 78, 79 Nr. 1 SGG grundsätzlich ein Vorverfahren stattfinden. Wie der Senat in der Entscheidung vom 23. August 1956 (BSG. 3, 209 [215], an der er insoweit festhält, ausgesprochen hat, läßt es die Zweckbestimmung des Vorverfahrens, den streitigen Verwaltungsakt vor Einleitung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens "im Ermessenspunkt" nachzuprüfen, geboten erscheinen, alle Ermessensentscheidungen - vorbehaltlich des § 81 SGG - der Nachprüfung im Widerspruchsverfahren zu unterwerfen (ebenso Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 31. März 1956, S. 240 w, x mit weiteren Nachweisen). Ein Fall des § 81 Nr. 2 SGG, in dem ein Vorverfahren nicht stattfindet, liegt hier nicht vor; es handelt sich auch um kein Zulassungsverfahren im Sinne des § 368 b der Reichsversicherungsordnung (RVO), für das vor Einleitung des gerichtlichen Verfahrens ein Widerspruchsverfahren vor besonderen Zulassungsinstanzen vorgesehen ist (§ 368 b Abs. 7 RVO). Deshalb ist für Angelegenheiten der vorliegenden Art die Vorschrift des § 79 Nr. 1 SGG maßgebend.
Welche Stelle für die Entscheidung über den Widerspruch zuständig ist, ergibt sich aus § 85 SGG. Da es sich bei der Entscheidung über die Genehmigung zur vorübergehenden Fortführung eines medizinisch-diagnostischen Instituts um eine Angelegenheit des Kassenarztrechts im Sinne des § 51 Abs. 2 SGG handelt, die nach dieser Vorschrift zu den Angelegenheiten der Sozialversicherung zu rechnen ist, hätte den ablehnenden Widerspruchsbescheid nach § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG eine von der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung bestimmte Stelle erteilen müssen (ebenso Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 3 zu § 81 und Anm. 3 d ee zu § 85 SGG und Hastler, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Stand Februar 1958, Anm. 5 zu § 81 SGG). Der Auffassung der Beklagten, § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG sei auf die Kassenärztliche Vereinigung nicht anwendbar, kann schon im Hinblick auf den klaren Gesetzeswortlaut nicht beigetreten werden. Zwar ist die Vorschrift des § 368 1 RVO über die Organe der Kassenärztlichen Vereinigung (Vertreterversammlung und Vorstand) erst nach Erlaß des Sozialgerichtsgesetzes in Kraft getreten. Hätte aber die Vorschrift des § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG für die Kassenärztlichen Vereinigungen keine Geltung haben sollen, so hätte der Gesetzgeber dies bei der Schaffung des Gesetzes über Kassenarztrecht zum Ausdruck gebracht. Da die Widerspruchsstelle eine gerichtsähnliche Funktion auszuüben hat, erscheint es auch aus Gründen der unbeeinflußten Entscheidung sachlich geboten, ihre Aufgaben nicht dem für Verwaltungsaufgaben zuständigen Vorstand zu übertragen (vgl. auch Heß-Venter, Das Gesetz über Kassenarztrecht, Bd. I S. 270); dabei bedarf es hier keiner Entscheidung, ob es nicht nur untunlich, sondern auch unzulässig wäre, den Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung als Widerspruchsstelle zu bestimmen, denn im vorliegenden Falle hatte die Vertreterversammlung - jedenfalls bis zum Erlaß des angefochtenen Urteils - entgegen der Vorschrift des § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG überhaupt keine Widerspruchsstelle bestimmt. Aus der unrechtmäßigen Unterlassung der Einsetzung einer Widerspruchsstelle darf aber einem Beteiligten, der durch einen Verwaltungsakt der Kassenärztlichen Vereinigung beschwert ist, kein Rechtsnachteil erwachsen. § 88 Abs. 2 SGG gibt zwar dem Beteiligten das Recht, die Untätigkeitsklage auf Erteilung eines Widerspruchsbescheides zu erheben, wenn über seinen Widerspruch nicht innerhalb einer Frist von einem oder drei Monaten entschieden worden ist. Ist eine zur Entscheidung über den Widerspruch zuständige Stelle aber überhaupt nicht vorhanden, so muß jedenfalls in Fällen, in denen mangels Errichtung der Widerspruchsstelle die Durchführung eines Vorverfahrens in angemessener Zeit nicht erwartet werden kann, dem durch den Verwaltungsakt Beschwerten das Recht zustehen, vor Durchführung des Vorverfahrens Klage mit dem Ziel der Aufhebung des Verwaltungsaktes zu erheben. Ist daher bis zur letzten mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits mangels Bestimmung einer Widerspruchsstelle kein Widerspruchsbescheid ergangen, so kann eine Sachentscheidung über die Anfechtungsklage nicht als unzulässig angesehen werden; der von den Gerichten zu gewährende Rechtsschutz darf an der Nichterrichtung der Widerspruchsstelle nicht scheitern.
3. Die Rüge, das Berufungsgericht habe übersehen, daß die Klägerin ihren Antrag vom 11. Februar 1956 als Testamentsvollstreckerin gestellt habe und als solche nach § 11 Abs. 4 der Berliner ZulO für medizinisch-diagnostische Institute dazu nicht berechtigt sei, vermag die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht zu begründen, denn sie betrifft - wie auch in der Revisionsbegründung vom 28. Februar 1957 zutreffend ausgeführt ist - die Frage der Aktivlegitimation der Klägerin und damit die materielle Entscheidung des Rechtsstreits, nicht aber das Verfahren des Landessozialgerichts.
4. Auch mit der Rüge, das angefochtene Urteil enthalte einen logischen Widerspruch, wenden sich die Klägerinnen gegen die sachlich-rechtliche Auffassung des Berufungsgerichts. Wenn das Landessozialgericht davon ausgeht, das Recht, Sozialversicherte als Kassenarzt zu behandeln, sei höchstpersönlicher Natur und erlösche daher mit dem Tode des Arztes, so steht dies im übrigen zu der weiter in dem angefochtenen Urteil vertretenen Rechtsansicht, bei der Ermessensentscheidung über die Genehmigung zur vorübergehenden Fortführung des Instituts müsse auch der Wille des verstorbenen Arztes mitberücksichtigt werden, nicht in Widerspruch; denn das Erlöschen des Rechts zur Behandlung Sozialversicherter schließt die Mitberücksichtigung des Willens des verstorbenen Arztes bei der Entscheidung über die vorübergehende Fortführung seines Instituts nicht aus. Jedenfalls aber handelt es sich bei diesem vermeintlichen Widerspruch nicht um einen Mangel des Verfahrens.
5. Die Rüge, das Landessozialgericht habe trotz des Widerspruchs der Beklagten und der Revisionsklägerinnen die Behauptung der Klägerin, sie sei von ihrem Sohn wirtschaftlich abhängig gewesen, als richtig festgestellt, betrifft zunächst die Subsumtion der tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts unter den Begriff der wirtschaftlichen Abhängigkeit und damit nicht das Verfahren des Landessozialgerichts, sondern wiederum dessen Urteilsfindung.
Soweit die Revisionsklägerinnen hierzu vortragen, das Berufungsgericht habe die Feststellungen, aus denen es die wirtschaftliche Abhängigkeit der Klägerinnen ableitet, ohne Aufklärung darüber getroffen, wovon die Klägerin jetzt lebe, welche Mittel sie dem Institut zugeführt habe und woher diese stammten, rügen sie mangelnde Sachaufklärung (§ 103 SGG). Die Rüge ist jedoch nicht begründet. Die Beklagte hat in der Klagebeantwortung selbst ausgeführt, daß die Klägerin ihr Vermögen in dem Institut ihres Sohnes angelegt habe und daß ihr Sohn ihr dafür eine monatliche Rente von 250,-- DM, jedoch nicht mehr als die Hälfte der Reineinkünfte aus dem Institut zugesagt habe. Wenn die Beklagte bei diesem Sachverhalt die wirtschaftliche Abhängigkeit der Klägerin von ihrem Sohn deshalb verneint wissen will, weil sie sich freiwillig in diese Lage begeben habe, so vertritt die Beklagte eine von der Auffassung des Gerichts abweichende materiell-rechtliche Auffassung über den Begriff der wirtschaftlichen Abhängigkeit. Im übrigen ist das Landessozialgericht davon ausgegangen, daß es nicht auf eine noch fortdauernde, sondern auf die beim Tode des Arztes bestehende wirtschaftliche Abhängigkeit ankomme. Von diesem Standpunkt aus waren die von den Revisionsklägerinnen aufgeworfenen Fragen, wovon die Klägerin jetzt ihren Lebensunterhalt bestreite, für das Landessozialgericht rechtlich ohne Bedeutung, so daß es nicht verpflichtet war, in dieser Richtung weitere Ermittlungen anzustellen (vgl. BSG. in SozR. SGG § 103 Bl. Da 2 Nr. 7; SGG § 162 Bl. Da 21 Nr. 79).
6. Soweit die Revisionsklägerinnen vorbringen, das Berufungsgericht habe zu Unrecht festgestellt, sie hätten nach ihrem Schreiben vom 12. März 1956 das Institut allein betreiben wollen, und soweit sie beanstanden, in diesem Punkt sei eine Sachaufklärung dadurch verhindert worden, daß dieses Schreiben in der mündlichen Verhandlung nicht zur Sprache gekommen sei, rügen sie sinngemäß die Versagung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) und ausdrücklich die Verletzung der §§ 103 und 106 SGG.
Diese Rügen sind jedoch - abgesehen davon, daß nach der Sitzungsniederschrift des Landessozialgerichts die vollständigen Akten der Beklagten, zu denen auch das Schreiben des Prozeßbevollmächtigten der Revisionsklägerinnen vom 12. März 1956 gehörte, Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren (§ 122 Abs. 3 SGG, § 164 ZPO) - nicht hinreichend substantiiert. Die Revisionsklägerinnen haben sich mit der allgemeinen Behauptung begnügt, ihr Schreiben vom 12. März 1956 sei nicht zur Sprache gekommen und die Feststellung seines Inhalts sei unrichtig. Sie haben aber weder dargelegt, was sie zu diesem Schreiben vorgetragen haben würden, noch in welcher Richtung das Berufungsgericht Ermittlungen hätte anstellen müssen, noch welches Ergebnis diese Ermittlungen gehabt hätten. Eine dem § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechende Verfahrensrüge liegt daher nicht vor (vgl. BSG. 1 S. 91 [93], BSG. in SozR. SGG § 164 Bl. Da 10 Nr. 28).
Die Revision ist hiernach als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193, 194 SGG in Verbindung mit § 100 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung.
Fundstellen