Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensfehler. Untersuchungsprinzip. Beweisantrag. Sachverständigengutachten. rechtliches Gehör. Vertagungsantrag
Orientierungssatz
1. Weitere Ermittlungen sind nicht allein schon deswegen vorzunehmen, weil das SG als Sachverständigen nur einen bereits im Verwaltungsverfahren zugezogenen Privatdozenten gehört hat. Wie das SG grundsätzlich auch vom Leistungsträger beigezogene Gutachten verwerten und von der Zuziehung eigener Sachverständiger absehen kann, so kann es grundsätzlich auch den bereits von der Verwaltungsbehörde gehörten Sachverständigen zum gerichtlichen Sachverständigen ernennen. Darin läge nicht einmal ein Ablehnungsgrund iS des § 118 SGG iVm § 406 ZPO.
2. Die unberechtigte Übergehung eines Vertagungsantrages ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Wenn die Inaussichtstellung neuer Beweise im Zusammenhang mit einem fest geplanten Krankenhausaufenthalt ein erheblicher Grund iS des § 227 Abs 1 S 1 ZPO iVm § 202 SGG für die Vertagung war, und das LSG mit der Ablehnung der Vertagung verfahrensfehlerhaft gehandelt hat, ist der Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde davon abhängig, daß der Krankenhausaufenthalt tatsächlich Anhaltspunkte dafür erbracht hat, daß die Entscheidung des LSG davon hätte beeinflußt werden können.
Normenkette
SGG §§ 103, 118; ZPO §§ 406, 227 Abs. 1 S. 1; SGG §§ 202, 62
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.08.1994; Aktenzeichen L 13 V 2323/93) |
SG Ulm (Entscheidung vom 25.11.1993; Aktenzeichen S 2 V 794/93) |
Tatbestand
Die 1943 geborene, aus Niederschlesien stammende Klägerin hat 1945 auf der Flucht eine Granatsplitterverletzung am Kopf erlitten. Als Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von weniger als 25 vH sind anerkannt: "reizlose Narbe rechts fronto-temporal sowie Granatsplitter links temporal" (Bescheid des Beklagten vom 10. Februar 1993). Die Klägerin führt auf die Schädigung auch zwei Krampfanfälle zurück, die sie im April und August 1991 erlitten hat, sowie einen seit etwa 1986 bestehenden "imperativen Schlafdrang".
Am 26. März 1992 beantragte sie beim Beklagten Versorgung. Der Beklagte veranlaßte eine Untersuchung in der Neurologischen Ambulanz der Universität U. am 16. November 1992, bei der ua eine Computertomographie des Knochens und eine Kernspintomographie des Gehirns ohne und mit Kontrastmittel vorgenommen wurden. In dem Gutachten des Oberarztes der Abteilung, Privatdozent Dr. med. B. W., heißt es zusammenfassend, ein Zusammenhang der von der Klägerin geklagten Beschwerden mit der 1945 erlittenen Schädigung sei nicht auszuschließen, aber äußerst unwahrscheinlich. Der gegen den darauf ergangenen Bescheid vom 10. Februar 1993 erhobene Widerspruch blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) bestellte wiederum Prof. Dr. W. zum Sachverständigen, der bei seiner bereits im Verwaltungsverfahren abgegebenen Beurteilung blieb. Darauf wies das SG die Klage durch Gerichtsbescheid vom 25. November 1993 ab. Im Berufungsverfahren teilte die Klägerin nach Erhalt der Ladung zum Termin vom 30. August 1994 mit, daß sie vom 9. bis 22. Juni 1994 im E. -Krankenhaus in R. stationär behandelt worden sei, und legte die Kopie des entsprechenden Entlassungsbefundes vor. Sie erklärte sich zugleich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden, stellte für diesen Fall Sachantrag und beantragte außerdem "vorsorglich, weitere Ermittlungen von Amts wegen in Form eines sachverständigen Gutachtens auf neurologischem Fachgebiet unter Berücksichtigung der neuesten Befundberichte einzuholen". In einem vorausgegangenen Schriftsatz vom 3. August 1994 hatte sie ihre außerdem geplante Überweisung in eine Klinik in S. -T. angekündigt.
Mit Urteil vom 30. August 1994 wies das Landessozialgericht (LSG) ohne weitere Ermittlungen die Berufung zurück. Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin die Übergehung ihres vor dem LSG gestellten Beweisantrages.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht begründet, weil der gerügte Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) nicht vorliegt. Die Klägerin macht geltend, das LSG sei einem von ihr gestellten Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 Nr 3 2. Halbsatz iVm § 103 SGG). Dieser Zulassungsgrund liegt aber nicht vor, da sich das LSG nicht gedrängt zu fühlen brauchte, dem Beweisantrag zu entsprechen (vgl Meyer-Ladewig SGG 5. Aufl RdZiff 18 zu § 160 und RdZiff 20 zu § 103; BSG SozR 1500 § 160a Nr 56).
Weitere Ermittlungen waren nicht allein schon deswegen vorzunehmen, weil das SG als Sachverständigen nur den bereits im Verwaltungsverfahren vom Beklagten zugezogenen (vgl § 21 Abs 1 Satz 2 Nr 2 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫) Privatdozenten Dr. W. gehört hat. Wie das SG grundsätzlich auch - im Wege des Urkundenbeweises - vom Leistungsträger beigezogene Gutachten verwerten und von der Zuziehung eigener Sachverständiger absehen kann, es sei denn, es handelte sich um einen Sachverständigen, der in einem Dienstverhältnis oder Beschäftigungsverhältnis zum Leistungsträger steht (vgl.Mayer-Ladewig, 5. Aufl RdZiff 12 zu § 118 und RdZiff 8 zu § 128, BSG SozR § 118 Nr 3), so kann es grundsätzlich auch den bereits von der Verwaltungsbehörde gehörten Sachverständigen zum gerichtlichen Sachverständigen ernennen. Darin läge nicht einmal ein Ablehnungsgrund iS des § 118 SGG iVm § 406 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫ (vgl Thomas-Putzo, ZPO, 17. Aufl, Anm 1 zu § 406 ZPO, BSGE MDR 61, 397).
Auch durch sonstige Umstände brauchte sich das LSG nicht zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens gedrängt zu fühlen. Der von der Klägerin vorgelegte Entlassungsbericht des E. -Krankenhauses, R., vom 26. August 1994 enthält zwar den Hinweis, sowohl computertomographisch als auch in den mitgebrachten NMR-(= Kernspintoresonanz-)Bildern des Schädels finde sich fronto-temporal im Bereich des Kalottendefekts rechts ein Bereich, der mit einem Postkontusionsherd zu vereinbaren wäre. Eine weitere Abklärung insoweit hat das E. -Krankenhaus aber weder vorgenommen noch als notwendig oder auch nur als möglich bezeichnet. Im übrigen gleichen die von dieser Klinik erhobenen Befunde denen, die bereits der vom Beklagten und vom SG gehörte Sachverständige Privatdozent Dr. med. W. erhoben hatte. Insbesondere war das im Entlassungsbericht beschriebene Metallartefakt in der linken Mastoidregion bereits 1992 bekannt. Andererseits waren auch 1994 weder ein Herdbefund noch Krampfpotentiale festzustellen. Soweit die Beschwerde geltend macht, das LSG hätte die noch zu erwartenden Befunde der ab 28. Oktober 1994 geplanten stationären Behandlung in S. abwarten müssen, so ergibt sich aus dem Schriftsatz vom 26. August 1994 nicht, daß ein derartiger Beweisantrag gestellt worden ist. Im übrigen handelte es sich insoweit um ein zukünftiges Beweismittel, das erst nach Abschluß der Beweisaufnahme, nämlich dem Ende der mündlichen Verhandlung vom 30. August 1994, zur Verfügung stehen konnte. Seine Einbeziehung in das Verfahren hätte einen Vertagungsantrag vorausgesetzt.
Selbst wenn man in dem an das LSG gerichteten Schriftsatz vom 26. August 1994 einen solchen Vertagungsantrag sehen und der Beschwerde entnehmen wollte, daß mit ihr auch die Übergehung dieses Vertagungsantrages als weiterer Verfahrensfehler gerügt werden sollte, könnte die Beschwerde keinen Erfolg haben. Die Klägerin hätte darlegen müssen, inwiefern die Sachentscheidung des LSG auf diesem Verfahrensfehler beruhen konnte. Denn die unberechtigte Übergehung eines Vertagungsantrages ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (BSG Urteil vom 27. Januar 1993, 6 RKa 19/92, SozSich 1993 Rspr Nr 4485) und kein absoluter Revisionsgrund. Deshalb müßte eine auf diese Rüge gestützte Beschwerde darlegen, daß das Berufungsurteil auf der Nichtbefolgung des Vertagungsantrages beruhen kann (vgl dazu im Zusammenhang mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs SozR 1500 § 160 Nr 31; SozR 1500 § 160a Nr 36). Sie hätte insbesondere vortragen müssen (was ihr innerhalb der erst am 27. November 1994 abgelaufenen und noch der Verlängerung zugänglichen Beschwerdebegründungsfrist möglich war), ob es überhaupt zu der geplanten weiteren stationären Behandlung gekommen ist, und welche Untersuchungsergebnisse sie hatte. Wenn die Inaussichtstellung neuer Beweise im Zusammenhang mit einem fest geplanten Krankenhausaufenthalt ein erheblicher Grund iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO iVm § 202 SGG für die Vertagung war, und das LSG mit der Ablehnung der Vertagung verfahrensfehlerhaft gehandelt hat, ist der Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde davon abhängig, daß der Krankenhausaufenthalt tatsächlich Anhaltspunkte dafür erbracht hat, daß die Entscheidung des LSG davon hätte beeinflußt werden können. Da es die Klägerin unterlassen hat, über den Krankenhausaufenthalt im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde zu berichten, muß davon ausgegangen werden, daß sie selbst das Ergebnis der dortigen Untersuchung nicht für geeignet hält, ihre prozessuale Position zu verbessern.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen