Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensfehler. Verletzung der Untersuchungsmaxime. unterbliebene Zeugenvernehmung zum Nichtbestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft
Orientierungssatz
Zur Verletzung des § 103 SGG bei Übergehung eines im Termin zur mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrages auf Vernehmung der in der Wohnung mitlebenden Person zum Nichtvorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft iS von § 7 Abs 3 Nr 3 Buchst b SGB 2.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 103; SGB 2 § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b Fassung: 2004-07-30
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache wegen der Bewilligung von Arbeitslosengeld II (Alg II) für die Zeit ab 7. April 2005.
Der 1943 geborene, geschiedene Kläger lebt seit 1973 in der ehemals ehelichen Wohnung (4 Zimmer, 100 qm, monatlicher Mietzins zuletzt 580,32 €), seit 2002 zusammen mit der ebenfalls 1943 geborenen und geschiedenen M. S. (im Folgenden M.S.), die er nach seinen Angaben in einem Single-Club kennen gelernt hatte. Ein schriftlicher Untermietvertrag (220,00 € Grundmiete, je 45,00 € Heizung und Nebenkosten monatlich) datiert vom 1. April 2005.
Nach der Insolvenz seines Betriebs beantragte der Kläger am 7. April 2005 Alg II und gab ua ergänzend an, die Wohnung mit seiner Lebenspartnerin zu bewohnen. Diese verfüge ua über ein monatliches Einkommen in Höhe von 1581,77 €. Die Angaben zur Lebenspartnerschaft sind nachträglich korrigiert. Die Angaben seien falsch verstanden worden.
Die Beklagte lehnte den Antrag nach einem Hausbesuch am 25. Juli 2005 ab, vornehmlich mit Rücksicht auf das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft und das Einkommen der Partnerin (Bescheid vom 18. August 2005). Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 29. September 2005), einstweiliger Rechtsschutz (Beschlüsse des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 11. Oktober 2005 - S 19 AS 364/05 ER - und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 16. März 2006 - L 11 B 692/05 AS ER -) und Klage (Urteil des SG vom 10. November 2005) blieben erfolglos. Mit der Berufung hat der Kläger die unterbliebene Anhörung der M.S. gerügt und in der mündlichen Verhandlung beantragt, diese als Zeugin dazu anzuhören, dass getrennt gehaushaltet und gewirtschaftet werde und dass keine eheähnliche Beziehung zwischen ihr und ihm, dem Kläger, bestehe, sondern ein Untermietverhältnis, ferner den Vermieter R. (im Folgenden R.) als Zeugen zu hören, dass er dem Kläger die Untervermietung an M.S. genehmigt habe. Das LSG hat die Berufung ohne weitere Beweisaufnahme zurückgewiesen und in den Entscheidungsgründen ua ausgeführt, aus den Hinweistatsachen der Dauer des Zusammenlebens, der beim Hausbesuch vorgefundenen Verhältnisse, der Ausgestaltung des Mietverhältnisses anfänglich ohne jeglichen schriftlichen Untermietvertrag, der während des finanziellen Engpasses des Klägers darlehensweise übernommenen Finanzierung seiner Mietanteile durch M.S., des Verhaltens des Klägers bei Antragsabgabe und den gemeinsamen Besuchen bei Hausveranstaltungen und weiterhin erfolgenden gemeinsamen Besuchen des Singleclubs sei von einer eheähnlichen Gemeinschaft auszugehen (Urteil vom 11. Juli 2006).
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger die unterbliebene Vernehmung der Zeugen M.S. und R.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet, soweit sie eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§§ 103, 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) durch die unterbliebene Vernehmung der Zeugin M.S. geltend macht.
1. Die Beschwerde zeigt entsprechend den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung an die Darlegung einer Aufklärungspflichtverletzung (ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 5; § 160a Nr 34; SozR 3-1500 § 160 Nr 9, 29, 35) hinreichend deutlich auf, dass das LSG dem zuletzt im Termin zur mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf Vernehmung der Mitbewohnerin des Klägers zum Nichtbestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft hätte nachgehen müssen. Denn nach den Darlegungen des Klägers hat das LSG die Rechtsauffassung vertreten, zur Annahme einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft nur auf Grund von Hinweistatsachen nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten gelangen zu können.
Hingegen macht die Beschwerdebegründung nicht deutlich, weshalb sich das LSG auch zur Vernehmung des Zeugen R. hätte gedrängt sehen müssen. Denn der unter Beweis gestellten Tatsache der Genehmigung des Untermietverhältnisses hat das LSG nach seiner vom Kläger zitierten Rechtsauffassung keine entscheidungsrelevante Bedeutung beigemessen.
2. Der mit der Beschwerde gerügte Verfahrenmangel der Verletzung der Aufklärungspflicht liegt auch tatsächlich vor. Das LSG hat ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 11. Juli 2006 den auf die Vernehmung der Zeugin M.S. gerichteten Beweisantrag des Klägers entgegen § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ohne hinreichende Begründung übergangen. Der Antrag, M.S. als Zeugin dazu anzuhören, dass keine eheähnliche Beziehung zwischen ihr und dem Kläger bestehe, sondern ein Untermietverhältnis, entsprach den Anforderungen an einen substantiierten, prozessordnungsgemäßen Beweisantrag (vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 209 ff). Die Angabe der ladungsfähigen Anschrift (BSG, Beschluss vom 10. Mai 2000 - B 6 KA 49/99 B) war entbehrlich, denn das Gericht war mit Rücksicht auf die bekannte Privatanschrift der Zeugin zur Ladung imstande (vgl Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl, § 373 RdNr 4). Auch war das Beweisthema des Nichtbestehens einer eheähnlichen Gemeinschaft ausreichend präzise vorgegeben. In Abgrenzung zum einfachen Untermietverhältnis war konkret das Nichtbestehen (zu negativen Tatsachen BSG SozR 4100 § 44 Nr 47) der besonderen die eheähnliche Gemeinschaft prägenden inneren Bindung einschließlich der hierzu richterrechtlich entwickelten Hilfstatsachen (hierzu BVerfGE 87, 234 = SozR 3-4100 § 137 Nr 3 S 37, BSGE 90, 90 = SozR 3-4100 § 119 Nr 26 S 137) bezeichnet. Das LSG hat insoweit nicht hinreichend beachtet, dass der Begriff der eheähnlichen Gemeinschaft nicht nur einen Rechtsbegriff, sondern auch eine beweisfähige Tatsachenbehauptung darstellt (vgl auch BFH, Beschluss vom 1. Februar 2007 - VI B 118/04 = NJW 2007, 1615, 1616). Dem steht nicht entgegen, dass der Beweisantrag keine Aufzählung der für die richterliche Würdigung maßgeblichen Einzeltatsachen enthielt. Eine Pflicht, zusätzlich diese den Begriff der eheähnlichen Gemeinschaft prägenden Einzeltatsachen zu benennen und unter Beweis zu stellen, bestand jedenfalls vor Inkrafttreten der durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl I 1706) eingefügten Vermutungsregelung des § 7 Abs 3 a Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) am 1. August 2006 nicht.
Auf die Vernehmung eines ordnungsgemäß benannten Zeugen darf ein Gericht aber nur in engen Ausnahmefällen verzichten, etwa wenn es auf die unter Beweis gestellten Tatsachen nicht ankommt, diese bereits erwiesen sind oder das Beweismittel ungeeignet oder unerreichbar ist (vgl Überblick bei Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl, § 103 RdNr 8 mwN; s auch BFH, Beschluss vom 1. Februar 2007 - VI B 118/04 = NJW 2007, 1615). Das LSG hat zwar das zusätzlich unter Beweis gestellte getrennte Wirtschaften ebenso wie getrennte Konten nicht in Abrede gestellt, also als wahr unterstellt, weil es nach seiner von ihm angestellten Gesamtwürdigung hierauf nicht maßgeblich ankam. Dies gilt indessen nicht für sonstige Hilfstatsachen, auf die sich das protokollierte Beweisthema zum Nichtbestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft zwangsläufig erstreckt, und auf die das LSG im Anschluss an die höchstrichterliche Rechtsprechung (BVerfGE 87, 234, 264 = SozR 3-4100 § 137 Nr 3; BVerfG NVwZ 2005, 1178; BSG SozR 3-4100 § 119 Nr 15; BSGE 90, 90 = SozR 3-4100 § 119 Nr 26; BVerwGE 98, 195) seine gegenteilige Annahme des Bestehens einer eheähnlichen Gemeinschaft auch gestützt hat, nämlich neben der Dauer des Zusammenlebens vor allem die Verhältnisse in der Wohnung, den nachträglichen Abschluss des schriftlichen Untermietvertrags, die Gewährung von Darlehen, die Angaben bei Antragstellung und das Auftreten in der Öffentlichkeit. Die näheren Begleitumstände waren allerdings Gegenstand abweichender Darstellungen des Klägers und der benannten Zeugin M.S., so dass schon aus diesem Grund Anlass zu einer persönlichen Anhörung gerade der Person bestanden hätte, die als Partner des Hilfesuchenden angesehen wird (vgl hierzu auch Hessisches LSG, Beschluss vom 29. Juni 2005 - L 7 AS 1/05 ER ua).
Auf dem Verfahrensmangel des übergangenen Beweisantrags kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Denn nach dem Gesamtumständen ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass nach Anhörung der Zeugin M.S. vorhandene weitere Erkenntnisse in Bezug auf den streitigen Zeitraum (bei Leistungsablehnung vgl BSG, Urteil vom 23. November 2006 - B 11b AS 1/06 R mit Hinweis auf BSG SozR 4-4220 § 6 Nr 3 RdNr 4) Anlass zu einer abweichenden Würdigung des Zusammenlebens mit dem Kläger gegeben und dann nötige Feststellungen zum Hilfebedarf des Klägers unter Einschluss seiner eigenen Einkommens- und Vermögensverhältnisse (§§ 7, 9 SGB II; hierzu bereits BSG, Urteil vom 23. November 2006 - B 11b AS 9/06 R) zu einem anderen Ergebnis in der Sache geführt hätten.
3. Dementsprechend hat der erkennende Senat von der bei Verfahrensmängeln (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) in § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
4. Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen