Tenor
I. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 1955 wird als unzulässig verworfen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Beklagte ist durch das Urteil des Landessozialgerichts (LSG.) Berlin vom 13. Dezember 1955 verurteilt worden, „dem Kläger wegen der anerkannten Schädigungsfolgen Versorgung nach einem Grade der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v.H. zu gewähren”. Gegen dieses Urteil hat der Beklagte fristgerecht die Revision eingelegt und sie begründet. Da das LSG. die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –) und der Beklagte eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht gerügt hat, ist die Revision nur unter den Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht erfüllt.
Der Beklagte erblickt einen wesentlichen Verfahrensmangel darin, daß das LSG. die MdE. des Klägers durch die anerkannten Schädigungsfolgen abweichend von der Auffassung der ärztlichen Sachverständigen und ohne ausreichende Begründung statt auf 40 auf 50 v.H. geschätzt hat. Der gerügte Verfahrensmangel liegt nicht vor. Die Entscheidung der Frage, in welchem Grade die Erwerbsfähigkeit eines Beschädigten durch Schädigungsfolgen gemindert wird, ist eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht – im zweiten Rechtszug das LSG. – gemäß § 128 Abs. 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu treffen und im Urteil zu begründen hat. Auf die Rüge der Revision kann das Bundessozialgericht (BSG.) diese Feststellung nur daraufhin nachprüfen, ob das LSG. die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten und die Gründe, die für seine Überzeugung maßgebend gewesen sind, nicht angegeben hat (vgl. BSG. 4, 147).
Für die vom Revisionsgericht zu prüfende Gesetzmäßigkeit der tatrichterlichen Beweiwürdigung ist es von Belang, daß die ärztlichen Gutachten, die das LSG. als Beweismittel zur Feststellung der MdE. verwertet, in der Regel aus mehreren Teilen sich zusammensetzen, denen ein verschieden hoher Beweiswert zukommt. Wie die Beurteilung des tatsächlichen ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Ereignis im allgemeinen ärztliche Sachkunde und deshalb die Zuziehung eines ärztlichen Sachverständigen erfordert, so können auch die Fragen, welche Gesundheitsstörungen bei einem Beschädigten vorliegen und in welcher Weise sie seine körperlichen und geistigen Kräfte oder die Gebrauchsfähigkeit einzelner Organe (physiologisch, funktionell) einschränken, im wesentlichen nur von einem ärztlichen Sachverständigen beantwortet werden. Nach der Rechtsprechung des BSG. verletzt das Gericht den § 128 SGG, wenn es in solchen medizinischen Fragen ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung durch die ärztlichen Sachverständigen hinweggeht und seine eigene. Auffassung an deren Stelle setzt (SozR. SGG § 128 Bl. Da 1 Nr. 2).
Die Antwort auf die weitere Frage, in welchem Maße die durch eine Schädigung verursachten Gesundheitsstörungen einschließlich ihrer physiologischen und funktionellen Folgen die Erwerbsfähigkeit des Beschädigten mindern, – die reine „Gradfrage” – muß zwar von dem ärztlichen Befund ausgehen, greift aber über das ärztlich-wissenschaftliche Gebiet hinaus. Der Beschädigte, der nach § 1 Abs. 1 BVG wegen der „gesundheitlichen und wirtschaftlichen” Folgen der Schädigung Versorgung erhält, hat Anspruch auf eine Rente (§§ 29 bis 32 BVG), die danach bemessen wird, in welchem Grade seine Erwerbsfähigkeit infolge der Schädigung gemindert ist. Die MdE. ist nach der Beeinträchtigung „im allgemeinen Erwerbsleben” zu beurteilen und unter besonderen Umständen mit Rücksicht auf den „Beruf” höher zu bewerten (§ 30 BVG).
Aus diesen Vorschriften ergibt sich, daß für die Entscheidung der Gradfrage die ärztliche Auffassung nicht mehr als einen Anhalt bietet. Da es darauf ankommt, inwieweit durch die körperliche oder seelische Beeinträchtigung des Beschädigten seine Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, gemindert wird, müssen hierbei Erwägungen mitsprechen, die nicht in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlicher Erfahrung beruhen. Die ärztlichen Schätzungen des Grades der MdE. sind daher für das Gericht nicht schlechthin maßgebend. Das Gericht hat vielmehr, wenn es sich nur um den Grad der MdE. handelt, nach welchem die Höhe der Rente eines Beschädigten zu bemessen ist (§§ 29 bis 32 BVG), alle Umstände in Betracht zu ziehen, die dafür bestimmend sind, wie sich die als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen auf die Fähigkeit des Beschädigten auswirken, seine Arbeitskraft im allgemeinen Erwerbsleben, gegebenenfalls in seinem Beruf nutzbringend zu verwerten. Hierbei sind vor allem die allgemeinen Lebensverhältnisse, die sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie die Technik der Arbeitsvorgänge zu berücksichtigen. In der Regel kennt der Richter diese Umstände aus eigener Lebenserfahrung und bedarf hierzu nicht der vermittelnden Hilfe eines ärztlichen Sachverständigen. Ist das Gericht bei der Feststellung des Grades der MdE. von der Schätzung eines ärztlichen Sachverständigen abgewichen, so läßt dies allein nicht den Schluß zu, daß das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) überschritten hat.
Das LSG. konnte im vorliegenden Falle, ohne gegen § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG zu verstoßen, auf Grund des in der Urteilsbegründung festgestellten ärztlichen Befundes und der übrigen persönlichen Verhältnisse des Klägers zu der Überzeugung gelangen, daß die für die Bemessung der Rente maßgebende MdE. nicht 40, sondern 50 v.H. beträgt. Im übrigen ist weder aus dem angefochtenen Urteil noch aus der Revisionsbegründung ersichtlich, daß das LSG. den Ermessensspielraum, der ihm beim Schätzen der Einbuße an Erwerbsfähigkeit eingeräumt ist, aus einem anderen Grund in unzulässiger Weise überschritten hat. Es ist keinesfalls dargetan, wie die Revision behauptet, daß das LSG. sein Ermessen willkürlich ausgeübt hat. Für das LSG. lag auch keine Notwendigkeit vor, ein ärztliches Obergutachten einzuholen, da es sich seine Überzeugung, welche Gesundheitsstörungen bei der Schätzung der MdE. zu berücksichtigen sind, auf Grund der bereits vorliegenden Gutachten bilden konnte und gebildet hat. Die Behauptung des Beklagten, das LSG. hätte sich mit den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen” auseinandersetzen müssen, ist für die Prüfung der Statthaftigkeit der Revision schon deshalb unbeachtlich, weil sie nicht genügend substantiiert ist.
Schließlich greift auch die Rüge, das LSG. habe gegen die Vorschrift in § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG verstoßen, nicht durch. Mit dem Hinweis auf den Umfang der zahlreichen Verletzungen des Klägers durch Granatsplitter und auf seinen Beruf als ambulanter Händler (im Tatbestand des Urteils) hat das LSG. die Feststellung des Grades der MdE. ausreichend begründet.
Da die nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügten Verfahrensmängel nicht vorliegen, ist die Revision nicht statthaft. Sie war daher als unzulässig zu verwerfen.
Dieser Beschluß ergeht nach § 169 SGG, die Entscheidung über die Kosten nach § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 671964 |
BSGE, 267 |
NJW 1958, 517 |