Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag der Klägerinnen, ihnen für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 1. September 2022 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt P beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Die Klägerinnen machen in der Hauptsache einen Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 3600 Euro zuzüglich Prozesszinsen wegen überlanger Dauer eines Erinnerungsverfahrens vor dem SG Frankfurt/Oder (S 30 SF 237/16 E) geltend.
Das LSG als Entschädigungsgericht hat die Klage abgewiesen. Nach Anerkennung der unangemessenen Verfahrensdauer durch den Beklagten und Annahme dieses Teilanerkenntnisses durch die Klägerinnen sei zwischen den Beteiligten nur noch die Zahlung einer Entschädigung streitig. Diese stehe den Klägerinnen aber nicht zu. Das allenfalls von durchschnittlicher Schwierigkeit und Komplexität einzustufende streitgegenständliche Erinnerungsverfahren sei im Umfang von 38 Kalendermonaten als überlang anzusehen. Das mit Eingang der Erinnerung am 25.5.2016 eingeleitete und mit Zustellung des Beschlusses am 16.12.2020 beendete Ausgangsverfahren verzeichne 50 Kalendermonate an gerichtlicher Inaktivität. Hiervon seien zwölf Monate Vorbereitungs- und Bedenkzeit abzuziehen, sodass 38 Kalendermonate als entschädigungsrelevant anzusehen seien. Gleichwohl hätten die Klägerinnen keinen Entschädigungsanspruch, weil von einer Widerlegung der gesetzlichen Vermutung des Eintritts eines immateriellen Nachteils auszugehen sei. Zwar sei das Erinnerungsverfahren von ihrem Prozessbevollmächtigten im Namen der Klägerinnen geführt worden. Es sei aber letztlich allein um dessen Interessen gegangen. Das Erinnerungsverfahren habe für die wirtschaftliche und rechtliche Situation der Klägerinnen keine Bedeutung gehabt, weil diese nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) und nach Verurteilung des ehemals beklagten Jobcenters zur Tragung der außergerichtlichen Kosten überhaupt keinen Forderungen ausgesetzt gewesen seien. Selbst bei unterstellter Kenntnis von dem in ihrem Namen geführten Erinnerungsverfahren habe ihnen dessen Ausgang egal sein können. Dass sie einer seelischen Unbill ausgesetzt gewesen seien, sei nicht erkennbar. Zwar werde nicht verkannt, dass durchaus ein Interesse an einem zügigen Verfahrensabschluss bestanden habe. Ein solches Interesse habe aber allein deren Prozessbevollmächtigter gehabt, der jedoch nicht selbst Entschädigungskläger sei. Einen Grund, dessen Interesse an einer zügigen Entscheidung über eine weitergehende Forderung den Klägerinnen zuzurechnen, sei nicht zu erkennen. Damit wäre aber auch im Fall des als nicht widerlegt angesehenen Eintritts eines immateriellen Nachteils der Klägerinnen eine Wiedergutmachung auf andere Weise durch die Feststellung der Überlänge ausreichend gewesen (Urteil vom 1.9.2022).
Die Klägerinnen haben für die Durchführung des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens PKH unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten beantragt. Die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Zudem sei das Entschädigungsgericht von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) abgewichen und habe verfahrensfehlerhaft gehandelt.
II
Der Antrag der Klägerinnen auf PKH ist abzulehnen. Damit entfällt zugleich die Möglichkeit der Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten im Rahmen der PKH (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Die von den Klägerinnen beabsichtigte Nichtzulassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Revision darf gemäß § 160 Abs 2 SGG nur zugelassen werden, wenn einer der dort abschließend genannten Revisionszulassungsgründe vorliegt. Das ist hier nach der im PKH-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung unter Berücksichtigung der Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen mit Schriftsatz vom 9.11.2022 und des Inhalts der vorliegenden Gerichtsakten nicht erkennbar.
1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist (stRspr; zB BSG Beschluss vom 17.10.2018 - B 9 V 20/18 B - juris RdNr 6). Eine Frage ist dann nicht mehr klärungsbedürftig, wenn sich ihre Antwort aus dem Gesetz ergibt oder sie bereits höchstrichterlich beantwortet ist. Ist sie noch nicht ausdrücklich entschieden, genügt es, dass schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zu ihrer Beantwortung geben (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 7.11.2022 - B 9 V 28/22 B - juris RdNr 9 mwN).
Rechtsfragen, die in diesem Sinne klärungsbedürftig sein könnten, haben die Klägerinnen nicht formuliert und sind auch nicht ersichtlich. Vielmehr hat das Entschädigungsgericht die aktuelle Rechtsprechung des BSG zur Anwendung und Auslegung von § 198 GVG bei überlanger Dauer von Sozialgerichtsverfahren zugrunde gelegt. Nach welchen Maßstäben die Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs 1 Satz 2 GVG zu bewerten ist, ist höchstrichterlich geklärt (vgl zB BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 45 ff; BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 31 ff; BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 23 ff). Hiervon ausgehend hat das Entschädigungsgericht die Zeiten aktiver Verfahrensförderung des Ausgangsgerichts von denjenigen gerichtlicher Untätigkeit unterschieden und anschließend eine Gesamtabwägung vorgenommen. Dabei hat es auch die Bedeutung der Sache ua unter Berücksichtigung der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Klägerinnen gewürdigt (vgl BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 35). Soweit die Klägerinnen monieren, dass eine finanzielle Entschädigung vom Entschädigungsgericht mit der Begründung versagt worden sei, dass der wirtschaftlich betrachtet "unter der Verzögerung leidende" Rechtsanwalt und seine formell zur Entschädigungsklage berechtigten Mandanten auseinanderfielen, hat das BSG in diesem Kontext bereits mit Urteil vom 12.12.2019 (B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 43) entschieden, dass Rechtsanwälte zur Durchsetzung ihres Gebührenanspruchs aus eigenem Recht ein schützenswertes Interesse an einer Kostenfestsetzung in angemessener Zeit haben, dessen Verletzung auch einen Anspruch auf Geldentschädigung begründen kann. Bei Kostenfestsetzungs- und Erinnerungsverfahren besteht insofern gemäß § 197 SGG die Besonderheit, dass nicht nur die Beteiligten des vorangegangenen Hauptsacheverfahrens, sondern auch deren Bevollmächtigte im eigenen Namen antragsberechtigt sind (BSG Urteil vom 10.7.2014 - B 10 ÜG 8/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 2 RdNr 28; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 197 RdNr 4 und 10). Des Weiteren ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit des Ausgangsgerichts von regelmäßig zwölf Monaten angemessen, sofern nicht nach den besonderen Umständen eine kürzere Vorbereitungs- und Bedenkzeit geboten erscheint (vgl zB BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R - BSGE 118, 91 = SozR 4-1720 § 198 Nr 7, RdNr 32; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 48). Hiervon ausgehend hat das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der Bedeutung des Streitgegenstands keine Kriterien erkannt, die es rechtfertigen könnten, für das vorliegende Erinnerungsverfahren von einer geringeren als der den Gerichten regelmäßig zustehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten auszugehen. Schließlich hat sich das BSG auch schon dazu geäußert, unter welchen Voraussetzungen die Vermutungsregel des § 198 Abs 2 Satz 1 GVG als widerlegt anzusehen ist (vgl BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 52 ff mwN).
Soweit die Klägerinnen die vom Entschädigungsgericht bei der Prüfung des § 198 GVG vorgenommene, aus ihrer Sicht fehlerhafte Gewichtung, Abwägung und Würdigung der vorliegenden Einzelfallumstände rügen wollten, würden sie sich gegen die fehlerhafte Rechtsanwendung wenden. Hierauf kann eine Grundsatzrüge jedoch nicht gestützt werden (vgl BSG Beschluss vom 19.5.2021 - B 10 ÜG 23/20 B - juris RdNr 9 mwN).
2. Ferner ist nichts dafür ersichtlich, dass das Entschädigungsgericht entscheidungstragend von der Rechtsprechung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG abgewichen sein könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Bei den dort genannten Gerichten handelt es sich um eine abschließende Aufzählung (BSG Beschluss vom 30.10.2019 - B 6 KA 22/19 B - juris RdNr 5 mwN). Die Behauptung der Klägerinnen, das Entschädigungsgericht sei von der Rechtsprechung des EGMR abgewichen, ist daher für die Bezeichnung einer Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG unerheblich (vgl BSG Beschluss vom 11.1.2018 - B 10 ÜG 5/17 BH - juris RdNr 6). Zudem hat sich das Entschädigungsgericht - wie oben ausgeführt - in seinem Urteil ausdrücklich auf die Rechtsprechung des BSG zu § 198 GVG gestützt. Es ist nicht ersichtlich, dass das Entschädigungsgericht dabei einen von der Rechtsprechung des BSG zur Auslegung des § 198 GVG abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat oder einen solchen aufstellen wollte; allein eine aus Sicht der Klägerinnen (vermeintlich) fehlerhafte Rechtsanwendung genügt insoweit nicht.
3. Ebenso wenig ist davon auszugehen, dass die Klägerinnen einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des Entschädigungsgerichts bezeichnen könnten (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Danach ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) sowie auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Entschädigungsgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Hierfür liegen keine Anhaltspunkte vor.
Soweit die Klägerinnen als Verfahrensmangel rügen, dass das Entschädigungsgericht "entscheidungserheblich auf eine nur außergesetzliche, unnormierte, nur ortsüblich bzw. ortsüblich werdend zu drohende Praxis" abstelle, "welche sich womöglich gar nicht mit dem geschriebenen Recht in Einklang bringen" lasse, wenden sie sich im Kern abermals gegen die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung. Dies gilt ebenso für ihre Kritik, das Entschädigungsgericht unterstelle dem "Anwalts-Mandantenverhältnis", dass das vorliegende Verfahren gar nicht im Interesse der Klägerinnen geführt worden sei. Die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des Entschädigungsgerichts im Einzelfall ist, wie ausgeführt, nicht zur Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde geeignet (stRspr; zB BSG Beschluss vom 14.6.2018 - B 10 ÜG 2/18 BH - juris RdNr 8 mwN).
KaltensteinRöhlCh. Mecke
Fundstellen
Dokument-Index HI15702611 |