Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Pflicht zur Gehörsgewährung
Orientierungssatz
Die Pflicht zur Gehörsgewährung bedeutet nur, dass den Beteiligten die vom Gericht eingeholten Tatsachen und Beweisergebnisse bekannt sein müssen; nicht aber muss das Gericht ihnen auch mitteilen, welche Schlussfolgerungen es aus den Tatsachen bzw Beweisergebnissen zieht bzw ziehen wird (vgl zB BVerfG vom 8.2.1994 - 1 BvR 765/89 ua = BVerfGE 89, 381, 392 mwN).
Normenkette
SGG § 62; GG Art. 103
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. November 2006 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten auch für das Beschwerdeverfahren, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 73.626,03 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Das Verfahren betrifft eine Zulassungsentziehung.
Die Zulassungsgremien hatten dem Kläger, einem zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Psychologischen Psychotherapeuten, die Zulassung entzogen. Seine dagegen gerichteten Rechtsbehelfe sind ohne Erfolg geblieben (zuletzt Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 29.11.2006).
Das LSG hat ausgeführt, dem Kläger sei die Zulassung zu entziehen, weil er vertragsärztliche bzw -psychotherapeutische Pflichten gröblich verletzt habe. Dabei könne offen bleiben, ob dies schon für sich allein genommen daraus resultiere, dass er jedenfalls in den Quartalen II und IV/2002 wiederholt inkorrekt gegenüber der beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung abgerechnet habe, indem er den Patienten N. auf Rügen behandelt, dies aber so abgerechnet habe, als ob er die Leistungen im Bezirk der Beigeladenen erbracht hätte. Dabei habe er auch jeweils unzutreffende Behandlungsdaten angegeben. Die Bewertung als gröbliche Pflichtverletzung, die die Zulassungsentziehung rechtfertige, ergebe sich jedenfalls aus den Falschabrechnungen in Verbindung mit seinem Verstoß gegen Dokumentationspflichten. Der Kläger habe in diesen Quartalen nach seinen Angaben auf jegliche schriftliche Dokumentation der Patientenbehandlungen verzichtet und sich vollständig auf eine elektronische Dokumentation auf der Festplatte seines Computers verlassen, ohne Sicherungskopien herzustellen, mit dem Risiko der Erschwerung bzw Vereitelung nachträglicher Überprüfungen seines Behandlungs- und Abrechnungsverhaltens im Falle technischen Versagens. Gerade im Falle atypischer Fallgestaltungen, wie der Kläger sie geltend mache, dass nämlich in Rügen wohnhafte Patientinnen und Patienten sich bei ihm in Berlin hätten behandeln lassen, sei eine peinlich genaue, im Nachhinein vollständig überprüfbare Dokumentation erforderlich. Er könne nicht einmal nachweisen, überhaupt eine Dokumentation auf der Festplatte vorgenommen zu haben. Nach dem Ergebnis der Überprüfung seines Computers durch die Fachfirma G. habe er entweder auf eine elektronische Dokumentation vollständig verzichtet oder seine Festplatte zu einem späteren Zeitpunkt neu formatiert und erneut mit Programmen bespielt. Sowohl ein vollständiger Verzicht auf jegliche Dokumentation als auch die nachträgliche Zerstörung aller vorhandenen Daten stellten ein schwerwiegendes Fehlverhalten dar. An dieser Bewertung ändere sich nichts dadurch, dass er nach seinen Angaben von einem Computerabsturz betroffen gewesen sei; danach hätte er sich in besonderem Maße um eine Datenrettung durch Fachkräfte bemühen müssen. Ebenso wenig ergebe sich eine andere Bewertung dadurch, dass er sich nach seinen Angaben in einer Lebenskrise befunden habe, die insbesondere durch Streit um das Sorgerecht für seinen Sohn ausgelöst worden sei.
Der Zulassungsentziehung stehe nicht entgegen, dass der Kläger seit seinen Pflichtverletzungen sog Wohlverhalten gezeigt habe. Während des Verfahrens habe er Fragen des Zulassungsausschusses nur zögernd und nicht vollständig beantwortet. Für die Anerkennung von Wohlverhalten reiche auch der Zeitablauf bis Ende 2003, als die sofortige Vollziehung der Zulassungsentziehung angeordnet worden sei, nicht aus.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG macht der Kläger Abweichungen von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und Verfahrensmängel geltend (Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 und 3 SGG).
II. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Weder die von ihm erhobenen Divergenz- noch seine Verfahrensrügen entsprechen den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Darlegungsanforderungen.
Die Zulässigkeit einer Divergenzrüge erfordert, dass Rechtssätze aus dem LSG-Urteil und aus einer höchstrichterlichen Entscheidung, die miteinander unvereinbar sind, einander gegenüber gestellt werden. Dabei muss der aktuelle Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung berücksichtigt werden (vgl zB BSG, Beschluss vom 7.2.2007 - B 6 KA 56/06 B - BeckRS 2007, 41946 - mwN). Für die erste vom Kläger erhobene Divergenzrüge - betreffend die Verhältnismäßigkeit von Zulassungsentziehungen - werden in der Beschwerdebegründung indessen nur Urteile aus den 70er und 80er Jahren angeführt (zur neueren Rechtsprechung s zB BSG MedR 1997, 86, 87, mit Verneinung eines Klärungsbedarfs; vgl auch die weiteren BSG-Angaben in BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 16). Für die zweite Abweichungsrüge - betreffend die Notwendigkeit vorheriger Belehrung - wird zwar ein neueres Urteil herangezogen (Beschwerdebegründung S 3 mit Bezugnahme auf BSG MedR 2003, 242 f). Beide Rügen genügen den Darlegungsanforderungen aber schon deshalb nicht, weil keine Rechts(ober)sätze aus den Entscheidungen des BSG sowie aus dem Urteil des LSG konkret angegeben und einander gegenüber gestellt werden, wie dies für eine zulässige Divergenzrüge erforderlich wäre.
Die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen sind ebenfalls unzulässig. Seine Rügen, das LSG habe sich auf Annahmen gestützt, zu denen er sich nicht habe äußern können, hat er nicht mit Darlegungen entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG untermauert.
Dies gilt zunächst für sein Vorbringen, zu den Folgerungen, die das LSG aus dem Bericht einer Fachfirma ziehe, dass er nämlich entweder auf eine Dokumentation vollständig verzichtet oder aber die Daten auf der Festplatte seines Praxiscomputers gelöscht habe, habe er sich nicht äußern können. Er macht dazu geltend, solche Feststellungen einer Fachfirma hätten weder existiert noch seien sie Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gewesen. Dieses Vorbringen hätte er aber angesichts der Aktenlage näher substantiieren müssen. Die Niederschrift des Beklagten vom 12.11.2003 (S 3) und der ihm zugestellte Beschluss des Beklagten vom 12.11.2003, worin der Bericht der Firma wiedergegeben ist und Schlussfolgerungen gezogen werden (S 10 f, 15, 16), sowie die Schriftsätze im Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz (zB des Beklagten vom 10.12.2003 S 3) legen nahe, dass er das Prüfergebnis der Fachfirma G. vom April 2003 kannte. Vor diesem Hintergrund hätte es für sein Vorbringen, ihm sei es nicht möglich gewesen, zu den Feststellungen der Fachfirma und zu den möglichen Schlussfolgerungen Stellung zu nehmen oder jedenfalls sei die vom LSG gezogene Schlussfolgerung für ihn überraschend, näherer Darlegungen bedurft. Für eine ausreichende Gelegenheit zur Stellungnahme hat das LSG nicht etwa dem Kläger die verschiedenen möglichen Folgerungen ausdrücklich und gezielt mitteilen müssen, ebenso wenig, zu welcher Bewertung es neige. Die Pflicht zur Gehörsgewährung bedeutet nur, dass den Beteiligten die vom Gericht eingeholten Tatsachen und Beweisergebnisse bekannt sein müssen; nicht aber muss das Gericht ihnen auch mitteilen, welche Schlussfolgerungen es aus den Tatsachen bzw Beweisergebnissen zieht bzw ziehen wird (vgl zB BVerfGE 89, 381, 392 mwN mit Trennung von Tatsachen und Beweisergebnissen einerseits und deren Verwertung andererseits). Im Übrigen hat der Kläger auch nicht dargelegt - wie es für die Zulässigkeit einer Gehörsverletzungsrüge erforderlich wäre -, was er im Fall der vermissten Gehörsgewährung vorgetragen hätte (zu diesem Erfordernis s zB BVerfGE 82, 236, 257; BVerfG ≪Kammer≫, NJW 2004, 1443).
Mit seiner weiteren Beanstandung, das LSG habe für seine Schlussfolgerungen nicht die erforderliche Sachkunde gehabt und den Bericht nicht ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens korrekt bewerten können, rügt er eine unzureichende Sachverhaltserforschung bzw unzureichende Sachkunde des Berufungsgerichts. Eine Verfahrensrüge - diese allein wird in der Beschwerdebegründung insoweit erhoben - kann indessen gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, was hier nicht der Fall ist. Soweit seine Rüge dahin zu verstehen sein soll, das LSG hätte den Bericht nur unter Darlegung seiner Sachkunde verwerten dürfen, was es aber nicht getan habe, sodass er zu der Annahme einer Sachkunde nicht habe Stellung nehmen können, entspricht die Rüge nicht den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Er hat schon nicht - wie erforderlich (s oben mit Hinweis auf BVerfGE 82, 236, 257) - dargelegt, was er im Fall der Gewährung von Gehör zur Frage der Sachkunde vorgetragen hätte. Zudem enthält die Beschwerdebegründung keine Ausführungen dazu, warum die vom LSG aus dem Bericht der Fachfirma ("... Betriebssystemdateien vorgefunden, aber keine Dokumente ... nach gelöschten Dateien oder Dateifragmenten abgesucht, ohne Erfolg") gezogene Schlussfolgerung, der Kläger habe entweder auf eine elektronische Dokumentation vollständig verzichtet oder seine Festplatte zu einem späteren Zeitpunkt neu formatiert und erneut mit Programmen bespielt, eine tiefere Sachkunde erfordert haben könnte.
Die ergänzenden Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 13.4.2007 haben nicht berücksichtigt werden können, weil sie erst nach Ablauf der Begründungsfrist eingegangen sind (hierzu s § 160a Abs 2 SGG). Im Übrigen hätten auch diese Ausführungen für eine zulässige Beschwerde schwerlich ausreichen können.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 SGG abgesehen.
Die Ablehnung des Antrags auf Prozesskostenhilfe beruht auf § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Satz 1 ZPO, wonach diese nur zu bewilligen ist, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Dies ist weder nach dem jetzigen Sachstand der Fall, noch war dies nach dem Stand im Zeitpunkt der Einreichung des Antrags zu bejahen. Aussichtsreiche Beschwerderügen gegen das Urteil des LSG sind von vornherein nicht erkennbar gewesen.
Die Kostenentscheidung hat ihre Rechtsgrundlage in § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Danach trägt der Kläger die Kosten des von ihm geführten erfolglosen Rechtsmittels (§ 154 Abs 2 VwGO). Eine Erstattung von Kosten der Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil sie sich im Beschwerdeverfahren nicht beteiligt haben (§ 162 Abs 3 VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts erfolgt entsprechend derjenigen des Sozialgerichts vom 2.3.2006, der keiner der Beteiligten entgegengetreten ist (§ 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1, § 47, § 40 Gerichtskostengesetz).
Fundstellen