Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Rechtliches Gehör. Überraschungsentscheidung. Gerichtlicher Hinweis. Einverständniserklärung. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Prozesssituation. Wesentliche Änderung. Entscheidungsgründe. Fehlen
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn die Entscheidung auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen die Beteiligten sich nicht äußern konnten (sog. Überraschungsentscheidung, oder wenn das Gericht seine Pflicht verletzt hat, das Vorbringen der Beteiligten in seine Erwägungen miteinzubeziehen.
2. Geboten ist lediglich dann ein Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte.
3. Äußerungen im Rahmen eines Rechtsgesprächs mit den Beteiligten stellen - da das Ergebnis von Entscheidungen, die in einer nachfolgenden Beratung erst gefunden werden sollen, nicht vorweggenommen werden darf - stellen keine Festlegungen dar, auf die sich diese bei ihrer weiteren Prozessführung einstellen können, solange sie nicht das Ergebnis einer förmlichen Beratung waren.
4. Eine Einverständniserklärung mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich ändert, z.B. wenn Zeugen vernommen, Beteiligte angehört, Auskünfte eingeholt oder Akten beigezogen werden oder ein Schriftsatz des Rechtsmittelgegners mit erheblichem neuen Vorbringen oder neuen Beweismitteln oder Anträgen eingereicht wird.
5. Eine Entscheidung ist nicht schon dann nicht mit Gründen versehen, wenn das Gericht sich unter Beschränkung auf den Gegenstand der Entscheidung kurz gefasst und nicht jeden Gesichtspunkt, der möglicherweise hätte erwähnt werden können, behandelt hat oder die Ausführungen des Gerichts zu den rechtlichen Voraussetzungen und tatsächlichen Gegebenheiten falsch, oberflächlich oder wenig überzeugend sein sollten.
Normenkette
SGG § 33 Abs. 1 S. 1, §§ 62, 103, 109, 124 Abs. 2, § 128 Abs. 1 S. 1, § 136 Abs. 1 Nr. 6, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, § 169; GG Art. 103 Abs. 1; UStG § 26b
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. Oktober 2018 - L 9 AS 337/16 - wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung ist als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG), weil der zu ihrer Begründung allein angeführte Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG schlüssig dargelegt ist.
Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14 S 21; BSG vom 24.3.1976 - 9 BV 214/75 - SozR 1500 § 160a Nr 24 S 31; BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 S 53). Dem genügt das Beschwerdevorbingen insbesondere nicht, soweit die Klägerin eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) rügt.
Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn die Entscheidung - hier: durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG - auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen die Beteiligten sich nicht äußern konnten (sog Überraschungsentscheidung; BVerfG vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188, 190; BVerfG vom 8.2.1994 - 1 BvR 765/89 ua - BVerfGE 89, 381, 392; vgl BSG vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1; BSG vom 16.3.2016 - B 9 V 6/15 R - SozR 4-3100 § 60 Nr 7 RdNr 26), oder wenn das LSG seine Pflicht verletzt hat, das Vorbringen der Beteiligten in seine Erwägungen miteinzubeziehen (BVerfG vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205, 216 f). Daraus folgt jedoch weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage im Rahmen der mündlichen Verhandlung oder einer sie ersetzenden Anhörung die endgültige Beweiswürdigung bereits darzulegen. Geboten ist vielmehr lediglich dann ein Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte (vgl nur BSG vom 16.3.2016 - B 9 V 6/15 R - SozR 4-3100 § 60 Nr 7 RdNr 26 mwN).
Dass es hier so liegen könnte, ist der Beschwerde nicht zu entnehmen. Danach habe der Berichterstatter des LSG im Anschluss an einen Erörterungstermin am 5.2.2018 und in dessen Rahmen abgegebene Einverständniserklärungen nach § 124 Abs 2 SGG mit Schreiben vom 17.7.2018 auf aus Sicht des Senats bis dahin nicht ausreichend erörterte Gesichtspunkte im Zusammenhang mit der Entscheidung des BSG zur Unbeachtlichkeit von Rückstellungen für die Umsatzsteuer bei der Einkommensberechnung bei selbstständiger Arbeit (BSG vom 22.8.2013 - B 14 AS 1/13 R - BSGE 114, 136 = SozR 4-4200 § 11 Nr 64, RdNr 28 ff) hingewiesen, die in der Fallkonstellation der Klägerin für die "Zulässigkeit der Bildung von Rückstellungen" sprächen. Nach Abgabe wechselseitiger Stellungnahmen hierzu habe er um erneute Einverständniserklärungen nach § 124 Abs 2 SGG gebeten, die vom Beklagten am 24.8. und von ihr am 31.8.2018 erteilt worden seien. Gestützt darauf habe das LSG die Berufung ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen, ohne an der im Schreiben vom 17.7.2018 geäußerten Rechtsauffassung festzuhalten.
Dass der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör durch diese Verfahrensweise entscheidungserheblich verletzt sein kann, zeigt die Beschwerde nicht ausreichend auf. Das durch Art 103 Abs 1 GG garantierte und gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG einfachrechtlich wiederholte prozessuale Grundrecht soll ua sicherstellen, dass die Beteiligten sich vor einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen äußern können. Dem konnte es dienen, die Beteiligten nach dem erklärten Verzicht auf mündliche Verhandlung durch richterlichen Hinweis auf Aspekte der nach dem Beschwerdevorbringen für das Ausgangsverfahren zentralen BSG-Entscheidung vom 22.8.2013 aufmerksam zu machen, die - so der Vortrag - bis dahin nicht erörtert worden waren. Werden solche Hinweise gegeben, kann das ein Vertrauen darauf begründen, dass eine einmal getroffene Festlegung nicht ohne vorherige Information der Beteiligten über eine mögliche andere Auffassung geändert wird (BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 10; BSG vom 18.7.2011 - B 14 AS 86/11 B - RdNr 7; BSG vom 3.4.2014 - B 2 U 308/13 B - RdNr 8 f; BSG vom 17.8.2017 - B 5 R 11/17 B - RdNr 8 f).
Jedoch kann und darf das Gericht - hier in der Besetzung mit drei Berufs- und zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGG) - das Ergebnis von Entscheidungen, die in einer nachfolgenden Beratung erst gefunden werden sollen, nicht vorwegnehmen (vgl nur BSG vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - RdNr 44). Demgemäß stellen Äußerungen im Rahmen eines Rechtsgesprächs mit den Beteiligten keine Festlegungen dar, auf die sich diese bei ihrer weiteren Prozessführung einstellen können (vgl BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 8; BSG vom 18.7.2011 - B 14 AS 86/11 B - RdNr 7; BSG vom 28.1.2013 - B 12 KR 21/12 B - RdNr 6), solange sie nicht das Ergebnis einer förmlichen Beratung waren (zu einer solchen Konstellation vgl nur BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 7).
Dass hiernach Anlass bestanden hat, die Beteiligten auf die Möglichkeit einer von dem Berichterstatterschreiben vom 17.7.2018 abweichenden Beurteilung hinzuweisen, ist der Beschwerde nicht hinreichend zu entnehmen. Zweifelhaft ist danach bereits, ob die Klägerin das Schreiben und die anschließende Verfahrensweise des LSG so verstehen durfte, dass über eine vorläufige Einschätzung der Rechtslage hinaus bereits eine abschließende Festlegung zu ihren Gunsten erfolgt war; dagegen könnte immerhin sprechen, dass sich das LSG nach der von ihm eingeräumten Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Hinweis des Berichterstatters - wie die Beschwerde sinngemäß zu verstehen ist - weiterer Äußerungen in der Sache enthalten und die Klägerin ihrerseits selbst die Notwendigkeit gesehen hat, auf die Stellungnahme des Beklagten zu erwidern, um dem LSG ihre Sichtweise (nochmals) zu erläutern.
Jedenfalls zeigt die Beschwerde nicht substantiiert auf, dass die Klägerin im Vertrauen auf die Aufrechterhaltung der im Hinweis vom 17.7.2018 geäußerten Rechtsauffassung Dispositionen getroffen hätte - insbesondere von Anträgen oder rechtlichem Vortrag Abstand genommen hat -, auf denen die Entscheidung des LSG iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG beruhen kann. Dass die Klägerin in Kenntnis der abschließenden Rechtsauffassung des LSG Beweisanträge gestellt hätte, trägt sie selbst nicht vor; das drängt sich auch sonst nicht auf. Soweit sie sinngemäß geltend macht, dass sie aufgrund der Verfahrensweise des LSG davon abgehalten worden sei, sich eingehender mit dessen geänderter Rechtsauffassung auseinanderzusetzen und auf die durch § 26b UStG sanktionsbewehrte Verpflichtung zur Bildung von Rücklagen zur Begleichung der Umsatzsteuerschuld hinzuweisen, ist das einerseits vage und steht andererseits im Widerspruch zu ihrem Vortrag, dass sie bereits von Beginn an auf diese Sanktionsnorm und die daraus zu ziehenden Schlüsse abgestellt habe; das musste aus ihrer Sicht auch nicht zuletzt deshalb als geboten erscheinen, weil - wie die Beschwerde zu verstehen ist - vor dem Hinweis vom 17.7.2018 mit einer Entscheidung zu ihren Lasten zu rechnen und daher zur Wahrung ihrer Interessen schon vor der im Rahmen des Erörterungstermins abgegebenen Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG alles vorzutragen war, was zur Wahrung ihrer Rechtsposition angezeigt erschien.
Entsprechend ist der Beschwerde nicht ausreichend zu entnehmen, dass sich nach dem am 31.8.2018 erklärten Einverständnis der Klägerin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Prozesssituation derart wesentlich geändert hat, dass die Erklärung im Zeitpunkt der LSG-Entscheidung ihre Wirksamkeit verloren hatte, wie sie ebenfalls rügt. Eine Einverständniserklärung iS des § 124 Abs 2 SGG verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich ändert. Das ist zB der Fall, wenn Zeugen vernommen, Beteiligte angehört, Auskünfte eingeholt oder Akten beigezogen werden. Dasselbe wird für den Fall angenommen, dass ein Schriftsatz des Rechtsmittelgegners mit erheblichem neuen Vorbringen oder neuen Beweismitteln oder Anträgen eingereicht wird (stRspr; vgl letztens nur BSG vom 16.7.2019 - B 12 KR 102/18 B - RdNr 6 mwN).
Solche Umstände zeigt die Beschwerde nicht auf. Dass nach Abgabe der Einverständniserklärung der Klägerin wesentlich neue Gesichtspunkte vorgetragen worden seien oder sich die Tatsachen- oder Rechtsgrundlage sonst entscheidungserheblich geändert hätte, macht sie selbst nicht geltend. Von einer wesentlich veränderten Prozesssituation auszugehen wäre deshalb nur, wenn das Beschwerdevorbringen nahelegen würde, dass das Berichterstatterschreiben vom 17.7.2018 im Sinne der Rechtsprechung zu Art 103 Abs 1 GG, § 62 Halbsatz 1 SGG schutzwürdiges Vertrauen in die Maßgeblichkeit einer vom Gericht den Beteiligten gegenüber vorgenommenen rechtlichen Bewertung des Prozessstoffs begründet hätte, woran es indes wie dargelegt fehlt.
Zuletzt ist der Beschwerde nicht hinreichend zu entnehmen, dass die Vorschriften über die Begründung eines Urteils verletzt sind, wie sie geltend macht. Nach § 136 Abs 1 Nr 6 SGG enthält das Urteil die Entscheidungsgründe. Gemäß § 128 Abs 1 Satz 2 SGG sind in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das bedeutet, aus den Entscheidungsgründen muss ersichtlich sein, auf welchen Erwägungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die Entscheidung beruht. Dafür muss das Gericht aber nicht jeden Gesichtspunkt, der erwähnt werden könnte, abhandeln (vgl BVerfG ≪Dreier-Ausschuss≫ vom 1.8.1984 - 1 BvR 1387/83 - SozR 1500 § 62 Nr 16; BVerfG ≪Kammer≫ vom 25.3.2010 - 1 BvR 2446/09 - juris RdNr 11). Auch braucht es nicht zu Fragen Stellung nehmen, auf die es nach seiner Auffassung nicht ankommt. Eine Entscheidung ist nicht schon dann nicht mit Gründen versehen, wenn das Gericht sich unter Beschränkung auf den Gegenstand der Entscheidung kurz gefasst und nicht jeden Gesichtspunkt, der möglicherweise hätte erwähnt werden können, behandelt hat. Die Begründungspflicht wäre selbst dann nicht verletzt, wenn die Ausführungen des Gerichts zu den rechtlichen Voraussetzungen und tatsächlichen Gegebenheiten falsch, oberflächlich oder wenig überzeugend sein sollten (BSG vom 22.1.2008 - B 13 R 144/07 B - RdNr 7 mwN). Dass gemessen daran das Urteil des LSG infolge einer - wie die Beschwerde geltend macht - fehlenden Befassung mit einem nach ihrer Auffassung vorliegenden Anhörungsmangel nicht als mit Gründen versehen anzusehen ist, ist nicht zu erkennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13579462 |