Leitsatz (amtlich)
1. Gegen Versäumung der Frist des SGG § 67 Abs 2 kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.
2. Ist die Frist für die Revisionsbegründung ohne Verschulden versäumt, kann die nach Wegfall des Hindernisses laufende Frist zur Nachholung der Revisionsbegründung nach SGG § 67 Abs 2 S 3 nicht durch den Vorsitzenden - etwa in entsprechender Anwendung des SGG § 164 Abs 1 S 2 - verlängert werden.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist wird als unzulässig zurückgewiesen.
Gründe
Das Urteil des Landessozialgerichts (LSG.) Celle ist dem Kläger am 17. Februar 1956 zugestellt worden. Am 13. März 1956 hat er um Bewilligung des Armenrechts für das Revisionsverfahren nachgesucht. Der Senat hat mit Beschluß vom 18. April 1958 das Armenrecht bewilligt und ihm Rechtsanwalt Dr. D als Prozeßbevollmächtigten beigeordnet. Dieser Beschluß ist dem Kläger am 24. April 1958 zugestellt worden. Die Revisionsschrift des Klägers vom 21. Mai 1958 - eingegangen am 22. Mai 1958 - enthält einen Sachantrag sowie den Antrag, dem Kläger gegen die Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er durch Armut an der rechtzeitigen Einlegung der Revision verhindert gewesen sei. Ausführungen zur Revisionsbegründung enthält dieser Schriftsatz nicht. Durch Beschluß vom 14. Juli 1958 wurde die Revision des Klägers wegen Fehlens der Revisionsbegründung verworfen; eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Revisionsfrist wurde abgelehnt, weil die versäumten Rechtshandlungen - Einlegung und Begründung der Revision - innerhalb der Frist des § 67 Abs. 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht vollständig nachgeholt wurden.
Mit Schriftsatz vom 19. Juli 1958 - eingegangen am gleichen Tage - hat der Kläger beantragt, die Frist zur Revisionsbegründung gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG bis 21. Juli 1958 zu verlängern. Diese Frist sei erst am 21. Juni 1958 abgelaufen gewesen, eine Verlängerung sei auch nach ihrem Ablauf zulässig. Der gleiche Schriftsatz enthält die Begründung der Revision. Ein weiterer Schriftsatz des Klägers vom 28. Juli 1958 - eingegangen am 29. Juli - regt an zu prüfen, ob nicht gegen die Versäumung der Frist zur Stellung des Antrages auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist von Amts wegen Wiedereinsetzung zu gewähren sei. Mit Schriftsatz vom 19. August 1958 - eingegangen am 20. August - hat der Kläger vorgetragen, daß sein Prozeßbevollmächtigter am 6. Mai 1958 nach einem Verkehrsunfall in ein Krankenhaus hätte eingeliefert werden müssen, weshalb am 21. Mai 1958 nur die Revisionsschrift hätte gefertigt werden können. Zur Wahrung der Begründungsfrist sei eine Wiedervorlage auf den 31. Mai 1958 eingetragen worden. Der Bürolehrling K des klägerischen Prozeßbevollmächtigten habe auch an diesem Tage die Wiedervorlageakten herausgesucht und den Wiedervorlagevermerk gestrichen. Wahrscheinlich infolge einer plötzlichen Abhaltung seien aber die Handakten in vorliegender Sache ohne Bearbeitung wieder abgelegt worden. Sie wurden erst bei einer allgemeinen Kontrolle am 15. Juli 1958 wieder aufgefunden. Auf diese Vorgänge werde der Wiedereinsetzungsantrag gestützt.
Die Anträge des Klägers konnten keinen Erfolg haben.
1. Nach § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG ist die Revision binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Bundessozialgericht (BSG.) einzulegen und binnen eines weiteren Monats zu begründen. Nach der Rechtsprechung des BSG. beginnt die Revisionsbegründungsfrist mit dem Ablauf der Revisionsfrist von einem Monat (BSG. 1, 82).
Nach § 67 Abs. 2 SGG muß bei schuldloser Versäumung einer gesetzlichen Verfahrensfrist die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag, d. h. binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses, nachgeholt werden. Die Nachholung ist Zulässigkeitsvoraussetzung für die Gewährung der Wiedereinsetzung auf Antrag oder von Amts wegen (BSG. vom 8.4.1957 in SozR. SGG § 67 Da 8 Nr. 11).
Der Kläger war durch seine Armut an der Einhaltung der Revisionsfrist und der Revisionsbegründungsfrist verhindert. Mit dem Tage nach Zustellung des Beschlusses auf Bewilligung des Armenrechts, das ist am 25. April 1958, beginnt die Monatsfrist, binnen der die versäumte Prozeßhandlung nachzuholen war (§§ 67 Abs. 2 Satz 3, 64 Abs. 1 SGG); denn an diesem Tage war das Hindernis, die Armut des Klägers, weggefallen und der Armenanwalt des Klägers in der Lage, für diesen die notwendigen Prozeßhandlungen vorzunehmen. Diese Frist endete mit dem Ablauf des 24. Mai 1958 (§ 64 Abs. 2 SGG).
Der Kläger hat am 22. Mai 1958 die Revisionseinlegung nachgeholt. Gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist könnte ihm daher, für sich allein betrachtet, Wiedereinsetzung gewährt werden, dagegen nicht auch gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist. Aus diesem Grunde wurde im Beschluß vom 14. Juli 1958 die Wiedereinsetzung abgelehnt.
Der 11. Senat des BSG. hat im Urteil vom 29. Oktober 1958 (SozR. SGG § 167 Da 6 Nr. 10) ausgesprochen, daß bei Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Revisionsfrist auch gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung zu bewilligen ist, wenn die Revisionsbegründung innerhalb eines Monats nach Einlegung der Revision eingeht.
Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung im Ergebnis an, wobei er von folgenden Überlegungen ausgeht:
Ist eine Verfahrensfrist versäumt, so wird im Fall der Wiedereinsetzung die versäumte Frist nicht neu gewährt, vielmehr tritt an ihre Stelle die Frist des § 67 Abs. 2 SGG, innerhalb derer, falls erforderlich, der Wiedereinsetzungsantrag zu stellen und in jedem Fall, also auch bei der Wiedereinsetzung ohne Antrag, die versäumte Rechtshandlung nachgeholt werden muß. Daß die versäumte Frist und die Nachholfrist Fristen verschiedener Art sind, ergibt sich eindeutig aus den §§ 234 ff. der Zivilprozeßordnung (ZPO), wonach die Nachholfrist stets zwei Wochen beträgt, auch wenn die versäumte Frist eine kürzere oder längere Laufzeit hatte.
§ 67 SGG regelt aber nur den Normalfall der Nachholung einer Prozeßhandlung. Für den besonderen Fall, daß die versäumte Prozeßhandlung wie die Revision aus zwei getrennten Teilen besteht, für die stets zwei sich nicht deckende Fristen laufen - die Begründungsfrist läuft immer später als die Einlegungsfrist ab - hat das Gesetz keine Bestimmung getroffen. Diese echte Lücke muß von der Rechtsprechung ergänzt werden. Dies kann sinnvoll nur in der Weise geschehen, daß bei Versäumung einer zweiteiligen Prozeßhandlung auch zwei Nachholfristen gemäß § 67 SGG eingeräumt werden, und zwar für jeden Teil der Prozeßhandlung getrennt. Für die Revisionseinlegung beginnt die Nachholfrist mit dem Wegfall des Hindernisses, das der rechtzeitigen Einlegung entgegenstand. Die Frist zur Begründung der Revision setzt nach ihrem Zweck und Wesen voraus, daß überhaupt eine Revision eingelegt ist. Für die Nachholung der versäumten Revisionsbegründung kann daher die Frist erst mit der Einlegung der Revision beginnen. Wollte man bei Versäumung der Revisionseinlegungs- und Revisionsbegründungsfrist die Nachholung beider Prozeßhandlungen innerhalb der Monatsfrist des § 67 SGG fordern, so stünde dem die im Gesetz festgelegte Zweiteilung des Rechtsmittels, auch hinsichtlich der Fristen, entgegen.
Die Revisionsbegründung hätte sonach spätestens am 23. Juni 1958 - der 22. Juni war ein Sonntag - dem BSG. vorliegen müssen; da sie erst am 19. Juli 1958 einging, ist sie verspätet.
2. Eine Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist ist im vorliegenden Fall nicht möglich und mußte vom Vorsitzenden des Senats daher abgelehnt werden.
Die Revisionsbegründungsfrist ist eine Verfahrensfrist. Ist sie ohne Verschulden versäumt und das Hindernis weggefallen, so läuft wie bereits oben dargelegt, zu ihrer Nachholung keine neue Begründungsfrist, sondern allein die Frist des § 67 Abs. 2 SGG. Eine Verlängerung dieser Nachholfrist durch den Vorsitzenden ist mangels einer gesetzlichen Bestimmung nicht möglich.
Da eine Verlängerung der Nachholfrist ausgeschlossen ist, kann auch gegen die Versäumung der Frist zur Stellung des Antrages auf Fristverlängerung durch den Vorsitzenden keine Wiedereinsetzung gewährt werden.
3. Die Revisionsbegründung wäre innerhalb der vom 22. Mai bis 23. Juni 1958 laufenden Frist gemäß § 67 Abs. 2 SGG nachzuholen gewesen. Auch diese Nachholfrist ist eine Verfahrensfrist, gegen deren schuldlose Versäumung an sich Wiedereinsetzung gewährt werden kann (§ 67 Abs. 1 SGG).
Der dahingehende Antrag des Klägers, eingegangen am 20. August 1958, konnte jedoch keinen Erfolg haben, da er verspätet gestellt wurde. Der Kläger macht geltend, daß die auf den 31. Mai 1958 vorgemerkte Wiedervorlage der Akten durch Verschulden des Büropersonals seines Prozeßbevollmächtigten unterblieb und deshalb die rechtzeitige Revisionsbegründung unterlassen wurde. Der Prozeßbevollmächtigte habe dies erst am 15. Juli 1958 bemerkt.
Unterstellt man dieses Vorbringen des Klägers zu seinen Gunsten als zutreffend, so war das Hindernis für die rechtzeitige Nachholung der Revisionsbegründung spätestens am 15. Juli 1958 weggefallen. Am 16. Juli 1958 begann die Monatsfrist zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrages gegen die Versäumung dieser Frist (§ 67 Abs. 2 SGG), sie lief am 15. August 1958 ab. Der erst am 20. August 1958 eingegangene Wiedereinsetzungsantrag des Klägers ist daher verspätet. Da der Senat von diesem Sachverhalt keine Kenntnis hatte und haben konnte, könnte eine Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Nachholfrist nur auf Antrag und nicht von Amts wegen gewährt werden. Die Frist zur Stellung dieses Antrages ist nicht gewahrt; der Wiedereinsetzungsantrag mußte deshalb als unzulässig zurückgewiesen werden.
Fundstellen