Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung auf Gerichtskunde
Leitsatz (redaktionell)
Will sich ein Tatsachengericht auf seine Gerichtskunde berufen, muß es dies den Beteiligten in der Entscheidung mitteilen, um ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Unterläßt das Gericht dies, verletzt es den Anspruch auf rechtliches Gehör und verstößt gegen SGG § 128 Abs 2, weil es das Urteil auf Tatsachen und Beweismittel gestützt hat, zu denen die Beteiligten sich nicht äußern konnten.
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 1974-07-30, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Juni 1975 zugelassen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgen den Kosten der Hauptsache.
Gründe
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Berufungsgerichts vom 24. Juni 1975 ist begründet. Die Revision ist zuzulassen.
Der Kläger rügt u.a. eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-; Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -GG-) und der Vorschrift des § 128 Abs. 2 SGG. Das Landessozialgericht (LSG) habe sich bei seiner Entscheidung folgendermaßen auf seine Gerichtskunde berufen:
"Die allgemeine Erfahrung, z.B. die Tatsache, daß Oberschenkelamputierte durchweg einen Beruf ausüben, rechtfertigt aber die Überzeugung, daß es grundsätzlich derartige Arbeitsplätze in hinreichender Zahl gibt, wie dem Senat auch aus anderen Berufungsverfahren bekannt ist."
Es sei zwar grundsätzlich zulässig, wenn das Tatsachengericht entweder die in einem anderen Verfahren erhobenen Beweise selbst oder aber das Ergebnis der Beweisaufnahme als gerichtskundig in das Verfahren einführe. Die Beteiligten müßten aber Gelegenheit haben, dazu Stellung zu nehmen. Diese Möglichkeit sei ihm, dem Kläger, nicht eingeräumt worden. Insbesondere habe das LSG nicht zu erkennen gegeben, daß es die in anderen Verfahren erhobenen Beweise oder das Ergebnis dieser Beweisaufnahmen als gerichtskundig in das Verfahren einführen wolle. Das Urteil dürfe nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten hätten äußern können. Der Kläger sieht in den geltend gemachten Verfahrensmängeln einen Grund zur Zulassung der Revision i.S. des § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG.
Die vom Kläger erhobene Rüge ist begründet. Die von ihm zutreffend zitierte Berufung des LSG auf seine Gerichtskunde hätte den Beteiligter vor der Entscheidung mitgeteilt werden müssen, um ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Das hat das LSG unterlassen. Daher hat es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Gleichzeitig hat es auch gegen § 128 Abs. 2 SGG verstoßen, wie dies der Kläger ebenfalls zutreffend geltend macht. Nach dieser Vorschrift darf nämlich das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (vgl. BSGE 22, 19; BSG SozR Nrn. 70 und 91 zu § 128 SGG; Beschluß des erkennenden Senats vom 26. Juni 1975 - 12 BJ 8/75 - zur Veröffentlichung bestimmt; Urteil des erkennenden Senats vom 26. Juni 1975 - 12 RJ 344/74 - zur Veröffentlichung bestimmt). Daß das Urteil auch auf diesem Verfahrensmangel beruht, ergibt sich aus seinen Entscheidungsgründen.
Da die Revision bereits auf Grund der vorstehend angeführten Rüge zuzulassen ist (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG), kann offenbleiben, ob die weiteren Rügen des Klägers durchgreifen und ebenfalls die Zulassung der Revision bewirken könnten.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgen den Kosten der Hauptsache (§ 193 SGG; Beschluß des erkennenden Senats vom 26. Juni 1975 - 12 BJ 8/75 - zur Veröffentlichung bestimmt).
Fundstellen