Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiederaufleben der Witwenrente nach Witwenrentenabfindung
Orientierungssatz
Anfrage beim 1. und 5b Senat des BSG, ob an der Rechtsauffassung festgehalten wird, daß nach § 1291 Abs 2 S 4 RVO eine bei Wiederheirat gezahlte Abfindung bei Beginn der wiederaufgelebten Witwenrente nach Ablauf des Abfindungszeitraumes einbehalten werden darf.
Normenkette
RVO § 1291 Abs 2 S 4, § 1302
Tatbestand
Streitig ist die Anrechnung einer gezahlten Witwenabfindung auf die wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin.
Seit 1. Mai 1973 bezog die Klägerin Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes W. S. Aus Anlaß ihrer Wiederheirat am 20. Dezember 1974 mit H. P. R. H. fiel die Witwenrente mit Ablauf des Monats Dezember 1974 weg. Durch Bescheid vom 17. Februar 1975 gewährte die Beklagte der Klägerin als Abfindung das Fünffache des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente (22.806, -- DM). Der Abfindungszeitraum begann am 1. Januar 1975 und endete am 31. Dezember 1979.
Die zweite Ehe der Klägerin wurde am 22. Juni 1976 rechtskräftig geschieden. Unterhaltsansprüche der Klägerin sind aufgrund der Scheidung nicht entstanden bzw nicht zu realisieren.
Im Januar 1981 beantragte die Klägerin das Wiederaufleben der Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes. Durch den streitigen Bescheid vom 5. August 1981 gewährte die Beklagte der Klägerin ab 1. Januar 1981 die wiederaufgelebte Witwenrente. Hierbei wurde die für die Zeit vom 1. Juli 1976 bis 31. Dezember 1979 gezahlte Witwenrentenabfindung für insgesamt 42 Monate in Höhe von 15.964,20 DM angerechnet und in monatlichen Teilbeträgen von 50, -- DM einbehalten. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 1983).
Mit ihrer Klage hatte die Klägerin Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- München vom 22. November 1985). Das SG hielt entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Anrechnung und Einbehaltung der auf den Zeitraum nach der Scheidung der zweiten Ehe entfallenden Abfindung für unzulässig, weil die Witwenrente infolge der verspäteten Antragstellung erst nach Ablauf des Abfindungszeitraumes wiederauflebe. Die Anrechnungs- und Einbehaltungsvorschrift des § 1291 Abs 2 Satz 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) diene lediglich der Verhinderung einer Doppelversorgung in dem Sinne, daß für einen bestimmten Zeitraum sowohl eine Witwenabfindung als auch eine wiederaufgelebte Witwenrente zu gewähren sei. Diese Doppelversorgung komme hier nicht in Betracht. Durch den Wegfall der Anrechnung der Abfindung erlange die Klägerin keinen ungerechtfertigten Vorteil. Die entgegenstehende BSG-Rechtsprechung sei in sich widersprüchlich und daher nicht tragfähig.
Hiergegen richtet sich die vom SG im angefochtenen Urteil zugelassene und mit Zustimmung der Klägerin eingelegte Sprungrevision der Beklagten. In ihrer Revisionsbegründung äußert die Beklagte erhebliche Bedenken gegen die bisherige Rechtsprechung des BSG; sie bittet deshalb das BSG um eine Überprüfung seiner Rechtsprechung, an die sie sich gebunden hält.
Die Beklagte beantragt,
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1. auf die Sprungrevision der Beklagten das Urteil |
des Sozialgerichts München vom 22. November 1985 |
aufzuheben; |
2. die Klage abzuweisen. |
Die Klägerin beantragt,
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1. die Revision der Beklagten als unbegründet |
zurückzuweisen; |
2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin |
auch die außergerichtlichen Kosten des |
Revisionsverfahrens zu erstatten. |
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (so die in der Beschlußformel aufgeführten Urteile sowie BSG vom 18. September 1973 - 12 RJ 128/72 = SozR Nr 36 § 1291 RVO) ist der auf die Zeit ab Auflösung der neuen Ehe entfallende Teil der wiederaufgelebten Witwenrente selbst dann einzubehalten, wenn der Antrag auf Wiedergewährung der Rente erst später als 12 Monate nach Auflösung der neuen Ehe gestellt und deswegen die wiederaufgelebte Rente erst von einem späteren Zeitpunkt an gezahlt wird. Von dieser Rechtsprechung ist das SG abgewichen. Bei Fortführung dieser Rechtsprechung müßte der Revision der Beklagten stattgegeben werden.
Der Senat hält indessen die bisherige Rechtsprechung des BSG im Ergebnis nicht für überzeugend. Der 1. Senat (SozR aaO S 40) stellt ua entscheidend darauf ab, daß die Abfindung nach § 1302 RVO keine der Kapitalabfindung iS der §§ 603 ff RVO und der §§ 72 ff BVG vergleichbare Leistung sei. Das trifft nicht zu. Die Kapitalabfindung einer Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zum Zwecke des Erwerbs von Grundbesitz (§§ 607 ff RVO) war in dem ab 1. Januar 1986 nicht mehr geltenden § 614 RVO geregelt. Im Bereich der Kriegsopferversorgung gilt die entsprechende Vorschrift des § 78a BVG. Die H e i r a t s abfindung dagegen ist in der Unfallversicherung eine besondere Abfindung nach § 615 RVO (der noch gilt), und in der Kriegsopferversorgung im Abschnitt "Hinterbliebenenrente" § 44 BVG geregelt. Diese Vorschriften sind mit § 1291 RVO sehr wohl vergleichbar. Auf sie ist noch zurückzukommen. Weiter führt der 1. Senat (aaO S 41) ins Feld, daß einer Berechtigten, die ihren Antrag später als 12 Monate nach Auflösung der neuen Ehe stellt, bis zum Wiederaufleben der Witwenrente sowohl die Abfindung als auch ein Versorgungsanspruch aus der neuen Ehe zugutekomme. Dies liegt allerdings im Wesen des § 1291 Abs 2 RVO. Da die auf die Zeit nach Auflösung der neuen Ehe entfallende Abfindung ohnehin nur von der wiederauflebenden Rente "einbehalten" werden darf (§ 1291 Abs 2 S 4 RVO), ist stets die Witwe begünstigt, deren Rente wegen eines neuen Versorgungsanspruches nicht wiederauflebt, weil hier auf Dauer nichts einzubehalten ist.
Soweit die Witwe durch eine spätere Antragstellung die Höhe der Abfindung nach ihrem Belieben bestimmen kann (SozR aaO S 41f), gilt dies im wesentlichen für Unterhaltsansprüche, die zeitlich bis zum Wiederaufleben begrenzt sind. Dem kann man fast immer durch Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruches begegnen (vgl SozR aaO Nr 16).
Subsidiär ist die wiederauflebende Rente nur gegenüber einem neuen Versorgungsanspruch, weil sie nur eine Versorgungslücke schließen soll, nicht aber gegenüber der Abfindung, weil diese als "Starthilfe" für die neue Ehe und nicht unter dem Aspekt der Unterhaltssicherung nach einer Auflösung dieser Ehe gewährt wird. Die Einbehaltung der Abfindung erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Doppelbelastung der Versichertengemeinschaft und weniger der Subsidiarität der Abfindung. Maßgebend ist demnach nicht die ersparte Rentenleistung des Versicherungsträgers (SozR aaO S 55 f), sondern die Identität des Abfindungs- und Wiederauflebenszeitraumes. Durch die Nichtinanspruchnahme der wiederauflebenden Rente tilgt die Witwe die einzubehaltende Abfindungssumme. Insoweit ist ihr eine Dispositionsmöglichkeit zuzubilligen.
Vergleichbare Regelungen in der Unfallversicherung (§ 615 RVO) und der Kriegsopferversorgung (§ 44 BVG) führen zu anderen Ergebnissen als die Rechtsprechung des BSG zu § 1291 RVO.
Nach § 615 Abs 1 RVO erhält eine Witwe bei Wiederheirat als Abfindung das 24fache (früher das 60fache) des Betrages, der als Witwenrente in den letzten 12 Monaten vor dem Wegfall der Rente wegen Wiederheirat im Monatsdurchschnitt gezahlt worden ist. Wird die zweite Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt, so lebt der Anspruch auf Witwenrente für die Zeit "nach Stellung des Antrages" wieder auf (§ 615 Abs 2 Satz 1 RVO). Insoweit deckt sich diese Regelung mit den §§ 1291, 1302 RVO. Im Falle der Wiederverheiratung ist die gezahlte Abfindungssumme in angemessenen monatlichen Teilbeträgen zurückzuzahlen (§ 615 Abs 3 Satz 1 RVO). Eine Einschränkung dieser Rückzahlungspflicht besteht nach § 615 Abs 3 Satz 2 RVO allerdings insoweit, als sich die zurückzuzahlende Abfindungssumme um den Betrag mindert, "den die Witwe . . . bis zum Wiederaufleben der Rente hätte beanspruchen können, wenn die neue Ehe nicht geschlossen worden wäre". Ohne die Wiederverheiratung der Witwe wäre die Witwenrente nicht weggefallen, sondern bis zum Antrag auf Wiederaufleben weiterzugewähren gewesen. Wird also der Antrag auf Wiederaufleben erst nach Ablauf des Abfindungszeitraumes (früher fünf Jahre, jetzt zwei Jahre) gestellt, so ist nach dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut von der Abfindung nichts zurückzuzahlen, weil die fiktive Rente zwischen Wiederverheiratung und Wiederaufleben die Höhe der zurückzuzahlenden Abfindungssumme mindestens erreicht hätte. Eine andere Auslegung des § 615 Abs 3 RVO ist von der Rechtsprechung, soweit ersichtlich, nicht vorgenommen worden. Lediglich Lauterbach (Unfallversicherung, § 615 RVO Anm 13) schließt sich unter Hinweis auf das BSG-Urteil vom 9. September 1983 (5b RJ 34/82 - nicht veröffentlicht) der Rechtsprechung des BSG an, ohne allerdings hierfür eine Begründung zu geben. Immerhin geht das zitierte BSG-Urteil auf § 615 RVO nicht ein.
Nach § 44 Abs 1 BVG erhält die Witwe im Falle der Wiederverheiratung an Stelle des Anspruchs auf Rente eine Abfindung in Höhe des 50fachen der monatlichen Grundrente. Wird die neue Ehe aufgelöst, so lebt der Anspruch auf Witwenversorgung (Witwenrente) wieder auf (§ 44 Abs 2 BVG). Ist die Ehe innerhalb von 50 Monaten nach der Wiederverheiratung aufgelöst worden, so ist bis zum Ablauf dieses Zeitraums für jeden Monat 1/50 der Abfindung auf die Witwenrente anzurechnen (§ 44 Abs 3 BVG). Eine Anrechnung und damit im Ergebnis eine Rückzahlung der Abfindung ist nach dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut nur bis zum Ablauf der Frist von 50 Monaten von der Wiederverheiratung an möglich (s auch BSGE 26, 114, 116 = SozR Nr 18 zu § 1291 RVO Bl Aa 19).
Wenn auch die Vorschriften der §§ 1291, 615 RVO und 44 BVG einen unterschiedlichen Wortlaut haben, so haben sie doch den gleichen Inhalt und die gleiche Zielsetzung, nämlich einen Anspruch auf Witwenrente im Falle der Wiederverheiratung abzufinden, bei Auflösung der Ehe jedoch unter gleichen Voraussetzungen diesen Anspruch wiederaufleben zu lassen, wobei allerdings in jedem Falle eine Doppelversorgung der Witwe dadurch vermieden werden soll, daß vor Ablauf des Abfindungszeitraumes der hierauf entfallene Teil der Abfindung anzurechnen oder zurückzuzahlen oder einzubehalten ist.
Im Interesse einer gleichmäßigen Behandlung gleichgelagerter Sachverhalte und gesetzlicher Regelungen hält es der Senat für geboten, die Grundsätze der §§ 615 Abs 3 RVO, 44 Abs 3 BVG auch bei der Auslegung des § 1291 Abs 2 letzter Satz RVO anzuwenden. Dem steht der Wortlaut dieser Vorschrift nicht entgegen. Es heißt dort, daß eine Abfindung einzubehalten ist, soweit sie für die Zeit "nach Wiederaufleben des Anspruchs auf Rente" gewährt ist. Dieser Anspruch ist von einem Antrag und damit von dem Beginn des Wiederauflebens nicht abhängig (so zB BSG-Urteil vom 15. März 1978 - 1/5 RJ 84/77 = SozR 2200 § 1291 Nr 15 Seite 39). Wäre dem Gesetzgeber daran gelegen gewesen, daß eine Abfindung ohne Rücksicht auf den Beginn der wiederaufgelebten Rente einzubehalten ist, so hätte er an Stelle des Gesetzestextes die Formulierung "nach Wiederaufleben der Rente" und nicht "nach Wiederaufleben des Anspruchs auf Rente" wählen können und müssen. Da dies nicht geschehen ist, ist die vom Senat beabsichtigte Auslegung, daß nach Ablauf des Abfindungszeitraumes eine Einbehaltung der Abfindung nicht mehr zulässig ist, zumindest mit dem Gesetz vereinbar.
Auch Billigkeitserwägungen sprechen dagegen, die Höhe der einzubehaltenden Restabfindung an das Stammrecht auf die wiederaufgelebte Witwenrente (so die Rechtsprechung des BSG) statt an die tatsächliche Zahlung zu knüpfen. Die Witwe, die wie hier ihren Antrag verspätet stellt, hat ohnehin schon den Nachteil des späteren Rentenbeginnes und damit einer Versorgungslücke zwischen der Auflösung der Ehe und der Rentenantragstellung. Dem steht der Vorteil des Versicherungsträgers gegenüber, von der Leistungspflicht befreit zu sein. Er kann deshalb darauf verwiesen werden, diesen Vorteil durch die Folgen der verspäteten Antragstellung auszugleichen, ohne hierfür die rentenberechtigte Witwe heranzuziehen.
Anders kann sich die Rechtslage darstellen, wenn auf die wiederaufgelebte Witwenrente neue Versorgungsansprüche anzurechnen sind. In diesem Fall würde nur ein Teil der Witwenrente wiederaufleben, so daß bis zum Ende des Abfindungszeitraumes die Restabfindung nicht getilgt wäre. Bei rechtzeitiger Antragstellung müßte die Witwe, selbst wenn die gesamte zu zahlende wiederaufgelebte Witwenrente einbehalten würde, über den Abfindungszeitraum hinaus die Restabfindung tilgen. Dem könnte die Witwe durch eine verspätete Antragstellung entgehen, sofern von diesem Zeitpunkt an eine Rückzahlungspflicht stets entfällt. Dieser Fall liegt indessen hier nicht vor. Im übrigen sind - soweit ersichtlich - diese Auswirkungen in der Unfallversicherung (§ 615 RVO) und in der Kriegsopferversorgung (§ 44 BVG) ohnehin nicht zu verhindern. Schließlich wäre es auch nur schwer verständlich, wenn, was nicht selten vorkommt, sich die Bezieherin einer Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung und der Kriegsopferversorgung oder der Unfallversicherung wieder verheiratet und diese Ehe vor Ablauf des Abfindungszeitraums aufgelöst wird, bei verspäteter Antragstellung ein Teil der Abfindung in der gesetzlichen Rentenversicherung einbehalten wird, in der Unfallversicherung und Kriegsopferversorgung dagegen nicht.
Die beabsichtigte Auslegung des § 1291 Abs 2 S 4 RVO durch den Senat dient somit auch der Rechtseinheit.
Die Rechtsprechung des 1. und des 5b Senats zeitigt im übrigen auch Ergebnisse, die sicher nur schwer hingenommen werden können. Der Senat verweist hierzu auf die von der beklagten LVA im Schriftsatz vom 31. Oktober 1985 angeführten Berechnungsbeispiele; dieser Schriftsatz liegt in Abdruck an.
Da der 12. Senat nach der Geschäftsverteilung für das Leistungsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr zuständig ist, bedarf es nur noch der Anfrage an den 1. und den 5b Senat.
Fundstellen