Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 16.03.1995)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. März 1995 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin wegen einer als Berufskrankheit (BK) der Nr 5101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) anerkannten Hauterkrankung einen Anspruch auf eine Verletztenrente hat.

Mit Bescheid vom 9. Dezember 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 1993 hat dies die Beklagte abgelehnt. Das Sozialgericht (SG) hat die Entscheidungen der Beklagten abgeändert und sie verurteilt, der Klägerin eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 vH ab dem 15. April 1992 zu gewähren (Urteil vom 11. Mai 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab dem 15. April 1992 eine Verletztenrente in Höhe von 20 vH der Vollrente zu gewähren, im übrigen hat es die Berufung zurück- und die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. März 1995).

Mit ihrer hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde macht die Beklagte Verfahrensmängel, eine Divergenz mit einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

Die Beschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.

Der für die Zulassung der Revision geltend gemachte Verfahrensmangel der Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil das LSG einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei, liegt der Sache nach nicht vor.

Auf die gerügte Verletzung des § 103 SGG kann der Verfahrensmangel nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Das ist dann der Fall, wenn das LSG aus seiner rechtlichen Sicht sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX, RdNr 134). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin hätte sich das LSG nicht gedrängt fühlen müssen, den von der Beklagten beantragten Beweis zu erheben. Zur diesbezüglichen weiteren Aufklärung des Sachverhalts hätte nur dann eine zwingende Veranlassung bestanden, wenn nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln, insbesondere den vorliegenden Gutachten, Fragen zum medizinischen Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des Berufungsgerichts erkennbar offen geblieben wären. Das ist hier nicht der Fall. Das LSG hat sich vielmehr mit dem Beweisantrag der Beklagten auseinandergesetzt und eine zumindest hinreichend Begründung dafür gegeben, warum es sich nicht veranlaßt sah, ein weiteres berufsdermatologisches Gutachten einzuholen.

Nach Auffassung der Beschwerdeführerin hätte das LSG ihren Antrag auf Einholung eines berufsdermatologischen Gutachtens zur Frage der MdE-Bewertung unter Berücksichtigung der aufgrund des BSG-Urteils vom 29. September 1992 – 2 RU 35/91 – durch die Arbeitsgemeinschaft für Berufs- und Umweltdermatologie (ABD) überarbeiteten MdE-Empfehlungen nicht abweisen dürfen, weil aufgrund neuer aktueller Forschungsergebnisse zur MdE-Bewertung bei Hautkrankheiten und aufgrund von Fachgesprächen ein Wandel bei der MdE-Einschätzung eingetreten sei, ua bei der Beurteilung des Vorkommens von Allergenen in krankheitsauslösender Form auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Die von der ABD der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft erarbeiteten Empfehlungen für die Einschätzung der MdE bei BKen der Haut nach der Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO stellen nach der Rechtsprechung ein geeignetes Hilfsmittel zur Einschätzung der MdE bei typischen Hauterkrankungsfällen dar (BSGE 63, 207). Auch allgemeine Erfahrungssätze, die von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeitet wurden, sind bei der Bewertung der MdE zu beachten (BSG SozR 2200 § 581 Nr 23) und müssen ggf bei neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen darauf geprüft werden, ob sie den technischen Entwicklungen und den Änderungen auf dem maßgebenden allgemeinen Arbeitsmarkt sowie gewandelten sozial-medizinischen Anschauungen und neuen sozial-medizinischen Erkenntnissen anzupassen sind. Dies gilt auch für die MdE-Einschätzung bei Hautkrankheiten.

Mit ihrem Vortrag übersieht die Beschwerdeführerin aber, daß zur Zeit der Entscheidung des LSG zwar über eine Änderung der MdE-Bewertung bei Hauterkrankungen in den Empfehlungen der ABD diskutiert und beraten wurde. Wann aber die Meinungsbildung über eine Aktualisierung der MdE-Bewertung bei Hautkrankheiten in den zuletzt seit 1987 bekanntgegebenen Empfehlungen der ABD aufgrund der gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse der medizinisch-wissenschaftlichen Forschung zur Zeit der Entscheidung des LSG abgeschlossen sein würde, war damals nicht abzusehen. Nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin gaben zwar Forschungsergebnisse bzw Studien Anlaß, die Empfehlungen der ABD im Hinblick auf eine Aktualisierung zu überprüfen. Auch wurden für eine Modifikation dieser Empfehlungen Vorschläge erarbeitet. Daraus ergibt sich bereits, daß ein abschließendes Ergebnis für die Überarbeitung der Empfehlungen der ABD im Hinblick auf die bisher gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse der Bewertung beruflich verursachter Hautkrankheiten noch nicht vorlag. Eine Änderung der allgemein anerkannten Bewertungsmaßstäbe für Hauterkrankungen war noch nicht erfolgt. Damit konnte entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin noch nicht davon ausgegangen werden, daß ein Wandel bei der MdE-Einschätzung für Hauterkrankungen eingetreten war. Nachdem überarbeitete Empfehlungen der ABD zur Zeit der Entscheidung des LSG noch nicht vorlagen, sondern erst mit dem Rundschreiben VB 72/95 des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 27. Juli 1995 veröffentlicht wurden, hätten sie bei einer Begutachtung noch keine Berücksichtigung finden können. Das LSG mußte sich schon deshalb nicht gedrängt fühlen, den Beweisantrag der Beschwerdeführerin stattzugeben, zumal er in seiner Bezugnahme fehlerhaft ist, weil eine Überarbeitung der Empfehlungen der ABD nicht aufgrund des Urteils des BSG vom 29. September 1992 – 2 RU 35/91 – erfolgte. Die in dem Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften VB 76/87 vom 15. Oktober 1987 veröffentlichte Fassung der Empfehlungen der ABD hat das LSG berücksichtigt und ist insoweit den von der Beklagten vorgelegten Gutachten der Hautärztin Prof. Dr. B. … vom 16. September 1994 gefolgt.

Soweit die Beklagte eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG zur Bewertung der MdE bei Hauterkrankungen (Urteil vom 29. September 1992 – 2 RU 35/91 –) rügt, fehlt es an einer schlüssigen Begründung. Eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nur dann ausreichend begründet, wenn erklärt wird, mit welchem genau bestimmten, entscheidungserheblichen Rechtssatz das angegriffene Urteil von welcher genau bestimmten, die Entscheidung tragenden rechtlichen Aussage des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 21, 29 und 54), und warum das angefochtene Urteil auf dieser Abweichung beruht. Diese Voraussetzungen hat die Beschwerdeführerin schon deshalb nicht dargetan iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, weil sie keinen konkreten – von einer bestimmten rechtlichen Aussage in den angezogenen Entscheidungen des BSG abweichenden – Rechtssatz des Berufungsgerichts bezeichnet hat. Dazu reicht es nicht aus, daß – wie hier – die Beschwerdeführerin darlegt, die Entscheidung des LSG lasse die vom BSG in den angezogenen Entscheidungen geforderten konkreten Feststellungen zur Häufigkeit des Allergens in krankheitsauslösender Beschaffenheit und zum Sensibilisierungsgrad vermissen und habe damit gegen die Rechtsprechung des BSG verstoßen. Im übrigen liegt keine Divergenz vor, wenn das LSG im konkreten Fall lediglich einen vom BSG aufgestellten Rechtssatz unzutreffend anwendet. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung (vgl Krasney/Udsching, aaO, RdNr 78). Davon abgesehen ist den Ausführungen der Beschwerdeführerin zu entnehmen, daß sie im Kern eine unrichtige Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) durch das LSG betreffen. Auf eine solche Rüge kann jedoch nach der ausdrücklichen Vorschrift des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG die Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden.

Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muß nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt werden. Sie ist gegeben, wenn zu erwarten ist, daß die Revisionsentscheidung die Rechtseinheit in ihrem Bestand erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts fördern wird. Es muß eine über den Einzelfall hinausgehende klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen sein, welche bisher revisionsgerichtlich noch nicht – ausreichend – geklärt ist (s ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 17). Demgemäß muß bei Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache aufgezeigt werden, ob und inwieweit zu der aufgeworfenen Frage bereits Rechtsgrundsätze herausgearbeitet sind und in welchem Rahmen noch eine weitere Ausgestaltung, Erweiterung oder Änderung derselben durch das Revisionsgericht erforderlich erscheinen (vgl Krasney/Udsching, aaO RdNrn 65 f; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNrn 116 ff).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Hinsichtlich der nach Ansicht der Beschwerdeführerin zu klärenden Frage, wie die MdE bei Hautkrankheiten zu ermitteln und zu bewerten ist, wenn durch die eingetretene Sensibilisierung nur ein Teilbereich des Arbeitsmarktes verschlossen ist, ist bereits zweifelhaft, ob es sich bei der nach Ansicht der Beschwerdeführerin zu klärenden Frage um eine Rechtsfrage und nicht um eine Tatsachenfrage handelt. Doch selbst wenn es sich zumindest bezüglich der Bewertung der MdE um eine Rechtsfrage handelt, fehlt es an der Darlegung ihrer Klärungsbedürftigkeit. Denn die Beschwerdeführerin hat nicht angegeben, ob zu der von ihr als grundsätzlich angesehen Frage, die von ihr zitierte Rechtsprechung einer weiteren Ausgestaltung, Erweiterung oder Änderung bedarf. Die Beschwerdeführerin hat sich nicht mit diesen zitierten Urteilen des BSG auseinandergesetzt, die gerade die Bewertung der MdE bei Hautkrankheiten betreffen. Der lediglich pauschale Hinweis, daß eine spezifische Rechtsprechung in Ansehung der neueren Urteile des BSG zur MdE-Feststellung nicht existiere, wird den Anforderungen zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit nicht gerecht. Das gleiche gilt für die weitere, nach Ansicht der Beschwerdeführerin zu klärende Frage, ob zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegende neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Gebiet der dermatologischen Forschung bzw Arbeitsmedizin berücksichtigt werden müssen, wenn kein formelles Verfahren mit abschließendem „Inkraftsetzen” der neuen Erkenntnisse existiere. Die Beschwerdeführerin hat nicht angegeben, ob zu dieser von ihr als grundsätzlich angesehenen Frage bereits Rechtsprechung des BSG vorhanden ist und inwieweit diese Rechtsprechung einer weiteren Ausgestaltung, Erweiterung oder Änderung bedarf.

Die Beschwerde war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173476

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