Leitsatz (amtlich)

Das Vorbringen der Revision, das Berufungsgericht habe etwas zugesprochen, was vom Kläger nicht beantragt worden sei, ist keine Rüge iS des SGG § 162 Abs 1 Nr 2, da es sich gegen das Verfahren selbst nicht berührende, materielle Prozeßrecht richtet, also den Inhalt der Entscheidung betrifft.

 

Normenkette

SGG § 123 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Januar 1973 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision nicht zugelassen; das von der Beklagten gleichwohl eingelegte Rechtsmittel wäre daher nach Lage des Falles nur zulässig, wenn ein - tatsächlich vorliegender (vgl. BSG 1, 150 (152)) - wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt worden wäre (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.

Die Rüge einer Verletzung von § 123 SGG geht fehl. Die Revision meint eine solche Verletzung darin finden zu können, daß das LSG etwas zugesprochen habe, was nicht beantragt gewesen sei; sie ist demnach wohl der Ansicht, daß das in § 308 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ausgesprochene Verbot auch in § 123 SGG enthalten und bei dessen Verletzung ein wesentlicher Verfahrensmangel gegeben sei, der die Revision statthaft mache. Dies ist jedoch nicht der Fall. Nach § 308 Abs. 1 ZPO ist das Gericht "nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist". § 123 SGG bestimmt dagegen nur, daß das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche entscheidet, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Damit unterscheidet sich der Wortlaut § 123 SGG auch von den rechtsähnlichen Vorschriften des § 88 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und des § 96 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung, wo es heißt: "Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen ...". Ob angesichts dieses unterschiedlichen Wortlauts der Auffassung von Zeihe, Komm. zum SGG, 3. Aufl., Stand 30.6.1972, Anm. 5 b zu § 123 SGG zuzustimmen ist, daß § 308 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar sei, vielmehr hier über die Anträge hinaus gegangen werden könne, kann hier dahinstehen. Denn auch wenn man auf die Vorschrift des § 123 SGG, die in BSG 11, 26, 29, als zwingende Prozeßnorm bezeichnet worden ist, die strengeren Grundsätze insbesondere des § 308 Abs. 1 ZPO anwendet, so betrifft jedenfalls ein Verstoß gegen das genannte Verbot den Inhalt der Entscheidung, nicht aber das Verfahren; die Rüge der Nichtbeachtung von § 308 ZPO bezieht sich nämlich nicht auf die rechtlich falsche Beurteilung verfahrensrechtlicher Vorgänge (RGZ 156, 372 (376); BGH LM Nr. 7 zu § 308 ZPO; Rosenberg/Schwab, ZPR, 10. Aufl., S. 760 unter III; Stein/Jonas, Komm. zur ZPO, 18. Aufl., Bem. I 1 c zu § 308). Die auf einen solchen Verstoß gestützte Rüge vermag daher die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG ebensowenig zu begründen wie die eines Verstoßes gegen das Verbot der sog. reformatio in peius (vgl. BSG SozR Nr. 3 zu § 123 SGG), da sie sich gegen das das Verfahren selbst nicht berührende "materielle Prozeßrecht" richtet (RGZ 156, 372, 376; 110, 150, 151 zu § 308 ZPO). Für die - dem Wortlaut nach - weniger strenge Vorschrift des § 123 SGG muß zumindest das gleiche gelten. Beide "Verbote" müssen überdies in verfahrensrechtlicher Hinsicht gleich behandelt werden (vgl. dazu auch Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 3. Aufl., Seite II/121 und Seite II/123). Diesem Ergebnis steht der Beschluß des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. Januar 1969 in SozR Nr. 13 zu § 123 SGG bzw. Nr. 48 zu § 150 SGG nicht entgegen. Dort ist zwar gesagt worden, es liege ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, wenn das Sozialgericht (SG) unter Verletzung des § 123 SGG Übergangsgeld bereits für eine frühere, von dem Klageantrag nicht umfaßte Zeit zugesprochen habe. Auf diese nicht näher begründete Auffassung des 4. Senats kam es aber bei dem damaligen Beschluß nicht entscheidend an, denn die Berufung ist trotzdem als unzulässig erachtet worden, weil der "wesentliche Verfahrensmangel" nicht den vom Kläger erhobenen prozessualen Anspruch betroffen habe. Da der 4. Senat demnach die Frage des Vorliegens eines wesentlichen Verfahrensmangels hätte dahingestellt sein lassen können, trägt der dahingehende Hinweis seine Entscheidung nicht.

Ob das Gericht dadurch, daß es mehr zugesprochen hat als der Kläger beantragt hatte, gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen haben kann (vgl. Eyermann/Fröhler, Komm. zur VwGO, 5. Aufl. Anm. 3 zu § 88 VwGO), war hier nicht zu prüfen, da die Beklagte eine solche Rüge nicht erhoben hat.

Auch die Rüge einer Verletzung von § 128 SGG greift nicht durch. Die Schätzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) beruht auf einer Ausübung des Rechts der freien Beweiswürdigung (BSG 4, 147 (149)). Eine Überschreitung der Grenzen dieses Rechts durch das LSG ist nicht ersichtlich. Sie ist insbesondere auch nicht darin zu finden, daß das LSG von der MdE-Schätzung des Sachverständigen abgewichen ist. Zwar verletzt das Gericht den § 128 SGG, wenn es in medizinischen Fragen ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die ärztlichen Sachverständigen hinweggeht und seine eigene Auffassung an deren Stelle setzt (BSG SozR Nr. 2 zu § 128 SGG). Das hat das LSG jedoch nicht getan, wenn es, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen, lediglich in der nicht in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlicher Erfahrung beruhenden Frage des Grades der MdE nicht der Schätzung der Sachverständigen gefolgt ist (vgl. BSG 6, 267). Es ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt des § 128 SGG zu beanstanden, daß das LSG dem der Gewährung der vorläufigen Rente zugrunde liegenden Gutachten hinsichtlich der MdE-Schätzung den Vorzug gegeben hat. Das LSG hat dargelegt, daß die von ihm zu treffende Feststellung keine Änderung der Verhältnisse voraussetze, und daß eine Bindung an die früher getroffenen Feststellungen nicht bestehe. Damit fehlt es an jedem Anhalt für die Annahme, das LSG habe sich bei seiner Überzeugungsbildung von mit dem Gesetz nicht vereinbaren Erwägungen beeinflussen lassen, wobei dahinstehen mag, ob ein etwaiger Rechtsirrtum in dieser Richtung einen Mangel des Verfahrens i. S. von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG begründen könnte (vgl. BSG 8, 284 (290)).

Keinen Erfolg hat auch die Rüge, das LSG habe dadurch, daß es entschieden habe, ohne zuvor selbst Beweis erhoben zu haben, gegen § 103 SGG verstoßen. Es ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, darüber zu befinden, ob und welche Beweise zu erheben sind. Die Revision hat nicht hinreichend dargetan, inwiefern die bereits vorliegenden medizinischen Befunde, die das LSG zu würdigen hatte zu einer sicheren tatsächlichen Feststellung nicht ausgereicht haben sollen, insbesondere zu welchem von den vorliegenden Gutachten abweichenden Ergebnis eine weitere Beweisaufnahme nach Ansicht der Beklagten geführt hätte (vgl. BSG 1, 91; SozR Nr. 28 zu § 164 SGG).

Nach alledem war die nicht statthafte Revision als unzulässig zu verwerfen § 169 Satz 2 SGG.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669035

NJW 1973, 2079

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?