Entscheidungsstichwort (Thema)

Anhörung eines Gutachters in der mündlichen Verhandlung

 

Leitsatz (redaktionell)

Auch in der Sozialgerichtsbarkeit muß das Verfahren so gestaltet sein, daß eine möglichst weitgehende Gewähr für die Anhörung der Beteiligten und für die Ermittlung des wahren Sachverhalts besteht. Diesem Zweck kann es in besonderem Maße dienen, wenn die Beteiligten Gelegenheiten erhalten, an den Sachverständigen sachdienliche Fragen zu stellen. Das Gericht kann jedoch einen Antrag, der auf die persönliche Anhörung und Befragung eines Sachverständigen zur Erläuterung eines schriftlichen Gutachtens hinzielt, ablehnen, wenn hierzu keine Notwendigkeit besteht. Dem Antrag braucht insbesondere dann nicht entsprochen zu werden, wenn er nach der Überzeugung des Gerichts nicht die Sachdienlichkeit der Fragen erkennen läßt.

 

Normenkette

SGG § 118 Fassung: 1958-08-23, § 116 S. 2 Fassung: 1958-08-23; ZPO § 397 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12, § 402 Fassung: 1950-09-12

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. September 1974 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger begehrt die Zahlung von Verletztenrente mit der Behauptung, daß der Arbeitsunfall vom 24. Januar 1971 auch über die 13. Woche hinaus erwerbsmindernde Folgen hinterlassen habe. Gegen den diesbezüglichen ablehnenden Bescheid der Beklagten hat der Kläger erfolglos Klage und Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision nicht zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel dennoch eingelegt. Es wäre mithin nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) gerügt worden wäre (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) und auch tatsächlich vorläge (BSG 1, 154 und 254) oder das LSG bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall das Gesetz verletzt hätte (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Beide Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.

Der Kläger rügt, das LSG habe seinem Antrag, ein Obergutachten einzuholen, hilfsweise die Gutachter Privatdozent Dr. F. und Dr. W. zur Erläuterung ihres Gutachtens in der mündlichen Verhandlung zu laden, nicht entsprochen und damit gegen § 118 SGG i.V.m. §§ 402, 397 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verstoßen. Diese Rügen greifen jedoch nicht durch.

Das Gutachten der genannten Ärzte ist vor der mündlichen Verhandlung als schriftliches Gutachten nach § 106 Abs. 3 SGG eingeholt worden. Danach kann der Vorsitzende bzw. der Berichterstatter des Gerichts zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen (§ 106 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 5; § 155 SGG). Für die Beweisaufnahme gelten, wie in SozR Nr. 160 zu § 162 SGG dargelegt ist, u.a. die Vorschriften in den §§ 116 und 118 SGG entsprechend (§ 106 Abs. 4 SGG). § 116 SGG regelt das Recht der Teilnahme an der Beweisaufnahme und das Fragerecht der Beteiligten; diese können der Beweisaufnahme beiwohnen und an Zeugen und Sachverständige sachdienliche Fragen richten lassen. Der § 118 SGG verweist für die Beweisaufnahme auf die wesentlichen Vorschriften der ZPO, die - soweit das SGG nichts anderes bestimmt - entsprechend anzuwenden sind. Es finden danach auch im sozialgerichtlichen Verfahren die Vorschriften über den Beweis durch Sachverständige in den §§ 402-413 ZPO Anwendung, darunter auch die Bestimmungen, die für diesen Beweis wiederum auf die Vorschriften über den Beweis durch Zeugen verweisen (§ 402 ZPO). Von den hiernach anwendbaren Vorschriften über den Zeugenbeweis ist im vorliegenden Fall § 397 ZPO von Bedeutung. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift sind die Parteien - im sozialgerichtlichen Verfahren die Beteiligten (§ 69 SGG) - berechtigt, den Zeugen - und nach § 402 ZPO auch den Sachverständigen - diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten. Es handelt sich dabei um die im wesentlichen gleiche Befugnis, wie sie in § 116 Satz 2 SGG normiert ist.

Das Fragerecht der Beteiligten wird nicht etwa dadurch eingeschränkt, daß nach § 411 Abs. 3 ZPO das Gericht das Erscheinen des Sachverständigen von Amts wegen anordnen kann, damit er das schriftliche Gutachten erläutere. Diese Bestimmung gibt dem Gericht nur eine Befugnis, von der es im Rahmen seines Ermessens Gebrauch machen kann. Nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte führt das Fragerecht der Parteien nach §§ 397, 402 ZPO dazu, daß im Falle der schriftlichen Begutachtung das Erscheinen des Sachverständigen vor Gericht regelmäßig anzuordnen ist, wenn dies eine Partei beantragt. Dies gilt auch dann, wenn der Antrag nur hilfsweise gestellt wird. Nicht erforderlich ist, daß die Partei, die von ihrem Fragerecht Gebrauch machen will, dem Gericht diese Fragen in allen Einzelheiten genau formuliert bei der Antragstellung bekannt gibt. Es genügt vielmehr, wenn dem Gericht die Absicht der Fragestellung und die Richtung mitgeteilt werden, in der die Fragen an den Sachverständigen den Sachverhalt weiter klären sollen (vgl. BGHZ 6, 398, 401; 24, 10, 14; 35, 370, 371). Diese Rechtsprechung der Zivilgerichte ist vom Bundesfinanzhof für das finanzgerichtliche Verfahren übernommen worden (vgl. BFH, Bundessteuerblatt (BStBl.) 1970, Teil II S. 460, 461). Sie ist auch für das Verfahren der Gerichte für das sozialgerichtliche Verfahren bedeutsam; denn im allgemeinen nötigt weder das besondere Sachgebiet, das der Beurteilung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit unterliegt, noch der Umstand, daß in der Praxis dieser Gerichte die schriftliche Begutachtung durch Sachverständige die Regel bildet, dazu, von den Grundsätzen abzugehen, nach denen das Beweismittel des Sachverständigen in der anderen Gerichtsbarkeit benutzt wird. Auch in, der Sozialgerichtsbarkeit muß das Beweisverfahren so gestaltet sein, daß eine möglichst weitgehende Gewähr für die Anhörung der Beteiligten und für die Ermittlung des wahren Sachverhalts besteht. Diesen Zwecken kann es in besonderem Maße dienen, wenn die Beteiligten Gelegenheit erhalten, an den Sachverständigen sachdienliche Fragen zu stellen (vgl. BSG in SozR Nr. 160 zu § 162 SGG Bl. Da 47 und 47 R). Wie das Bundessozialgericht in dieser Entscheidung jedoch weiter ausgesprochen hat, kann mit Rücksicht darauf, daß im sozialgerichtlichen Verfahren der Sachverhalt von Amts wegen erforscht wird und das Gericht an die Beweisanträge der Beteiligten regelmäßig nicht gebunden ist (§ 103 SGG), das Gericht einen Antrag, der auf die persönliche Anhörung und Befragung eines Sachverständigen zur Erläuterung eines schriftlichen Gutachtens hinzielt, ablehnen, wenn hierzu keine Notwendigkeit besteht. Dies ist nicht nur der Fall, wenn etwa der Antrag offensichtlich lediglich zum Zwecke der Prozeßverschleppung oder sonst mißbräuchlich gestellt worden ist. Dem Antrag braucht auch dann nicht entsprochen zu werden, wenn er nach der Überzeugung des Gerichts nicht die Sachdienlichkeit der Fragen erkennen läßt, die an den Sachverständigen gestellt werden sollen (BSG aaO Bl. Da 47 R). Die für den Zivilprozeß bestimmte Formulierung in § 397 Abs. 1 ZPO: "... die sie zur Aufklärung der Sache ... für dienlich halten" kann bei der entsprechenden Anwendung der Vorschrift im sozialgerichtlichen Verfahren keine über § 116 Satz 2 SGG hinausgehende Bedeutung haben, weil hier insoweit etwas anderes bestimmt ist (§ 118 Abs. Satz 1 SGG). Es kommt also darauf an, daß die Fragen, die dem Sachverständigen zur Beantwortung vorgelegt werden sollen, der Aufklärung des Sachverhalts objektiv dienen können. Damit braucht auch nicht befürchtet zu werden, daß das Antragsrecht der Beteiligten zu einem Mißbrauch oder - wegen der Kostenfreiheit des sozialgerichtlichen Verfahrens (anders im Verfahren der FGO) für die Kläger - zu einem unbegründeten - Überhandnehmen solcher Anträge und damit zu einer untragbaren finanziellen Belastung der Sozialgerichte führen könnte. Je nach Lage des Falles wird das Gericht, bei dem ein Antrag auf mündliche Anhörung des Sachverständigen gestellt wird, auch zu prüfen haben, ob nicht durch eine schriftliche Befragung des Sachverständigen oder durch die Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens der gleiche Erfolg erzielt werden kann wie durch mündliche Anhörung.

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 12. September 1974 lediglich beantragt, "die Gutachter Prof. Dr. F. und Dr. W. zur Erläuterung Ihrer Gutachten in der mündlichen Verhandlung zu laden". Er hat nicht angegeben, zu welchen Fragen oder in welcher Richtung der Gutachter gehört werden soll, so daß die Sachdienlichkeit der Fragen nicht erkennbar war. Im übrigen hat der Kläger diesen Antrag in der mündlichen Verhandlung vom 25. September 1974, wie die Niederschrift über diese erkennen läßt - möglicherweise aus guten Gründen-, nicht wiederholt (anders BStBl aaO.). Inzwischen war nämlich eine Stellungnahme - die vom 13. September 1974 stammt - zu den Ausführungen des Klägers hinsichtlich des Gutachtens von Privat-Dozent Dr. F. von diesem eingegangen; diese wurde am 25. September 1974 den Beteiligten überreicht. Ob das Gericht deshalb davon ausgehen durfte, daß der schriftsätzlich gestellte Antrag damit seine Erledigung gefunden habe, konnte hier dahinstehen, da das LSG jedenfalls der Auffassung sein durfte, daß eine Sachdienlichkeit des Antrags nicht dargetan war. Die diesbezüglichen Ausführungen des Urteils lassen keinen Verfahrensmangel erkennen. Das Gericht hat zu dem Antrag des Klägers, Dr. F. und Dr. W. zu hören, erklärt, es seien keine (zusätzlichen) Beweisfragen vom Kläger gestellt worden, die nicht schon von den Sachverständigen beantwortet worden wären.

Auch die Rüge des Klägers, das Berufungsgericht habe es zu Unrecht unterlassen, ein Obergutachten einzuholen, greift nicht durch. Abgesehen davon, daß das sozialgerichtliche Verfahren den Begriff eines "Obergutachtens" nicht kennt, weil durch den Begriff "Ober" nicht schon eine vorweggenommene Beweiswürdigung stattfinden darf, sondern es sich lediglich um ein weiteres Gutachten handeln könnte, liegt in der Ablehnung des Antrages auf Einholung eines solchen Gutachtens deswegen kein Verfahrensverstoß in der Form der Verletzung der Aufklärungspflicht, weil das LSG davon ausgehen konnte, daß der Sachverhalt in medizinischer Hinsicht ausreichend aufgeklärt war. Es ist nicht ersichtlich, daß die vorliegenden Gutachten grobe Mängel aufwiesen, die das Gericht hätten veranlassen müssen, den ganzen Streitstoff erneut von Grund auf medizinisch beurteilen zu lassen. Es hatte die vorhandenes Gutachten nur gegeneinander abzuwägen; diese Abwägung im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 128 SGG läßt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens nicht erkennen.

Schließlich greift auch die Rüge, das LSG habe bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall das Gesetz verletzt (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG), nicht durch. Diese Rüge ermangelt schon den Formerfordernissen nach (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG), denn der Kläger hat nicht dargetan, daß das LSG die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltende Kausalitätsnorm durch Verkennung des Begriffs der wesentlichen Bedingung verletzt hätte (vgl. BSG Bd. 1, 150, 156; 268/69; 30, 167, 178). Die Revision nimmt offenbar irrig an, in der Verletzung der Sachaufklärungspflicht liege gleichzeitig eine Gesetzesverletzung i.S. des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG.

Da sonach kein die Statthaftigkeit der Revision rechtfertigender Grund des § 162 SGG gegeben ist, mußte das Rechtsmittel als unzulässig verworfen werden (§ 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648362

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