Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Umkehr der objektiven Beweislast
Orientierungssatz
1. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Es besteht keine Verpflichtung, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann deshalb nur festgestellt werden, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist (vgl BVerfG 1974-11-21 2 U 91/73 = BVerfGE 47, 182).
2. Die objektive Beweislast kehrt sich selbst dann nicht um, wenn durch pflichtwidriges Verhalten eines Beteiligten der Beweis für eine anspruchsbegründende Tatsache nicht geführt werden kann (vgl BSG 1961-07-28 8 RV 145/59 = SozR Nr 60 zu § 128 SGG). Bei einem Beweisnotstand eines Beteiligten, der die Beweislast zu tragen hat, kann sich das Gericht allerdings mit einem geringeren Grad an Wahrscheinlichkeit begnügen (vgl BSG 1966-09-26 5 RKn 31/66 = BG 1967, 114).
Normenkette
SGG § § 62, 128 Abs 1, § 128 Abs 2
Verfahrensgang
Gründe
Die Klägerin ist mit dem Begehren, ihr wegen Gesundheitsstörungen, die sie als Folgen eines am 4. November 1974 erlittenen Arbeitsunfalls ansieht, Entschädigungsleistungen zu gewähren, im Berufungsverfahren ohne Erfolg geblieben (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Baden-Württemberg vom 20. Oktober 1982).
Dagegen wenden sich die Klägerin und die Beigeladene mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Sie rügen Verfahrensmängel.
Die Beschwerden sind unzulässig.
Das Urteil des LSG ist beiden Beschwerdeführerinnen am 19. November 1982 zugestellt worden. Die von der Klägerin fristgerecht eingelegte und begründete Beschwerde wirkt auch zugunsten der Beigeladenen. Denn die Beigeladene betreibt die Feststellung der Unfallentschädigung der Klägerin gemäß § 1511 Reichsversicherungsordnung (RVO) und ist damit notwendige Streitgenossin der Klägerin (§ 74 Sozialgerichtsgesetz -SGG- iVm § 62 Zivilprozeßordnung -ZPO-). Das erst nach Ablauf der bis zum 21. Februar 1983 verlängerten Beschwerdebegründungsfrist eingegangene Vorbringen der Beigeladenen im Schriftsatz vom 15. März 1983 ist jedoch - weil verspätet - nicht zu berücksichtigen, soweit die Beigeladene nicht nur der Beschwerdebegründung der Klägerin beitritt, sondern von der Klägerin gerügte Verfahrensmängel erst bezeichnet iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG oder selbst Verfahrensmängel geltend macht.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision ua nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. In der Beschwerdebegründung muß nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
Nach Meinung der Klägerin hat das LSG seine ihm nach § 103 SGG obliegende Sachaufklärungspflicht verletzt, denn es hätte sich gedrängt fühlen müssen, entsprechend dem von der Beigeladenen im Schriftsatz vom 20. Juli 1982 gestellten Beweisantrag, dem sie sich im Schriftsatz vom 16. September 1982 angeschlossen habe, ein nervenfachärztliches und psychiatrisches Gutachten von Dr Durst in Heidelberg einzuholen. Die Klägerin und auch die Beigeladene haben diesen Antrag jedoch bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 20. Oktober 1982 nicht mehr aufrechterhalten. Allerdings sind Beweisanträge nicht nur solche Anträge, die in einem Protokoll über eine mündliche Verhandlung aufgenommen werden, sondern auch diejenigen, die in den vorbereitenden Schriftsätzen enthalten sind (BSG SozR 1500 § 160 Nr 12). Aus dem Ablauf des Berufungsverfahrens ist jedoch zu entnehmen, daß die Klägerin und die Beigeladene an dem schriftsätzlich gestellten Antrag nicht mehr festgehalten haben. Nachdem der Vorsitzende des Senats des LSG den Beteiligten am 23. September 1982 mitgeteilt hatte, daß der Senat nicht die Absicht habe, von Dr Durst ein Gutachten einzuholen, und der Klägerin für einen Antrag nach § 109 SGG eine Frist bis zum 18. Oktober 1982 setzte, hat die Klägerin dazu im Schriftsatz vom 8. Oktober 1982 Stellung genommen und ausgeführt, sie schließe aus der Verfügung des Vorsitzenden des Senats des LSG, daß der Senat die Beweisaufnahme als abgeschlossen ansehe und danach nur die Würdigung der Beweise und der Rechtslage zur Verhandlung anstehe. Ein Festhalten an dem Beweisantrag hätte zumindest in einem entsprechenden Hilfsantrag der Klägerin oder der Beigeladenen zum Antrag auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung der Vollrente ab 1. Januar 1978 bis auf weiteres und auf Zurückweisung der Berufung der Beklagten zum Ausdruck kommen müssen. Die in der mündlichen Verhandlung am 20. Oktober 1982 gestellten Hilfsanträge der Klägerin enthalten nicht die Einholung eines Gutachtens von Dr Durst. Die Klägerin kann unter diesen Umständen im Beschwerdeverfahren nicht rügen, das Berufungsverfahren leide wegen der unterbliebenen Einholung eines Gutachtens von Dr Durst an einem wesentlichen Mangel (vgl BSG SozR Nr 2 zu § 295 ZPO; ständige Rechtsprechung des Senats vgl Beschluß vom 3. Oktober 1982 - 2 BU 157/82 - mit weiteren Nachweisen).
Die Beigeladene hat an dem Beweisantrag gleichfalls nicht festgehalten.
Hinsichtlich der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 20. Oktober 1982 hilfsweise beantragten Anhörung des Dr Kienast als sachverständigen Zeugen ist in der Beschwerdebegründung nicht dargelegt, inwiefern sich das LSG hätte gedrängt fühlen müssen, diesen Arzt als sachverständigen Zeugen zu vernehmen. Aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung am 20. Oktober 1982 geht nur hervor, daß Äußerungen des Dr Kienast verlesen worden sind, die sich in den Verwaltungsakten der Beklagten und in den Gerichtsakten befinden. Nach den Ausführungen des LSG im angefochtenen Urteil (S 27 und 28) sollte Dr Kienast zur Unfallschilderung der Klägerin und zu seinen diagnostischen Angaben gegenüber der Klägerin gehört werden. Das LSG hat eine Vernehmung des Dr Kienast nicht für erforderlich gehalten, weil es den Unfallablauf in Übereinstimmung mit der Klägerin als erwiesen ansah und die diagnostischen Angaben des Dr Kienast dahingestellt bleiben könnten, weil die infrage kommenden Krankheitsbilder nicht mit Wahrscheinlichkeit Unfallfolgen seien. Mangels irgendeines Vorbringens zu diesen Ausführungen des LSG in der Beschwerdebegründung der Klägerin ist nicht dargelegt, daß § 103 SGG verletzt worden ist.
Eine Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften in bezug auf die von der Klägerin hilfsweise beantragte Anhörung des Dr Rompe zur Erläuterung seines Gutachtens vom 24. Mai 1982 ist in der Beschwerdebegründung nicht bezeichnet. Nach § 118 Abs 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO kann das Gericht, das ein schriftliches Gutachten eingeholt hat, das Erscheinen des Sachverständigen anzuordnen, damit er das schriftliche Gutachten erläutere. Wie das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt entschieden hat, muß das Gericht, wenn es den Sachverständigen nicht von sich aus lädt, dies auf Antrag einer Partei tun, die an den Sachverständigen zur Ergänzung des Gutachtens sachdienliche Fragen stellen will (BSG SozR Nr 160 zu § 162 SGG; VersorgsB 1974, 143; SozSich 1975 ResprNr 2947; vgl auch Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 160 Anm 7a S III/80-66 und Anm 7c S III (81-3-.; Meyer-Ladewig, SGG 2. Auflg, § 118 Anm, 12). Die Ausübung des Fragerechts ist Ausfluß des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG). Die Klägerin legt in der Beschwerdebegründung nicht dar, welche Fragen sie in dem Berufungsverfahren dem LSG vorgetragen hat, die sie dem Sachverständigen Dr Rompe zur Erläuterung seines Gutachtens zu stellen beabsichtigte. Fragen zur Person des Sachverständigen, die sie möglicherweise stellen wollte, betreffen nicht die Erläuterung des Gutachtens. Zudem hatte die Klägerin dazu einen weiteren Beweisantrag gestellt, nämlich auf Beiziehung der Akten des Sozialgerichts (SG) Karlsruhe (S 5 V 1665/67). Das LSG hat diesem Beweisantrag nicht entsprochen. Im Beschwerdeverfahren ist die unterbliebene Beiziehung der Akten von der Klägerin nicht gerügt worden.
Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, die die Klägerin darin sieht, daß das LSG auf ihr Vorbringen zum Beweisnotstand nicht eingegangen ist, ist ebenfalls nicht in einer den gesetzlichen Erfordernissen entsprechenden Weise bezeichnet. Dem Anspruch der Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz -GG-; §§ 62 und 128 Abs 2 SGG) entspricht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die Verpflichtung des Gerichts, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 11, 218, 220; 14, 320, 323; 18, 380, 383; 22, 267, 273; 42, 364, 367; vgl auch BSG SozR 1500 § 160 Nr 31). Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (BVerfGE 40, 101, 104; 47, 182, 187). Es besteht keine Verpflichtung, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (BVerfGE 13, 132, 149; 42, 364, 368; 47, 182, 187). Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann deshalb nur festgestellt werden, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist (BVerfGE 27, 248, 251; 42, 364, 368; 47, 182, 188). Es sind von der Klägerin keine Umstände vorgetragen worden, die den Schluß zuließen, das LSG habe das Vorbringen der Klägerin zum Beweisnotstand (ihre Erklärung vom 22. Juli 1981 und ihren Schriftsatz vom 16. September 1982) nicht berücksichtigt. Im Tatbestand des Urteils des LSG (S 14) ist zudem das Vorbringen der Klägerin zum Beweisnotstand und ihre Auffassung über die daraus herzuleitenden Folgen erwähnt; in den Entscheidungsgründen (S 28) hat das LSG ausgeführt, daß und warum es auf die Beweislastverteilung und insbesondere auf die von der Klägerin angeschnittene Frage der Beweiserleichterung aufgrund des Verfahrens der Beklagten nicht ankommt. Das BSG hat überdies zur Frage einer etwaigen Umkehr der Beweislast in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß sich die objektive Beweislast (vgl BSGE 6, 70, 73; 15, 112, 114; 19, 52, 53; 30, 121, 123; 35, 216, 217) selbst dann nicht umkehrt, wenn durch pflichtwidriges Verhalten eines Beteiligten der Beweis für eine anspruchsbegründende Tatsache nicht geführt werden kann (BSGE 24, 25, 27; SozR Nr 60 zu § 128 SGG). Bei einem Beweisnotstand eines Beteiligten, der die Beweislast zu tragen hat, kann sich das Gericht allerdings mit einem geringeren Grad an Wahrscheinlichkeit begnügen (BSG BG 1967, 114).
Die Beschwerden mußten daher verworfen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen