Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 06.12.2016; Aktenzeichen L 2 VG 54/14) |
SG Kiel (Entscheidung vom 21.02.2014; Aktenzeichen S 15 VG 130/09) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Dezember 2016 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die 1966 geborene Klägerin begehrt Leistungen der Opferentschädigung, weil ihr leiblicher Vater sie in Kindheit und Jugend sexuell missbraucht habe.
Das beklagte Land lehnte den Entschädigungsantrag der Klägerin ab. Ein Angriff iS von § 1 Opferentschädigungsgesetz gegen die Klägerin könne nicht als erwiesen angesehen werden. Keiner der befragten Zeugen könne von eigenen Wahrnehmungen über den behaupteten Missbrauch berichten. Die diagnostizierten Gesundheitsstörungen bewiesen ebenfalls keinen sexuellen Missbrauch. Die Klägerin habe sich erstmals im Jahr 2005 an die Vorkommnisse erinnert, als sie sich bereits in psychologischer Behandlung befunden habe. Es bestehe die Möglichkeit von Scheinerinnerungen (Bescheid vom 16.12.2008, Widerspruchsbescheid vom 27.5.2009).
Das von der Klägerin angerufene SG hat ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt und die Klage abgewiesen. Sexuelle Übergriffe seien nicht glaubhaft gemacht (Urteil vom 21.2.2014).
Das Berufungsgericht hat ein weiteres aussagepsychologisches Gutachten aufgrund ambulanter Untersuchung der Klägerin eingeholt und die Berufung zurückgewiesen. Unter Berücksichtigung der Aussageentstehung und Entwicklung sei weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht, dass die Klägerin Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden sei (Urteil vom 6.12.2016).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt. Das LSG habe ihr Recht auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör verletzt.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde wie im Fall der Klägerin darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Die Begründung der NZB genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil weder der behauptete Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (1.) noch eine Gehörsverletzung (2.) ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Der aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Anspruch auf ein faires Verfahren ist nur verletzt, wenn grundlegende Rechtsschutzstandards, wie das Gebot der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, das Verbot von widersprüchlichem Verhalten oder von Überraschungsentscheidungen nicht gewahrt werden (BSG SozR 4-1500 § 118 Nr 3 mwN).
Mit welchem Verhalten das LSG diese Rechtsschutzstandards unterschritten haben sollte, trägt die Beschwerde nicht substantiiert vor. Insbesondere legt sie nicht dar, durch welche Verhaltensweisen das LSG, wie von ihr behauptet, die Vorschrift über die Beweiserhebung in der mündlichen Verhandlung, § 117 SGG, über die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung, § 124 Abs 1 SGG, oder über die Mitwirkung der Richter nach § 129 SGG verletzt haben konnte.
Insbesondere für die Verletzung der in § 117 SGG geregelten Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ist nichts dargetan. Als Ausnahme von der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung sieht die Prozessordnung schriftliche Sachverständigengutachten, § 118 SGG iVm § 411 ZPO und schriftliche Zeugenvernehmungen vor, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 377 Abs 3 ZPO. Ebenso zulässig ist grundsätzlich die Verwertung von Zeugenaussagen aus beigezogenen Akten (vgl BSG Beschluss vom 13.8.2015 - B 9 V 13/15 B - Juris). Die Würdigung solcher schriftlich vorliegenden Beweismittel durch das erkennende Gericht in der mündlichen Verhandlung verstößt nicht gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (vgl Hauck in: Zeihe, SGG, § 117 SGG RdNr 2d gg mwN; Leopold in: Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 117 RdNr 13 mwN; vgl BSG Urteil vom 12.4.2000 - B 9 SB 2/99 R - RdNr 13 Juris). Anderslautende Anträge der Klägerin, die auf eine unmittelbare Vernehmung gerichtet waren (vgl BSG Urteil vom 8.9.2010 - B 11 AL 4/09 R) trägt die Beschwerde nicht vor.
Speziell die Einholung und Berücksichtigung aussagepsychologischer Gutachten (sog Glaubhaftigkeitsgutachten) ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats im sozialen Entschädigungsrecht zulässig (BSG Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R - BSGE ≪vorgesehen≫, SozR 4-3800 § 1 Nr 23 mwN). Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt. Dies gilt auch für die Einholung eines sogenannten Glaubhaftigkeitsgutachtens (BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9). Entscheidet sich das Tatsachengericht ermessensfehlerfrei dafür, ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen, so gibt es damit zugleich zu erkennen, wegen der Besonderheiten des Falles auf sachverständige Hilfe bei der Beurteilung einer Aussage angewiesen zu sein. Die Klägerin hat weder substantiiert vorgetragen, warum die Entscheidung des LSG für ein Glaubhaftigkeitsgutachten ermessensfehlerhaft gewesen sein sollte noch, warum trotz der Anhörung und Begutachtung durch eine darauf spezialisierte Sachverständige eine weitere Anhörung der Klägerin durch das Gericht selbst sinnvoll und erforderlich gewesen wäre.
2. Soweit die Beschwerde rügt, das LSG habe nicht entscheiden dürfen, ohne die Klägerin in der mündlichen Verhandlung anzuhören, macht sie in der Sache eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG). Auch insoweit entsprechen ihre Ausführungen aber nicht den Darlegungsanforderungen. Denn dieser Anspruch soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (s § 128 Abs 2 SGG; vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). Das Gericht muss jedoch nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist nur dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (BVerfGE aaO), zB wenn ein Gericht das Gegenteil des vorgebrachten - ohne entsprechende Beweisaufnahme - annimmt, oder den Vortrag eines Beteiligten als nichtexistent behandelt (vgl BVerfGE 22, 267, 274), oder wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, sofern der Tatsachenvortrag nach der Rechtsauffassung des Gerichts nicht unerheblich ist (BVerfGE 86, 133, 146). Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Darüber hinaus ist Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Rüge, dass der Kläger darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6).
An diesen Darlegungen fehlt es. Die Klägerin meint, das LSG habe die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben nicht aufgrund des vorliegenden aussagepsychologischen Gutachtens beurteilen dürfen, ohne sie persönlich anzuhören. Sie sei zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht geladen worden und auch nicht persönlich anwesend gewesen. Die Beschwerde beschäftigt sich indes nicht damit, dass sich aus der Postzustellungsurkunde in der LSG-Akte ergibt, dass die Klägerin persönlich zum Verhandlungstermin geladen worden ist (S 294 Akte). Aus ihrer NZB ergibt sich nicht, warum sie trotz Ladung nicht an der mündlichen Verhandlung teilgenommen und damit ihrerseits alles getan hat, um sich das gewünschte rechtliche Gehör zu verschaffen.
Die Beschwerde rügt darüber hinaus, das LSG habe sich in seinen Urteilsgründen auf eine Entscheidung des BSG gestützt, die bei Verkündung des Berufungsurteils noch nicht vorgelegen habe. Insoweit fehlt es indes bereits an der Darlegung, welchen rechtlichen oder tatsächlichen Vortrag der Klägerin das LSG mit seinem Hinweis auf höchstrichterliche Rechtsprechung abgeschnitten haben sollte und warum das Berufungsurteil ohne diesen Hinweis anders ausgefallen wäre, obwohl die Vorinstanz insoweit auf eine rechtsstaatlich bedingte Selbstverständlichkeit verweist.
Soweit die Beschwerde schließlich kritisiert, das LSG habe sich nicht mit der Verwertung schriftlicher Zeugenaussagen zufriedengeben dürfen, sondern hätte diese persönlich vernehmen müssen, rügt sie der Sache nach einen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht des Berufungsgerichts, § 103 SGG. Indes kann nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ein Verfahrensmangel nur dann auf eine Verletzung des § 103 SGG gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Einen solchen Beweisantrag gestellt zu haben, behauptet die Klägerin nicht.
Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI11261221 |