Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Bezeichnung des Verfahrensmangels
Orientierungssatz
Zur ausreichenden Bezeichnung des Verfahrensmangels, der darin erblickt wird, daß das LSG einem Beweisantrag unter Verletzung seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen sei, muß substantiiert dargelegt werden, aus welchen Gründen heraus sich das LSG von seinem rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt sehen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären; denn ob einem Gericht ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, ist nicht nach der Rechtsauffassung des Rechtsmittelgerichts, sondern nach der Rechtsauffassung des Gerichts zu beurteilen, dem der Verfahrensverstoß vorgeworfen wird (vgl BSG vom 16.3.1979 - 10 BV 127/78 = SozR 1500 § 160a Nr 34).
Normenkette
SGG § 160a Abs 2 S 3, § 160 Abs 2 Nr 3, § 103
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.12.1992; Aktenzeichen L 9 Ar 2/91) |
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die rückwirkend zum 3. März 1989 erfolgte Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) und die Ablehnung der Wiederbewilligung von Alhi ab 27. März 1989.
Seine Klagen blieben erst- und zweitinstanzlich erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei zumindest ab 3. März 1989 nicht mehr objektiv verfügbar iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gewesen, so daß der Bewilligungsbescheid vom 3. August 1988, mit dem bis 26. März 1989 Alhi bewilligt worden war, gemäß § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) rückwirkend (mit Bescheid vom 12. April 1989) habe aufgehoben werden können. Aus den gleichen Gründen habe die Beklagte auch eine Wiederbewilligung (mit Bescheid vom 5. Dezember 1990) ablehnen dürfen. Der Kläger leide an einer chronischen paranoid-halluzinatorischen schizophrenen Psychose mit Persönlichkeitswandel und Residualwahn, die ihn an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unter arbeitsmarktüblichen Bedingungen hindere. § 105a Abs 1 AFG greife für den streitigen Zeitraum nicht ein, da die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bereits vor März 1989 festgestellt habe, daß der Kläger seit 31. Dezember 1979 erwerbsunfähig sei. Dies sei dem Kläger vor dem 3. März 1989 mitgeteilt worden; er habe somit gewußt, daß die Fiktion des § 105a Abs 1 AFG (Verfügbarkeit trotz Leistungsminderung) nicht mehr eingreife, weshalb die Voraussetzungen für die rückwirkende Aufhebung des Bewilligungsbescheides nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X erfüllt gewesen seien.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde, mit der der Kläger das zweitinstanzliche Urteil angreift, ist unzulässig. Der Kläger hat entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) keinen Grund aufgezeigt, der zur Revisionszulassung führen kann.
Gestützt ist die Beschwerde zum einen auf Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), zum anderen auf eine grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Als Verfahrensmangel macht der Kläger zunächst eine Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) geltend. Er habe mit Schriftsatz vom 1. September 1992 eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. R zu der des Sachverständigen Dr. M vom 14. Juli 1992 "angeregt". Diesem "Beweisantrag" sei das LSG nicht nachgekommen, obwohl beide Gutachter seine Erwerbsfähigkeit unterschiedlich beurteilt hätten. Hätte der Sachverständige Dr. R zu der vom Sachverständigen Dr. M am Gutachten von Dr. R geübten Kritik Stellung nehmen können, so hätte dieser das LSG von seinem wissenschaftlich begründbaren Ergebnis überzeugen können. Es liege außerdem eine Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme vor, da das LSG beide Sachverständige in der mündlichen Verhandlung hätte vernehmen müssen, um eine eigene Überzeugungsbildung zu ermöglichen.
Es stelle sich außerdem die Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob § 105a AFG auf psychisch Kranke erst dann angewandt werden könne, wenn entsprechend der Vorschrift tatsächlich ein ausreichendes Angebot von Rehabilitationsmaßnahmen bestehe. § 105a AFG sei eingeführt worden, um bei fehlendem Leistungsvermögen einen nahtlosen Übergang zur Rente oder zum Übergangsgeld sicherzustellen. Die Vorschrift setze damit voraus, daß als Ersatzleistung Altersruhegeld oder bei Rehabilitationsmaßnahmen Übergangsgeld gewährt werden könne. Die soziale Wirklichkeit sehe jedoch für psychisch Behinderte anders aus.
Soweit die Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt wird, daß Verfahrensmängel vorliegen, auf denen die angefochtene Entscheidung des LSG beruhen könne, sind in der Begründung die Verfahrensmängel zu bezeichnen (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu müssen, wie bei der Verfahrensrüge innerhalb einer zugelassenen Revision, die die Verfahrensmängel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nrn 14, 24, 34 und 36). Der Kläger wirft dem LSG zwar vor, es sei seiner Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) nicht nachgekommen. Eine Verletzung dieser Vorschrift hätte er indessen nur dann substantiiert dargelegt, wenn er aufgezeigt hätte, aus welchen Gründen heraus sich das LSG von seinem rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt sehen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären; denn ob einem Gericht ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, ist nicht nach der Rechtsauffassung des Rechtsmittelgerichts, sondern nach der Rechtsauffassung des Gerichts zu beurteilen, dem der Verfahrensverstoß vorgeworfen wird (BSGE 2, 84, 87 = SozR Nr 20 zu § 162; BSGE 3, 121, 123 f; 8, 149, 150; 10, 97, 102; BSG SozR Nr 133 zu § 54 SGG und SozR 1500 § 160a Nr 34). Vorliegend hat der Kläger die Rechtsauffassung des LSG nicht einmal dargelegt und schon deshalb eine Verletzung des § 103 SGG nicht aufzeigen können. Es bedarf somit keines Eingehens darauf, ob, was zweifelhaft ist, in der Beschwerdebegründung ein Beweisantrag bezeichnet worden ist (vgl zur Abgrenzung von Beweisanregung und Beweisantrag BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9). Selbst wenn von einem Beweisantrag des Klägers auszugehen wäre, fehlt es an jeglichen Äußerungen dazu, welche Ausführungen Dr. R bei einer Vernehmung vor dem LSG gemacht hätte und daß das LSG aufgrund dieser Ausführungen zwingend zu einem anderen, dem Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
Darüber hinaus genügt die Beschwerde ebenso wie bezüglich der Rüge des angeblichen Verstoßes gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme unter einem weiteren Aspekt nicht der Darlegungspflicht. Die Beschwerdebegründung verlangt nämlich zusätzlich die Darlegung, daß und warum die Entscheidung auf dem Mangel beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 14 und 36; BVerwG 13, 338, 339; BVerwG NJW 1976, 1705; BVerfG NVwZ 1982, 433, 434, BGH NJW 1987, 2442, 2443; Hennig/Danckwerts/König, SGG, Stand März 1993, § 160 Anm 9.18 und 9.13 sowie § 160a Anm 7.9.3 und 7.9.4; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX. Kap, RdNr 137; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNrn 204 und 233). Zwar wird bei absoluten Revisionsgründen (§ 202 SGG iVm § 551 Zivilprozeßordnung) der Einfluß auf die Sachentscheidung unwiderlegbar vermutet, so daß in einem solchen Fall nicht im einzelnen dargelegt werden muß, weshalb zwischen dem Verfahrensverstoß und dem angefochtenen Urteil ein ursächlicher Zusammenhang möglich ist (BSGE 4, 281, 288; BSG SozR 1500 § 136 Nr 8; BVerwG NJW 1993, 80, 81; Kummer, aaO). Bei den vom Kläger gerügten Verfahrensverstößen handelt es sich jedoch nicht um absolute Revisionsgründe. Dies bedeutet: Der Kläger hätte schlüssig vortragen müssen, daß und warum die einzelnen Voraussetzungen für die Gewährung von Alhi im streitigen Zeitraum nicht entfallen sind bzw weiterhin vorlagen. Die Beschwerdebegründung läßt hierzu jegliche Ausführungen vermissen.
Auch die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) entspricht nicht den gesetzlichen Anforderungen. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nämlich nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder -fortbildung einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Es muß daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angegeben werden, welche Rechtsfragen sich stellen, daß diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb ihre Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts erforderlich ist und daß das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten läßt (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nrn 7, 11, 13, 31, 39, 59 und 65; Hennig/Danckwerts/König, aaO, § 160 Anm 7 und § 160a Anm 7.7; Kummer, aaO, RdNrn 106 ff; Krasney/Udsching, aaO, IX. Kap RdNrn 180 ff; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 160a RdNr 14).
Der Kläger hat zwar eine konkrete Rechtsfrage formuliert, deren Klärungsbedürftigkeit indes nicht aufgezeigt. Dafür wäre unter Auswertung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Problemkreis vorzutragen, daß das BSG entweder noch keine Entscheidung gefällt hat oder durch schon vorliegende Urteile die aufgeworfene Frage von grundsätzlicher Bedeutung abstrakt noch nicht beantwortet ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 65; Krasney/Udsching, aaO, IX. Kap RdNr 183). Die Beschwerdebegründung enthält nicht einmal die entsprechende Behauptung. Insoweit sei nur auf das Urteil vom 12. Juni 1992 (BSGE 71, 12 ff = SozR 3-4100 § 105a Nr 4) verwiesen, in dem die Funktion der sogenannten Nahtlosigkeitsregelung näher erläutert ist. Gerade die Funktion des § 105a AFG ist aber Ausgangspunkt der vom Kläger aufgeworfenen Problematik.
Ob der Kläger die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der Rechtsfrage aufgezeigt hat, kann deshalb dahinstehen. Dies um so mehr, als es ohnedies völlig am Vortrag zur Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage fehlt. Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage nämlich nur, wenn sie für den zu entscheidenden Fall rechtserheblich ist (BFHE 105, 335, 336; Kummer, aaO, RdNr 128). Über die betreffende Frage müßte das Revisionsgericht also - in Ergänzung zur abstrakten Klärungsbedürftigkeit - konkret-individuell sachlich entscheiden können (BSG SozR 1500 § 160 Nrn 39 und 53 und § 160a Nr 31; BVerwG Buchholz 310 § 75 VwGO Nr 11; BFHE 96, 41, 44). Hierzu fehlen in der Beschwerdebegründung des Klägers schon die erforderlichen Ausführungen, weil vollständig auf eine Sachverhaltsschilderung verzichtet ist. Diese ist indes Minimalvoraussetzung für eine Prüfung der Entscheidungserheblichkeit, da es nicht Aufgabe des Revisionsgerichts ist, sich im Rahmen des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens die maßgeblichen Tatsachen aus dem angegriffenen Urteil selbst herauszusuchen. Der Kläger hat außerdem nicht den nach seiner Auffassung vom Revisionsgericht einzuschlagenden Weg der Nachprüfung des angefochtenen Urteils dargestellt (zu dieser Voraussetzung nur BSG SozR 1500 § 160a Nr 31).
Die Beschwerde ist deshalb in entsprechender Anwendung des § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 1 und 5).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen