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BSG Beschluss vom 22.02.1980 - 12 BK 24/79

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Leitsatz (amtlich)

Ist die Frist für die Nichtzulassungsbeschwerde deshalb versäumt worden, weil der Beschwerdeführer zunächst nur einen (fristgerechten) Armenrechtsantrag gestellt hat, so ist die Verhinderung, diese Frist einzuhalten, auch dann unverschuldet (SGG § 67 Abs 1), wenn das Armenrechtsgesuch keine Aussicht auf Erfolg hatte, der Beschwerdeführer sich aber als "arm" iS des ZPO § 114 Abs 1 ansehen durfte.

 

Normenkette

SGG § 67 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 160a Abs 2 Fassung: 1974-07-30; ZPO § 114 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 07.09.1978; Aktenzeichen L 16 Kr 90/76)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 30.09.1976; Aktenzeichen S 17 Kr 61/75)

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt die Zulassung der Revision teils wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache, teils wegen Verfahrensmängeln. Er geht dabei von folgenden rechtlichen Überlegungen aus: Der Arbeitgeber ist seiner Ansicht nach auch während eines schwebenden Arbeitsgerichtsverfahrens verpflichtet, Beiträge zur Sozialversicherung zu entrichten,so, als wenn das Arbeitsverhältnis fortbestände, und zwar unabhängig davon, ob der Lohn weitergezahlt wird oder nicht. Ferner nimmt der Kläger an, daß die Sozialversicherungsbeiträge Bestandteile des Lohnes seien und deshalb der Arbeitgeber alle Beiträge und Beitragsanteile, die er wegen Verjährung der Beitragsforderung oder aus anderen Gründen erspare, an den Arbeitnehmer, hier also den Kläger, auszuzahlen habe. Für Beitragsaufwendungen, die der Kläger für die Aufrechterhaltung der Krankenversicherung habe machen müssen, sei der Arbeitgeber ersatzpflichtig.

Der Kläger nimmt ferner an, daß alle diese Ansprüche auch fortbeständen, nachdem vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) ein Vergleich geschlossen worden sei, der den Endzeitpunkt des Arbeitsverhältnisses und die Erledigung aller Ansprüche festlege, weil dieser Vergleich seiner Ansicht nach wegen Verstoßes gegen sozialversicherungsrechtliche Vorschriften nichtig sei und er diesen überdies durch einen im sozialgerichtlichen Verfahren eingereichten Schriftsatz angefochten habe. Über Wirksamkeit und Folgerung aus diesem Vergleich habe, soweit sozialversicherungsrechtliche Vorschriften betroffen sind, nicht das BAG, sondern das Bundessozialgericht (BSG) zu entscheiden.

Im einzelnen liegt dem Rechtsstreit folgender Sachverhalt zugrunde:

Ab 1. Oktober 1971 war der Kläger bei der Beklagten zu 3) im Angestelltenverhältnis beschäftigt. Dieses Arbeitsverhältnis wurde durch den Arbeitgeber erstmalig zum 30. September 1972 gekündigt. Mit diesem Zeitpunkt endete auch die tatsächliche Beschäftigung des Klägers bei der Beklagten zu 3). Die Kündigung wurde jedoch später durch arbeitsgerichtliches Urteil für unwirksam erklärt. Es erfolgte dann eine erneute Kündigung zum 30. Juni 1973. Diese Kündigung bildete ua den Gegenstand eines Rechtsstreits, der vor dem BAG am 8. März 1978 durch Vergleich sein vorläufiges Ende fand (Az.: 5 AZr 65/77). In dem Vergleich wurde festgelegt, daß das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 30. September 1973 beendet worden ist und die Beklagte zu 3) bis zu diesem Zeitpunkt Gehalt nachzahlt sowie Sozialversicherungsbeiträge abführt. Mit diesem Vergleich sollten alle gegenseitigen Ansprüche erledigt und alle miteinander geführten Rechtsstreitigkeiten beendet sein.

Der Kläger macht jedoch unter Berufung auf die Nichtigkeit dieses Vergleichs weiterhin Ansprüche gegen seinen Arbeitgeber und die zuständigen Krankenkassen geltend. Die Abwicklung der sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche und Pflichten gestaltete sich wie folgt:

Bis zum 30. September 1972 (erster Kündigungstermin) war der Kläger wegen der Höhe seines Verdienstes versicherungsfrei und freiwillig bei der B Ersatzkasse versichert. Er wurde dort in der Beitragsklasse 520 geführt. Ab 1. Oktober 1972 wurde der Kläger von der B in die Beitragsklasse für Arbeitslose (Beitragsklasse 800) eingestuft. Die Beiträge trug er selbst. Zuschüsse von seiten seines Arbeitgebers erhielt er nicht. Am 27. August 1973 meldete sich der Kläger arbeitslos und bezog anschließend Arbeitslosengeld (Alg). Er wurde dadurch Pflichtmitglied der Krankenversicherung der Arbeitslosen, für die die Beiträge von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) aufgebracht werden. Die Zeit des Arbeitslosengeldbezuges und damit der Pflichtversicherung wurde durch eine Sperrzeit unterbrochen. Zuständige Kasse war für die Zeit bis 31. Dezember 1974 die Beklagte zu 1), für die Zeit danach, die Beklagte zu 2).

Im Laufe des Jahres 1975 beantragte der Kläger bei den Beklagten zu 1) und 2), Beiträge zur Angestelltenversicherung und Arbeitslosenversicherung bei seiner Arbeitgeberin, der Beklagten zu 3), einzuziehen, hatte damit jedoch keinen Erfolg. Mit der Klage verfolgt er sein Begehren weiter. Die Klage richtet sich auch gegen seine Arbeitgeberin zunächst mit dem Antrag auf Auskehrung ersparter Sozialversicherungsbeiträge und Zahlung von Krankenversicherungszuschüssen. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zu 1) zur Erteilung eines neuen Bescheides für die Zeit vom 1. Oktober 1972 bis 26. August 1973 verurteilt und im übrigen die Klage abgewiesen (Urteile vom 24. Juni 1976 und 30. September 1976). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten zu 1) die Klage in vollem Umfang abgewiesen und die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Vor dem LSG hatte der Kläger folgende Sachanträge gestellt:

1. die Feststellung, daß sowohl der Arbeitnehmeranteil als auch der Arbeitgeberanteil der Beiträge zur Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung unbeschadet anhängiger arbeitsgerichtlicher Streitigkeiten auch während eines Annahmeverzuges des Arbeitgebers grundsätzlich weiterhin an die zuständige Einzugsstelle abzuführen ist, und zwar bis zu dem Zeitpunkt der Verkündung eines rechtskräftigen Feststellungsurteils eines Arbeitsgerichts über die Auflösung seines Arbeitsverhältnisses;

2. die Feststellung, daß der Arbeitgeberanteil dieser Beiträge grundsätzlich Bestandteil der Lohnforderungen ist;

3. die Feststellung, daß die für sein Arbeitsverhältnis geltenden tariflichen Ausschlußfristen auch gegenüber einem Sozialversicherungsträger zur Anwendung kommen, wenn und soweit er - der Kläger - sich diesem gegenüber ausdrücklich auf die erwähnten Fristen berufe, hilfsweise, daß zumindest die gesetzlichen Verjährungsfristen dem Sozialversicherungsträger gegenüber zu seinen Gunsten angewendet werden müßten, wenn und soweit er dies verlange;

4. die Verurteilung der Beklagten zu 1) zum Einzug des Arbeitnehmeranteils sowie des Arbeitgeberanteils der Beiträge zur Rentenversicherung für die Zeit vom 1. Oktober 1972 bis zum 31. Dezember 1974 in Höhe von 11.398,50 DM, hilfsweise, die Verurteilung der Beklagten zu 3) zur Auszahlung der vorerwähnten Beiträge an ihn und die Verurteilung der Beklagten zu 1) zu deren Annahme;

5. die Verurteilung der Beklagten zu 2) zum Einzug des Arbeitnehmeranteils sowie des Arbeitgeberanteils der Beiträge zur Rentenversicherung für die Zeit vom 1. Januar 1975 bis zum 31. August 1978 in Höhe von 24.668,28 DM sowie für den Zeitraum ab 1. September 1978 und weiterhin allmonatlich bis zum Zeitpunkt der Verkündung eines rechtskräftigen Feststellungsurteils eines Arbeitsgerichts über die Auflösung seines Arbeitsverhältnisses von der Bemessungsgrundlage, die er der Beklagten zu 2) rechtzeitig mitteilen werde, mindestens aber nach einer Bemessungsgrundlage von derzeit 3.577,-- DM monatlich, hilfsweise, die Verurteilung der Beklagten zu 3) zur Auszahlung der vorerwähnten Beiträge an ihn und die Verurteilung der Beklagten zu 2) zu der Annahme;

6. die Verurteilung der Beklagten zu 3) zur Auszahlung an ihn a) des Arbeitnehmeranteils sowie des Arbeitgeberanteils der erhöhten Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung nach den Sätzen der B für die Zeit vom 1. Oktober 1972 bis zum 31. August 1978 in Höhe von 24.730,61 DM, hilfsweise, die Verurteilung der Beklagten zu 3) zur Auszahlung dieser Beiträge, wenn und solange gegen ihn eine Sperrzeit im Sinne des AFG laufe, mithin ab 11. Mai 1977, b) des Arbeitnehmeranteils sowie des Arbeitgeberanteils der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für die Zeit vom 1. Oktober 1972 bis zum 31. August 1978 in Höhe von 4.858,68 DM;

7. die Feststellung, daß die Beklagte zu 3) dem Grunde nach verpflichtet ist, für die Zeit ab 1. September 1978 a) die Arbeitnehmeranteile sowie die Arbeitgeberanteile der erhöhten Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung nach den jeweils geltenden Beitragssätzen der B unter Zugrundelegung einer monatlichen Bemessungsgrundlage in Höhe von derzeit 2.775,-- DM und unter Berücksichtigung der jeweils zum Zuge kommenden tariflichen Gehaltserhöhungen an ihn zur Auszahlung zu bringen, und zwar bis zum Zeitpunkt der Verkündung eines rechtskräftigen Feststellungsurteils eines Arbeitsgerichts über die Auflösung seines Arbeitsverhältnisses,

b) die Arbeitnehmeranteile sowie die Arbeitgeberanteile der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nach jeweils geltenden Beitragssätzen unter Zugrundelegung einer monatlichen Bemessungsgrundlage in Höhe von derzeit 3.577,-- DM und unter Berücksichtigung der jeweils zum Zuge kommenden tariflichen Gehaltserhöhungen an ihn zur Auszahlung zu bringen, und zwar bis zum Zeitpunkt der Verkündung eines rechtskräftigen Feststellungsurteils eines Arbeitsgerichts über die Auflösung seines Arbeitsverhältnisses;

8. die Feststellung, a) daß die die zeitlichen Anspruchsdauer auf Alg begrenzende Vorschrift des § 106 Abs 1 AFG keine Anwendung findet, wenn fortlaufend Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet werden und gleichzeitig dem Arbeitslosen gegenüber Leistungen nach diesem Gesetz zu erbringen sind, daß die Beigeladene zu 2) verpflichtet ist, die von ihm eingezogenen und ihr angebotenen Arbeitnehmeranteile sowie Arbeitgeberanteile der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ohne zeitliche Begrenzung auf Ausschluß oder Verjährungsfristen anzunehmen, wenn ihr diese zur Entgegennahme anbiete;

9. die Feststellung, daß die Beklagte zu 3) nicht berechtigt ist, die für ihn entrichteten und die an ihn zur Auszahlung gebrachten bzw die für ihn nicht rechtzeitig entrichteten oder an ihn nicht rechtzeitig zur Auszahlung gebrachten Arbeitnehmeranteile der Beiträge zur Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung von den ihm zustehenden rückständigen Gehaltsforderungen in Abzug zu bringen, soweit die Beitragsanteile für einen Zeitraum entrichtet oder ausgezahlt sind, der mehr als einen Monat vor der tatsächlichen Entgeltzahlung oder Fälligkeitstermin liegt, hilfsweise, die Feststellung, daß die zuvor beantragten Rechtsfolgen jedenfalls dann eintreten, wenn die Beklagte zu 3) mit der Entrichtung oder Auszahlung der Beiträge mehr als 6 Monate nach Fälligkeit im Verzuge ist, und zwar aufgrund der auf sein Arbeitsverhältnis anzuwenden tariflichen Ausschlußfristen,

10. festzustellen, daß der zwischen den Anwälten der Prozeßparteien am 8. März 1978 vor dem BAG abgeschlossene Vergleich nichtig ist;

11. festzustellen, daß auch Zinsforderungen eines Arbeitnehmers, die aus Forderungen auf Arbeitsentgelt resultieren, beitragspflichtig zur gesetzlichen Sozialversicherung sind, hilfsweise, die Verurteilung der Beklagten zu 3) zur Entrichtung des Arbeitnehmeranteils sowie des Arbeitgeberanteils der Beiträge zur Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung von einer Bemessungsgrundlage bis zur Höhe der jeweils geltenden Beitragsbemessungsgrenze nach näherer Maßgabe der Anträge 4 bis 9;

12. die Verurteilung der Beklagten zu 3) zur Zahlung von Verzugszinsen und Prozeßzinsen wegen aller rückständigen Beiträge ab Datum der jeweiligen Fälligkeit in Höhe von 4 vH;

13. die Verurteilung der Beklagten zu 3) - unter Androhung eines Zwangsgeldes für den Fall der Zuwiderhandlung - zur Eintragung eines Bruttoarbeitsentgelts von 6.300,-- DM für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1972 in seine Versicherungskarte;

14. a) die Anordnung des sofortigen Vollzuges des Urteils zu den Anträgen 4, 5, 6, 7, und 13, b) die Erteilung eines vollstreckbaren Titels zu seinen Gunsten in Höhe bis zu 61.352,41 DM;

Gegen das Urteil des LSG hatte der Kläger zunächst für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde das Armenrecht beantragt. Dieser Antrag wurde durch Beschluß des erkennenden Senats vom 24. April 1979 - 12 BH(K) 4/78 - wegen fehlender Erfolgsaussicht abgelehnt. Mit Schriftsatz vom 18. Mai 1979 stellte der Kläger dann durch nunmehr von ihm beauftragte Anwälte einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und auf Zulassung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

II

Diese Anträge haben teilweise Erfolg.

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist des § 160a Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist dem Kläger zu gewähren (§ 67 SGG).

Der Kläger war ohne sein Verschulden verhindert, die Beschwerdefrist einzuhalten; denn er verfügte nicht über ausreichende Mittel, die es zumutbar erscheinen ließen, rechtzeitig auf eigene Kosten einen Anwalt mit der Einlegung der Beschwerde zu beauftragen. Den statt dessen erforderlichen Armenrechtsantrag hat er zugleich mit einem seine Armut bestätigenden Zeugnis fristgerecht innerhalb der Beschwerdefrist gestellt. Dies berechtigte ihn, zunächst bis zur Entscheidung über diesen Antrag abzuwarten, ob ihm das Armenrecht bewilligt wurde. Es war lediglich erforderlich, alles Zumutbare zu tun, um eine Verzögerung zu vermeiden (BSG SozR Nr 34 zu § 67 SGG). Das hat der Kläger getan. Allerdings wäre dem Kläger ein Verschulden auch dann anzulasten, wenn er vernünftigerweise nicht mit der Bewilligung des Armenrechts rechnen durfte (BSG MDR 74, 965). Dies gilt jedoch nur hinsichtlich der Beurteilung seiner finanziellen Möglichkeiten. Es kommt also darauf an, ob sich der Kläger zu Recht als arm ansehen durfte (vgl Baumbach, ZPO 38. Aufl, § 233 Anm 4 unter "Armenrechtsgesuch" mwN). Das war hier der Fall. Hingegen konnte nicht von ihm erwartet werden, daß er die Erfolgsaussicht des Verfahrens richtig einschätzte; denn andernfalls würde sich aus der Situation, daß der Kläger arm ist und deshalb keinen Rechtskundigen befragen kann, letztlich die Folgerung ergeben, daß ihm die Möglichkeit einer Durchsetzung seiner Rechte gegenüber anderen beschränkt wird. Gerade dies soll aber durch das Institut der Armenrechtsgewährung verhindert werden (so im Ergebnis auch BAG aaO und BGHZ 26, 99).

Es folgen Ausführungen zur Rechtzeitigkeit des Wiedereinsetzungsantrages und zur - teilweisen - Begründetheit der Beschwerde.

 

Fundstellen

Breith. 1981, 636

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